| # taz.de -- Innerjüdische Debatten: Es braucht sichere Räume | |
| > Jüdinnen und Juden streiten, wann Menschen als jüdisch verstanden | |
| > werden sollten. Warum sich auch viele nichtjüdische Stimmen in die | |
| > Diskussion einmischen. | |
| Bild: Esty aus der Serie „Unorthodox“ mit ihrem Ehemann Yanky | |
| Anfang 2020 eroberte die [1][Serie „Unorthodox“] deutsche Bildschirme. Die | |
| Geschichte über Esty und ihre Flucht aus dem ultra-orthodoxen Judentum in | |
| New York nach Berlin bot den Zuschauer:innen einen Einblick in eine | |
| jüdische Welt, die selbst vielen Jüdinnen:Juden verschlossen bleibt. | |
| Nur wenige haben Berührungspunkte mit der chassidischen Gruppe „Satmer“. | |
| [2][Laura Cazès und Jakob Baier] konstatieren in ihrem Beitrag „Deutsche, | |
| die auf Juden starren“, dass „der Blick in das exotisch anmutende | |
| Innenleben einer jüdischen Gemeinde“ die Zuschauer:innen in ihren Bann | |
| zog. | |
| Die aktuell im Feuilleton geführte Debatte bietet einen Anlass, um einige | |
| Gedanken von Cazés und Baier zu aktualisieren. Maxim Biller, der kürzlich | |
| mit seinem Roman „[3][Der falsche Gruß]“ in die Buchläden kam, hatte dem | |
| jüdischen Aktivisten Max Czollek abgesprochen, jüdisch zu sein. Im | |
| Anschluss daran äußerte sich auch [4][Josef Schuster], Vorsitzender des | |
| Zentralrats der Juden in Deutschland, der auf die Regeln der Halacha | |
| verwies, des jüdischen Religionsgesetzes. | |
| Viele jüdische Stimmen diskutierten daraufhin, unter welchen | |
| Voraussetzungen (ob durch religiöse Gebote oder durch Kultur und | |
| Sozialisation) Menschen als jüdisch verstanden werden sollten. Hierzulande | |
| existiert ein schmaler Korridor für Sichtbarkeit von Jüdinnen:Juden. Sie | |
| werden darauf begrenzt, Betroffene von Antisemitismus oder | |
| Auslandsvertretung Israels zu sein. Die Komplexität jüdischer Erfahrungen | |
| findet darin keinen Platz. | |
| Jüdisches Leben in Deutschland wird in der Geschichte auf die Zeit des | |
| Nationalsozialismus reduziert. Die Auseinandersetzung mit jüdischer | |
| Religion oder Kultur erhält dadurch etwas Fremdes, etwas Exotisierendes. | |
| Einen Erklärungsversuch dafür, dass das Judentum trotz des vermeintlich | |
| „christlich-jüdischen Abendlandes“ für „Anders“ gehalten wird, liefer… | |
| deutsch-jüdische Historiker Dan Diner. | |
| 1987 – in den Wehen der sogenannten 'Wiedervereinigung’ und des | |
| wiedererstarkenden deutschen Nationalismus – schrieb Diner von der | |
| „[5][negativen Symbiose]“. Er erklärte, dass von den | |
| Nationalsozialist:innen eine Verbindung zwischen „Juden“ und | |
| „Deutschen“ geschaffen wurde, die „auf Generationen hinaus [das Verhältn… | |
| beider zu sich selbst, vor allem aber zueinander, prägen“ würde. | |
| Nach der Shoa sollte der Blick auf Jüdinnen:Juden durch diese Symbiose | |
| geprägt sein. „Deutsche, die auf Juden starren“, wobei Jüdinnen:Juden | |
| dabei nur als Spiegel für die eigenen national-identitären Konflikte | |
| dienen. Und diese Erkenntnis trifft uns mit aller Wucht in der Gegenwart. | |
| Ohne sie ist nicht zu verstehen, warum sich in die aktuelle Debatte um die | |
| Frage „Wer ist Jude?“ auch so vielen nichtjüdische Stimmen auf polemische | |
| Weise mischen. | |
| Hier geht es nicht nur um einen innerjüdischen Konflikt mit offenem | |
| Ausgang, sondern darum, wie die Gesellschaft jüdisches Leben zu | |
| instrumentalisieren versucht. Am klarsten zu erkennen ist das bei | |
| denjenigen, die jetzt mit erhobenem Zeigefinger rufen: „Ich wusste es, die | |
| Juden sind auch Rassisten.“ | |
| Die Debatte um jüdische (Nicht-)Zugehörigkeit findet nicht im luftleeren | |
| Raum statt, sondern in einer Gesellschaft, die sich anmaßt, die höchste | |
| Entscheidungsgewalt darüber zu haben, wer, was und wie jüdisch ist. Im | |
| Hinblick auf „Unorthodox“ erklären Cazès und Baier, dass eine | |
| „mehrheitsgesellschaftliche Perspektive […] sich derzeit munter an einem | |
| nie dagewesenen Einblick in eine fremde, exotische Welt“ erfreue, die aber | |
