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# taz.de -- Identitätsfrage im Judentum: Nicht jüdisch genug, Papa?
> Nur wer eine jüdische Mutter hat, ist nach religiösem Recht Jude.
> Sogenannte „Vaterjuden“ erfahren hingegen häufig Ablehnung.
Bild: Bleiben oft im Schatten: Kinder jüdischer Väter.
Sarah Wohl ist acht Jahre alt, als sie die Entdeckung ihres Lebens macht.
Mit großen Augen und klopfendem Herzen sitzt das Mädchen vor dem
Schlafzimmerschrank ihrer Eltern – den soeben gehobenen Schatz fest
umklammert. Sarah hat die alte Tora ihres Großvaters gefunden – und die
wird sie so schnell nicht mehr loslassen. Sie will es genauer wissen.
Schon bald macht sie sich mehrmals pro Woche von ihrem hessischen
Heimatdorf aus auf den Weg in die nächstgelegene jüdische Gemeinde. Auf dem
Programm stehen jüdischer Religionsunterricht, Hebräischkurs, Feste,
traditionelle Tänze – Gemeinschaft. Irgendwann soll es auch in die jüdische
Jugendfreizeit gehen. Wochenlang freut sich Sarah auf die Reise, auf die
Zeit mit den neu gewonnenen Freunden. – Das Mädchen hat die Reise nie
angetreten. Sie durfte nicht. Halachisch betrachtet, also dem religiösen
Recht folgend, ist Sarah keine Jüdin. Dafür braucht sie eine jüdische
Mutter. Keine Ausnahmen.
„Trotz einiger Gespräche ließ sich da nichts machen, obwohl sogar unser
Rabbiner gegen meinen Ausschluss war. Irgendwer auf Landes- oder
Bundesebene hatte das einfach so entschieden“, erzählt die inzwischen
32-jährige Sarah Wohl rückblickend.
Sarah Wohls Geschichte ist typisch. Typisch, weil Menschen mit jüdischem
Vater, aber nichtjüdischer Mutter oft ohne jüdisch-religiösen Bezug
aufwachsen. „So lasst uns nun mit unserem Gott einen Bund schließen, dass
wir alle fremden Frauen und Kinder, die von ihnen geboren sind, hinaustun
nach dem Rat des Herrn“ , heißt es nach der Überlieferung durch Moses.
Und so gelten auch im 21. Jahrhundert Juden – ob religiös erzogen oder
nicht – als Nichtjuden, sofern ihre Mutter keine Jüdin ist. Jene, die
irgendwann auf ihre jüdischen Wurzeln stoßen, erforschen sie so lange, bis
sie ihre erste Ablehnungserfahrung machen. „Du bist keiner von uns“ – das
ist die Kernaussage, die viele dieser sogenannten patrilinearen Juden schon
einmal gehört haben. Die meisten ziehen sich daraufhin gekränkt zurück. Oft
über Jahre.
## Keine Verortung
Auch die Münchnerin Ruth Zeifert ist ohne jüdische Mutter groß geworden.
Zeiferts Großeltern väterlicherseits waren jüdische Deutsche, die in den
1930er Jahren gerade noch rechtzeitig nach Palästina emigrieren konnten, wo
sie den israelischen Staat mit aufgebaut haben. „Guckt euch das an. Das ist
das Land, für das Opa gearbeitet und gekämpft hat“, erzählt die 42-Jährige
noch heute ihren beiden kleinen Töchtern jedes Mal, wenn sie nach Israel
reisen.
Ein paar Jahrzehnte zuvor war ihr Vater von dort aus nach Europa
aufgebrochen, „wie das die Israelis nach dem Militärdienst halt so machen“,
schmunzelt Zeifert. Es dauerte nicht lange, da lernte er eine nichtjüdische
deutsche Frau kennen – und schließlich lieben. Schon war es passiert: Die
gemeinsame Tochter Ruth hatte offiziell keinen jüdischen Status.
