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# taz.de -- Debatte um „Vaterjuden“: Wer entscheidet, wer Jude ist?
> Um diese Frage ist in der jüdischen Community ein Streit entflammt. Ein
> Blick in die Geschichte zeigt: Wer Jude war, hat sich oft verändert.
Bild: Schmuckes Bekenntnis
Die Frage, ob auch sogenannte „Vaterjuden“ „richtige“ Juden sind, ist
erneut entbrannt. Der zuletzt mit einer brillanten Novelle hervorgetretene
Autor Maxim Biller hatte dem jungjüdischen Aktivisten Max Czollek
abgesprochen, jüdisch zu sein. Ins Kreuzfeuer geraten ist dabei auch der
Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, der –
wie es seines Amtes ist – die traditionelle Sichtweise vertritt.
Dieses Problem hat schon vor mehr als zehn Jahren den Vizepräsidenten des
Landesverbandes der israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, den zu früh
verstorbenen Heinrich C. Olmer, nicht ruhen lassen. Er hat daher ein Buch
vorgelegt, das zu den wichtigsten Beiträgen zur Sicherung jüdischer Zukunft
nicht nur in Deutschland gehört.
Olmers Buch „‚Wer ist Jude?‘. Ein Beitrag zur Diskussion über die
Zukunftssicherung der jüdischen Gemeinschaft“ wagte sich an die auch
aktuell hoch umstrittene Frage: warum die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk
nur durch die Abstammung von einer jüdischen Mutter oder durch eine
formgerechte rabbinische Konversion erlangt werden kann, aber nicht, wie in
biblischen Zeiten, durch einen jüdischen Vater. 2017 hat darauf folgend
Ruth Zeifert – selbst Tochter eines jüdischen Vaters – eine anregende
Studie unter dem Titel „Nicht ganz koscher. Vaterjuden in Deutschland“
vorgelegt.
Die Frage, wer Jüdin oder Jude ist und wer wie Jüdin oder Jude werden kann,
geht über rein religiöse Belange weit hinaus. So hat der Staat Israel sein
Rückkehrgesetz seit Langem den komplizierten Familienverhältnissen
jüdischer Immigranten aus der Sowjetunion angepasst, so hat das
Reformjudentum in den USA schon seit Langem beschlossen, dass Kinder
jüdischer Väter „Bat- oder Bar Mizwah“, also religiös mündig werden kö…
sofern sie von ihren Vätern nicht nur gezeugt, sondern eben auch jüdisch
erzogen worden sind.
Ansonsten ist Jüdin oder Jude, wer entweder von einer jüdischen Frau
geboren wurde oder vor einem anerkannten Rabbinatsgericht förmlich
konvertiert ist (nach warnenden Vorhaltungen sowie ausführlichem Studium
von Tora, Talmud und Halacha sowie langjähriger, korrekter religiöser
Lebensführung).
Bezüglich des komplexen Verhältnisses von Ethnizität und Religion im
Judentum heißt das, dass man durch eine religiöse Zeremonie zur Angehörigen
eines Ethnos werden kann, während Personen, denen jede Religiosität
gleichgültig oder gar verächtlich ist, im religiösen Sinne sogar dann als
Juden oder Jüdinnen gelten, wenn sie von einer areligiösen Mutter geboren
wurden: sofern diese ihrerseits eine nachweislich jüdische Mutter hatte.
Historisch sind also zwei Fragen zu klären: Wann entstand das Judentum als
Religion, und wann und unter welchen Umständen wurde die Matrilinearität
als Kriterium der Zugehörigkeit zu dieser Religionsgemeinschaft
durchgesetzt?
Der amerikanische Gelehrte Shaye J. D. Cohen hat dieser Frage vor zwanzig
Jahren eine bahnbrechende Monografie unter dem Titel „The Beginnings of
Jewishness. Boundaries, Varieties, Uncertainties“ gewidmet, in der er
zunächst nachweist, dass jüdische Frauen und Männer in der
griechisch-römischen Antike vor dem Jahre 90 – abgesehen von ihren
religiösen Bräuchen – in keiner Hinsicht von anderen Menschen zu
unterscheiden waren und es zudem keine öffentlich nachprüfbaren Verfahren
gab, um festzustellen, ob jemand zum Judentum konvertiert ist – sieht man
einmal von der männlichen Pflicht zur Beschneidung ab.
Belege für das Matrilinearitätsprinzip finden sich zunächst in der Mischna,
im Traktat „Qiddushin“ 3:12, wo es um die Legitimität von Kindern geht, die
aus nicht zulässigen sexuellen Verbindungen hervorgehen, und im Traktat
„Yevamot“ 4:13, wo es um die Stellung eines „Mamzers“, eines unehelichen
Kindes, geht. Der Religionswissenschaftler Cohen hat sorgfältig nach
möglichen Gründen für die Einrichtung des Matrilinearitätsprinzips gesucht:
In der Hebräischen Bibel, im Buch Esra, finden sich Hinweise auf die
Ungewissheit aller Vaterschaft, auf die Intimität des
Mutter-Kind-Verhältnisses sowie auf Rückstände eines archaischen
Matriarchats.
