| # taz.de -- Debatte um Maxim Billers neuen Roman: Verlangen nach Entlastung | |
| > Die Feuilletons loben Maxim Billers Roman „Der falsche Gruß“. Doch warum | |
| > tun sie sich so schwer, die in ihm enthaltene Provaktion zu | |
| > entschlüsseln? | |
| Bild: Seine Suggestion ist krass, doch die Besprechungen drücken sich herum: M… | |
| Von Maxim Billers neuem Roman „Der falsche Gruß“ sind die Kritiker ziemlich | |
| angetan, das Sittengemälde unserer Gegenwart gefällt ihnen. In der Welt | |
| lobt Mara Delius das Werk, Ingeborg Harms lobt es in der Zeit, Nils Minkmar | |
| in der SZ und Tobias Rüther in der FAS. Doch das Ausmaß des Wohlwollens | |
| wirkt seltsam, die Rezensionen haben etwas höflich Unbestimmtes, einige | |
| sind verdruckst. Warum scheuen sie sich, den Provokationsgehalt des | |
| angeblichen Schlüsselromans offen auszusprechen? | |
| Billers Werk ist schmal – nur 120 Seiten – und doch reichlich verschlungen. | |
| Es gibt darin mehrere Zeitebenen, die sich mit der Gegenwart der Hauptfigur | |
| kreuzen; es gibt Rückblenden ins frühe 20. Jahrhundert, Stalinismus und | |
| Nationalsozialismus sind als Erinnerungssplitter allgegenwärtig. Die | |
| [1][Dämonen der Vergangenheit] lassen sich nicht abschütteln, sie kleben an | |
| den Figuren. | |
| Was den Roman so raffiniert macht, ist die Schlichtheit seiner Form: „Der | |
| falsche Gruß“ ist aus der Ich-Perspektive von Erck Dessauer geschrieben, | |
| einem in Leipzig aufgewachsenen, ebenso begabten wie ehrgeizigen | |
| Jungintellektuellen. Nach dem Mauerfall zieht es den Büchernarr nach | |
| Berlin, wo er im Kulturbetrieb mitmischen will. | |
| Doch so wie seinem Vornamen ein Vokal fehlt, so fehlt ihm der | |
| durchschlagende Erfolg. Eine kleine Rezension im Klassikradio, für mehr | |
| reicht es nicht, denn ständig klaut ihm der Star der Kulturszene die tollen | |
| Themen oder entmutigt ihn. Sein Examen will Dessauer über den | |
| Spätbolschewismus schreiben, doch prompt begegnet er dem „Saboteur“ mit dem | |
| „Flammenwerferblick“. „Was können Sie schreiben, was nicht schon gedacht | |
| und geschrieben wurde? … Manchmal ist es besonders mutig, wenn man | |
| aufgibt.“ Erck Dessauer wirft den Bettel hin, geht nach Hause und heult. | |
| Hans Ulrich Barsilay heißt der „Saboteur“ und ist in Dessauers Augen ein | |
| Monster der Missgunst, ein „ewiger Unruhestifter und Menschenfeind“, dessen | |
| Einschüchterungsversuche ihn an „Nazi-Methoden“ erinnern. Sein Feind, | |
| glaubt er, sei nur deshalb berühmt, weil sein „verlogenes Wahrheits- und | |
| Deutschenbeschimpfungstheater“ vom „großen Holocaust-Kult“ profitiert, | |
| sogar einen Besuch in Auschwitz habe er frei erfunden. Dreimal am Tag | |
| wünscht er diesen Nestbeschmutzer zum Teufel – „um trotzdem jeden seiner | |
| Artikel und Essays gierig zu lesen“. | |
| ## Ein verzerrtes Weltbild | |
| Darf er seine Wut über Barsilay in die Welt schreien? Nein, das darf er | |
| nicht. Dessauer muss den Mund halten. Sein Rivale ist ein „indirekter | |
| Nachkomme von König David und Spinoza“. Barsilay ist Jude. Und der Jude ist | |
| sein Unglück. | |
| Gut möglich, dass „Der falsche Gruß“ vordergründig für Plagiatsjäger v… | |
| Interesse ist, also für Leute, die herausfinden wollen, an welchen Stellen | |