In erster Linie für die „Betroffenen“ hat Ruth Zeifert 2006
berufsbegleitend eine Dissertation zu dem Thema begonnen. Im Sommer 2015
wird die wissenschaftliche Arbeit über „Identitätskonstruktionen
Patrilinearer im Spannungsfeld der differierenden Fremd- und
Selbstzuschreibungen“ erscheinen. Den Hauptbestandteil der gut 200 Seiten
umfassenden Untersuchung bilden Interviews mit Betroffenen in
unterschiedlichen Altersstufen.
Kein leichtes Unterfangen. Passende Interviewpartner zu finden, erzählt
Zeifert, sei schwierig gewesen. So stellen patrilineare Juden keine Gruppe
dar, die sich „fassen“ ließe. „Sie sind weder in den jüdischen Gemeinden
verortet noch als Gruppe vernetzt oder gar statistisch erfasst,“ erklärt
sie die Problematik.
Mit viel Geduld und Recherche ist es der Autorin am Ende aber gelungen,
patrilineare Jüdinnen und Juden unterschiedlicher Generationen zu treffen
und zu befragen. Dabei kam heraus, dass zwar niemand einen religiösen Bezug
zum Judentum hat. Doch allein äußere Merkmale wie der Nachname oder eine
vermeintlich jüdische Optik und natürlich auch die Shoa-Vergangenheit der
eigenen Familie würden dazu führen, sich immer wieder mit den eigenen
jüdischen Wurzeln zu beschäftigen. „Wenn es um Antisemitismus,
Vergangenheitsbewältigung und Anti-Israel-Diskussionen geht, da haben alle
meine Interviewpartner gemerkt, dass sie sich deutlich zu einer jüdischen
Seite positionieren“, erzählt die Wissenschaftlerin.
## „Ich fühle mich jüdisch, ich kann das nicht ändern“
Auch in Zeiferts Kindheit spielten jüdische Riten zwar keine Rolle, doch
allein der regelmäßige Besuch von Familienmitgliedern aus Israel zeigte:
der Bezug zum Judentum war groß. Antisemitische Erfahrungen in ihrem
Heimatdorf sorgten zusätzlich für ein verstärktes Zugehörigkeitsgefühl zum
Judentum – wenn sich dieses auch auf negative Erlebnisse stützte. Wenn sich
patrilineare Juden nicht positionieren, verleugnen sie ihre Familie,
verleugnen sie einen Teil von sich, die eigene Geschichte – so das Credo.
„Sie würden sonst den Juden wehtun“, erzählt Zeifert und nennt einen Satz
als Quintessenz ihrer Gespräche, eine Aussage, der alle zustimmten: „Ich
fühle mich irgendwie sehr jüdisch, ich kann das nicht ändern.“
Auch Sarah Wohl kennt dieses Gefühl. Nach der Ablehnungserfahrung ihrer
Kindheit ruhte das Bedürfnis, sich mit dem eigenen Jüdischsein zu
beschäftigen, zwar jahrelang, doch im Erwachsenenalter brach es erneut
durch: „Meine Schwester und ich haben uns gegen Ende des Studiums beide
wieder stärker mit dem Judentum beschäftigt. Wir wollten wissen, wie es
anderen in unserer Situation geht, weil wir gemerkt haben, dass man
niemanden zufällig trifft, der ähnliche Erfahrungen gemacht hat.“
2008 finden die beiden schließlich eine Lösung: Sie gründen das
Internetportal „Doppelhalb“. Menschen teiljüdischer Herkunft sollen dort
einen Raum finden, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. „Ich fühle mich
als Jüdin, aber muss entweder allein bleiben, wegen meiner nichtjüdischen
Mutter lügen oder wie alle anderen auch konvertieren“, schreibt da eine in
Deutschland lebende US-Amerikanerin.
Sie empfindet es als verletzend, dass ihr jüdischer Status nicht anerkannt
wird, der einen offiziellen Übertritt zum Judentum obsolet machen würde.