| einem „eigenen German Gaze“ unterliege. | |
| Anders ist es nicht zu erklären, dass das „jüdische Fremde“ immer wieder | |
| Gegenstand öffentlicher Debatten wird. Das ist vor allem deshalb möglich, | |
| weil das „Starren“ auf uralte Seh- und Denkgewohnheiten aufbaut. Das | |
| „Jüdische“ dient seit über zweitausend Jahren dazu, die eigene Position u… | |
| die eigene „Identität“ zu erklären. Es ist das dem Eigenen | |
| Nichtidentischen, in dem sich alles findet, was man selbst nicht ist, nicht | |
| sein will oder gerne wäre. | |
| Es ist nicht nur der Spiegel, sondern ein Tablett, auf dem sich alles | |
| sammelt, was man sich zu bewundern verwehrt, aber doch gerne wäre. Wenn nun | |
| im Kontext der deutschen Gesellschaft eine Debatte über jüdische | |
| Zugehörigkeit geführt wird, dann knüpft das an die verdrängten | |
| Krämpfe/Konflikte deutscher Identität an. Denn diese ist unaufhörlich an | |
| Jüdinnen:Juden und die Shoa geknüpft. Damit ist sie krisenhaft | |
| unheilbar. | |
| Wenn nun Jüdinnen:Juden in der Öffentlichkeit über Zugehörigkeit | |
| streiten, bietet diese – für jüdische Communities wichtig zu führende – | |
| Auseinandersetzung für die deutsche Gesellschaft eine Projektionsfläche für | |
| die Aufarbeitung der Vergangenheit. Wenn Deutsche auf Jüdinnen:Juden | |
| starren, wie es gerade geschieht, dann um zu finden, was die nationale | |
| Identität nicht hergibt: | |
| Eine Entlastung, weil Jüdinnen:Juden angeblich moralisch verwerflich | |
| handeln, oder weil eine Art der Zugehörigkeit ohne Widersprüche phantasiert | |
| wird: Jüdinnen:Juden als homogene Gruppe. Die einzelnen Beiträge der | |
| Debatte zeigen dagegen, wie vielfältig Geschichten und wie komplex | |
| Zugehörigkeit ist. Die wirkliche Auseinandersetzung muss deshalb an Orten | |
| stattfinden, die fernab der Öffentlichkeit und des Starrens liegen. | |
| Das Kompetenzzentrum der ZWST ([6][Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in | |
| Deutschland]) schafft einen solchen Ort, indem es einen „Safe Space für | |
| Zugehörigkeitsdebatten“ veranstaltet. Im Aufruf hieß es: „Viele Menschen | |
| fühlen sich von dieser Debatte berührt und bekunden den Bedarf an einem | |
| innerjüdischen Raum und Erfahrungsaustausch“. | |
| Dieser offen gestaltete, aber dennoch innerjüdische Raum bietet eine | |
| Ausnahme, die einen angemessenen Umgang mit der Vulnerabilität der Gruppe | |
| findet, über deren Köpfe hinweg hier gestritten wird. Denn der Druck des | |
| nichtjüdischen Starrens sorgt dafür, dass es viel Vertrauen braucht, um | |
| sprechen zu können. Bisher findet es nur in vielen, voneinander | |
| abgeschnittenen Räumen statt. | |
| Das Kompetenzzentrum könnte jetzt vielleicht einen größeren Raum eröffnen, | |
| der die vielen abgeschnittenen Gesprächsfäden zueinander führt. Fernab der | |
| Social Media Debatten können sich Betroffene mutig genug fühlen, um über | |
| ihre Fragen und Identität zu sprechen. So etwas ist unter den wachsamen | |
| Augen nichtjüdischer deutscher Diskurse kaum möglich. | |
| Besonders auf Twitter waren es nichtjüdische Deutsche, die mit Eifer | |
| schnell Position bezogen und vor allem für sich selbst Definitionsmacht | |
| behaupteten. Sie sprachen Menschen das Jüdischsein ab oder meinten, ein | |
| solches Jüdischsein bestätigen zu können. Obwohl es sich hierbei um eine | |
| jüdische Debatte handelt, hielt es die Mehrheitsgesellschaft nicht davon | |
| ab, die rabbinische Autorität zu spielen und die Frage zu beantworten „Wer | |
| ist Jude?“ | |
| 6 Oct 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Serie-Unorthodox-auf-Netflix/!5670815 | |
| [2] https://ze.tt/deutsche-die-auf-juden-starren-warum-die-serie-unorthodox-meh… | |
| [3] /Debatte-um-Maxim-Billers-neuen-Roman/!5797037 | |
| [4] https://www.juedische-allgemeine.de/politik/nach-den-regeln-der-religion/ | |
| [5] https://www.grin.com/document/18231 | |
| [6] https://zwst.org/de | |
| ## AUTOREN | |
| Monty Ott | |
| Ruben Gerczikow | |
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