| Maxim Biller schlitzohrig aus seinem eigenen Leben abgeschrieben hat. | |
| Pikant ist auch das Who is who, einige Gestalten tragen Klarnamen | |
| („Münkler, Goetz, Grünbein“) und die Chefin von Deutschlands berühmtestem | |
| Verlag kleidet sich wie eine „antike Priesterin“. | |
| Doch Vorsicht: Diese Figuren sind allesamt Komparsen im Kopfkino des Erck | |
| Dessauer. Die mimetische Rivalität mit der kulturellen Großmacht Barsilay, | |
| dessen angebliche Demütigungen, die ihn dazu bringen, vor ihm den | |
| Hitlergruß zu zeigen – all das sind die Schilderungen eines Ich-Erzählers, | |
| in dessen projektiv verzerrtem Weltbild „sie“, die Juden, immer das haben, | |
| was „uns“ fehlt. | |
| ## Gefühlserbe des Jahrhunderts | |
| Auf den ersten Blick ist Dessauer eine typische Gesinnungssumpfblüte aus | |
| dem Maron-Tellkamp-Kubitschek-Milieu. In Wahrheit ist die Sache | |
| komplizierter: Billers Held schleppt das Gefühlserbe eines bestialischen | |
| Jahrhunderts mit sich herum, sein Leben ist der Echoraum einer | |
| schrecklichen Vergangenheit. | |
| Seine Mutter, und das war die erste narzisstische Kränkung, verschwand in | |
| einem Kibbuz, um Abbitte zu leisten für deutsche Schuld. Sein Vater war ein | |
| gläubiger Kommunist und gönnte nicht einmal einem entlaufenen Kamel aus dem | |
| Leipziger Zoo die Freiheit. Als die DDR unterging, nahm er sich das Leben. | |
| Dessauers Onkel, ein Nazifunktionär in Polen, starb am Galgen; von seinem | |
| Großvater Julius stammten die Fascho-Magazine, die Klein Erck zu seiner | |
| „absurden Nazigymnastik“ animierten – sobald er den Hitlergruß machte, | |
| fühlte er sich groß und stark. | |
| Bleibt noch Dessauers Jugendfreund, der palästinensische Fotograf Arafat, | |
| dessen Schwester „unter den Augen von Scharons Panzergrenadieren“ im | |
| Libanon getötet wurde. Zurück in seiner Heimat, stirbt Arafat bei einem | |
| israelischen Luftangriff. | |
| ## Moralische Enthemmung | |
| Worin besteht nun die Provokation des Romans, die augenscheinlich niemanden | |
| provoziert? Gewiss nicht in Billers maximal invasiver Einfühlung in das | |
| schlecht vernarbte Seelenleben seiner Kunstfigur, die sich mit einem | |
| gewissen Recht als Opfer der Verhältnisse fühlt. | |
| Die Provokation besteht in der moralischen Enthemmung, die Dessauer im | |
| deutschen Kulturbetrieb auslöst, als ihm wider Erwarten ein Bestseller | |
| gelingt, ein Dokuroman über Naftali Frenkel. Der jüdische Sowjetfunktionär | |
| hatte Stalins Gulagsystem ausgebaut und eine perfide Methode entwickelt, um | |
| die Häftlinge erst auszubeuten, um sie dann – bei schwindender Arbeitskraft | |
| – den Hungertod sterben zu lassen. | |
| Dieses System der Massenvernichtung, behauptet Dessauer, diente den Nazis | |
| als Vorbild; ohne Frenkels „talmudistischen Erfindungsreichtum und sein | |
| unternehmerisches Genie hätte es nie Auschwitz gegeben“. | |
| ## Verlangen nach Entlastung | |
| Die Begeisterung über diese „Enthüllung“ ist groß, die Gutbetuchten und | |
| Gutbürgerlichen, die Linken, Liberalen und Aufgeklärten jubeln ihm zu. | |
| Wochenlang führt „Eine sibirische Karriere“ die NDR-Bestsellerliste an, und | |
| der Deutschlandfunk veranstaltet eine Frenkel-Nacht. Dessauer hat den Kampf | |
| um Anerkennung gewonnen und ist am Ziel. Nun ist er nicht mehr der | |