„Das gibt mir immer noch das Gefühl, dass ich zweitklassig bin“, sagt sie.
Ruth Zeifert ist optimistisch. „Grundlegend ist festzustellen, dass sich in
der Frage, ob Personen mit einem jüdischen Vater und einer nichtjüdischen
Mutter Juden sind oder sein sollen, etwas bewegt“, betont Ruth Zeifert in
ihrer Arbeit. Ausschlaggebend dafür sei in erster Linie ein Erstarken
liberaler jüdischer Gemeinden.
## Liberale Gemeinden
Die „Union progressiver Juden in Deutschland“ ist eine Dachorganisation für
aktuell 22 Gemeinden mit rund 4.500 Mitgliedern. Eine davon ist Bet Haskala
in Berlin. Angesiedelt im multikulturellen Bezirk Wedding, ist dort ein
neuer, liberalerer Zugang bereits Realität – und zwar in vielerlei
Hinsicht. So hat sich Benno Simoni, Vorsitzender von Bet Haskala, vor
Kurzem in einem Schwulenmagazin öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt
– und auch seine Gemeinde spricht neben Alleinerziehenden und Singles
explizit lesbische und schwule Jüdinnen und Juden an.
Man wolle „eine Gemeinde unabhängig von den festgefahrenen und nicht mehr
zeitgemäßen Strukturen der etablierten jüdischen Gemeinde“ sein, heißt es
auf der Website, und schließlich werden auch alle, „die einen patrilinearen
oder sonstigen jüdischen Hintergrund haben“, aktiv zur Teilnahme am
Gemeindeleben aufgefordert. Bet Haskala will eine „egalitäre Gemeinde“ sein
– soweit das gesetzlich möglich ist. Denn Simoni betont, dass sich
selbstverständlich auch er an die Vorgaben der Allgemeinen
Rabbinerkonferenz halte, die unter anderem auch die Auslegung des
Matrilinearitätsprinzips festlegt.
Doch immerhin: In Bet Haskala hat man einen Weg gefunden, der etwa die
Konversion für solche patrilinearen Juden, die von jeher am religiösen
Leben teilgenommen haben, etwas erleichtert – denn normalerweise muss
zunächst mindestens ein religiöser Jahreszyklus durchlebt werden, in dem
der Kandidat zeigen muss, dass es ihm ernst ist.
Es sei wichtig, sich mit der „Problematik patrilinearer Juden
auseinanderzusetzen“, findet Gemeindevorstand Simoni. Auch in Israel gebe
es zu diesem Thema eine breite Debatte – denn das Rückkehrrecht, also das
Recht auf die israelische Staatsbürgerschaft, gilt für alle Menschen mit
jüdischen Eltern- oder Großelternteilen. Die Frage der Mutter oder der
religiöse Status sind dabei irrelevant. Es zählt, wer gemäß den Nürnberger
Gesetzen von 1935 zum NS-Opfer geworden wäre.
Staatsrechtlich wurde durch die Geschichte der jüdischen Vertreibung und
speziell der Shoa ein Umdenken also längst als notwendig erkannt. Und so
stellt sich die Frage, ob nicht spätestens die aktuellen Geschehnisse in
Paris und Kopenhagen, aber auch die Antisemitismusdiskussion in Deutschland
eine Zäsur darstellen – und ein stärkeres Zusammenrücken aller, die von
Judenhass betroffen sind, der nächste Schritt sein sollte.
Bis dahin gilt für die sogenannten „Vaterjuden“ wohl das Ziel, wie Zeifert
es am Ende in ihrer Arbeit formuliert – „aus den widersprüchlichen Fremd-
und Selbstzuschreibungen eine selbstbewusste und integre Identität zu
erarbeiten, in der sie sich verorten und in der sie zufrieden sind“.
19 Mar 2015
## AUTOREN
Daniel Segal
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