Cohen kommt zu dem Schluss, dass die wahrscheinlichste Lösung des Problems
in einer stillschweigenden Übernahme römischer Rechtsgrundsätze durch die
Rabbinen liegt, die den Status von Kindern unter allen Umständen dem Status
ihrer Mütter zuordneten. Aber auch Cohen räumt ein, dass bis zur Zeit der
Mischna, also bis Ende des zweiten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung,
unter den Juden nur das Patrilinearitätsprinzip galt: „Why, then, did the
rabbis break with previous practice! I do not know.“
Heinrich C. Olmer wagt einen anderen Schluss: Er geht davon aus, dass die
Rabbiner nach dem gescheiterten Bar-Kochba-Aufstand im zweiten Jahrhundert
die mütterliche Abstammung an die Stelle der väterlichen gesetzt hätten –
aus pragmatischen Gründen, angesichts der Versklavung und Verschleppung
jüdischer Männer. Ob es sich dabei um eine durch Quellen belegte Einsicht
oder um eine Rückprojektion handelt, ist bis heute ungeklärt.
Auf jeden Fall zeichnet sich heute ab, dass – mit Ausnahme des Staates
Israel – das Matrilinearitätsprinzip zu einem kontinuierlichen Schrumpfen
des jüdischen Volkes geführt hat. So leben in den USA etwa 5,8 Millionen
Jüdinnen und Juden, wobei hier „Jew“ nicht mehr verstanden wird als eine
irgendwie bewusste und anerkannte verwandtschaftliche Herkunft; und nicht
etwa die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde. Legt man bei der Zählung das
strengere halachische Prinzip zugrunde, schrumpft die Zahl deutlich.
Ähnliche Schwierigkeiten herrschen in Israel. Zwar können nach vielen
Änderungen des Rückkehrgesetzes auch nicht halachische Juden immigrieren,
dort jedoch nicht jüdisch heiraten, sofern sie nicht zuvor eine förmliche
Konversion vollzogen haben, da Israel keine Zivilehe kennt.
Olmer argumentiert deshalb, auch die patrilineare Abstammung als
zureichendes Kriterium zur Zugehörigkeit zum Judentum, zur jüdischen
Religion erneut einzuführen: Wenn es historischen Umständen geschuldet war,
dass im zweiten Jahrhundert gegen die biblischen Abstammungsregeln die
Matrilinearität eingeführt wurde, sollte es, wie er meinte, gemäß dem Geist
des rabbinischen Pragmatismus doch heute möglich sein, zwar nicht die
Matrilinearität abzuschaffen, sie aber doch um die Patrilinearität zu
ergänzen.
Olmer selbst lässt offen, wie das konkret geschehen kann, und äußert sich
kaum dazu, ob er dafür wirbt, einen jüdischen Erzeuger als zureichendes
Kriterium zu akzeptieren, oder ob er für die nordamerikanische und
britische Variante des liberalen Judentums eintritt, Personen dann als
Jüdinnen oder Juden anzuerkennen, wenn sie von ihren Vätern auch jüdisch
erzogen worden sind.
Tatsächlich spricht viel für die Übernahme dieser reformjüdischen
nordamerikanischen Praxis, und zwar deshalb, weil sie über ein spirituell
und intellektuell unerhebliches demografisches Wachstum hinaus einen
deutlichen Anreiz zur jüdischen Bildung schafft.
Das heißt heute praktisch, dass die liberale, die Allgemeine Rabbiner
Konferenz in Deutschland Menschen, die einen jüdischen Vater haben und die
von ihm auch jüdisch erzogen wurden, einen erleichterten,
niedrigschwelligen Übertritt anbietet. Der Autor dieser Zeilen hält genau
diese Regelung für vernünftig und richtig. Haben doch Rituale – so der
Übertritt – ihren guten Sinn: Sie bekräftigen nach anerkannten symbolischen
Regeln einen Status oder eine Haltung, sind also mehr als nur Ausdruck
einer individuellen Entscheidung, sondern zugleich Ausdruck einer
intersubjektiven Anerkennung der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft.
In einer Zeit, in der eine Berliner Politikerin in Verruf geriet, weil sie
bekannte, als Kind gern „Indianerhäuptling“ sein zu wollen, sollte
einsichtig sein, dass die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft nicht –
wie etwa Ronen Steinke meint – die willkürliche Entscheidung einer/eines
jeden sein kann. Zugehörigkeit ist ein Ergebnis wechselseitiger Anerkennung
und der Übertritt eine dafür erträgliche Zumutung.
4 Sep 2021
## AUTOREN
Micha Brumlik
## TAGS
Judentum
Israel
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Religion
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