| „unsichtbare Nobody wie früher“, sondern ein Erlöser. | |
| Billers Suggestion ist krass. Sie behauptet, dass unter der zeremoniellen | |
| Deckschicht der „Vergangenheitsbewältigung“ ein links-rechts-deutscher | |
| Antijudaismus lauert, ein [2][Verlangen nach Entlastung,] überhaupt der | |
| unbezähmbare Wunsch, von der impertinenten deutschen Vergangenheit in Ruhe | |
| gelassen zu werden. | |
| Dessauer entsorgt den Holocaust, indem er das Unbegreifliche durch | |
| Vergleich mit dem Gulagsystem „begreiflich“ macht, denn er ahnt: Nichts | |
| hört sein Publikum lieber als die Nachricht, die Juden selbst hätten die | |
| Technik der Massenvernichtung erfunden und Hitler sei nur die Kopie Stalins | |
| gewesen. | |
| ## Pfahl im deutschen Fleisch | |
| So reichen sich Ost und West die Hände und feiern ihre doppelte Befreiung – | |
| die Befreiung vom bolschewistischen Albtraum ebenso wie vom | |
| nationalsozialistischen. Und wieder sind die Juden der Pfahl im Fleisch | |
| der deutschen Selbstversöhnung; die schöne Verlegerin legt den Vertrag mit | |
| Barsilay auf Eis, und das Zeit-Feuilleton druckt Dessauers Abrechnung mit | |
| dem jüdischen „Falschmünzer“. Der Mann ist erledigt. | |
| Überflüssig zu sagen, dass Billers Roman nicht identisch ist mit der | |
| Geschichte, die er erzählt. Es gibt winzige ironische Brechungen, hin und | |
| wieder glaubt man die imaginäre Stimme eines Kommentators zu hören, der aus | |
| der Ferne auf den diskursiven Kriegsschauplatz hinabschaut und – wenn nicht | |
| alles täuscht – den Eindruck erweckt, als habe er ein kaltes analytisches | |
| Interesse an seinem wehleidigen Dessauer, dem die Familiengeschichte den | |
| Charakter versaut hat. | |
| Kein Pardon aber gibt es für den Kulturkampfbetrieb mit seinen Feuilletons. | |
| Sobald darin die Sprache auf den Holocaust kommt, geht es nicht mehr um | |
| Wahrheit, sondern um moralische Bonuspunkte. „Wer missbrauchte dieses | |
| Menschheitsverbrechen für seine egoistischen Zwecke? Ich oder er?“ Die | |
| Medialisierung des Grauens im publizistischen Tageskampf ist die perfideste | |
| Form des Vergessens. | |
| ## Aufwertung der Literatur | |
| Aus der Abwertung der öffentlichen Debatte folgt bei Biller die | |
| stillschweigende Aufwertung der Literatur. Nur jenseits diskursiver | |
| Machtspiele hat der singuläre metaphysische Horror von Auschwitz noch einen | |
| Ort, und anders als viele Rezensenten glauben, erzählt Billers Roman | |
| deshalb auch keine Geschichte aus der Gegenwart, sondern über die | |
| Gegenwart. | |
| Wortlos begleitet er seinen Helden durch dessen Gedankenunterwelt und | |
| zeigt, was die Agenten im Kulturbetrieb unterschlagen, verdrängen oder | |
| durch Vergleich verleugnen. Die Konfrontation mit dem undarstellbaren | |
| Schrecken beginnen dort, wo alle Deutungskämpfe enden: in der Literatur. | |
| Behaupten die Rezensenten nicht, dass „Der falsche Gruß“ oft sehr lustig | |
| ist? Das ist er. Die Verrenkungen, die Billers Figuren vollführen, wenn sie | |
| ihren Antijudaismus füttern, um ihn gleichzeitig zu leugnen, erzeugt eine | |
| Form von Komik, die so abgründig ist, dass man sie sich nur durch Lachen | |
| vom Hals halten kann. | |
| 11 Sep 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Thomas Assheuer | |
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