| # taz.de -- Geschichte der deutschen Demokratie: Jüdische Heimat Bundesrepublik | |
| > Nach den Anschlägen in Paris und Kopenhagen fordert Netanjahu, Juden | |
| > sollten nach Israel auswandern. Doch Europa ist und wird jüdisch bleiben. | |
| Bild: Heinrich Böll, Theodor W. Adorno und Siegfried Unseld (v.l.n.r.) bei ein… | |
| Der israelische Premier Benjamin Netanjahu befindet sich im Wahlkampf und | |
| muss ernsthaft fürchten, im März abgewählt zu werden. Daher nutzt er jede | |
| Gelegenheit, sich ins rechte Licht zu setzen. Er schreckte daher auch nicht | |
| davor zurück, sich uneingeladen in die erste Reihe der großen | |
| Trauerdemonstration von Paris für die Opfer der islamistischen Mordtaten zu | |
| drängen. | |
| Die Hinterbliebenen der ermordeten Juden bedrängte er, die sterblichen | |
| Überreste der Opfer in Israel beisetzen zu lassen. Die Juden Frankreichs | |
| rief er zur Auswanderung auf. Jetzt, nach dem tödlichen Anschlag in | |
| Kopenhagen und der Ermordung eines jüdischen Wachmanns, steigerte er seine | |
| Rhetorik noch und forderte die Juden ganz Europas auf, nach Israel | |
| auszuwandern – in Netanjahus anmaßenden Worten sei dies ihre Heimat. | |
| Bei alledem ist die Wahrscheinlichkeit, in Israel einem terroristischen | |
| Attentat zum Opfer zu fallen, keineswegs geringer als in Frankreich oder | |
| Dänemark. Allerdings, so viel ist einzuräumen, sind aus Frankreich | |
| ausgewanderte Juden in Israel vor Anpöbeleien in Schulen und auf Straßen | |
| sicher – anders als in französischen Vorstädten. Auch in Deutschland wurde | |
| vor beinahe zwei Jahren ein Rabbiner mit seiner kleinen Tochter auf offener | |
| Straße angegriffen, im vergangenen Sommer wurden zum ersten Mal seit 1945 | |
| auf deutschen Straßen wieder offen judenfeindliche Hassparolen geschrien. | |
| Daher sind auch hierzulande nicht wenige jüdische Familien verunsichert, | |
| manche überlegen, das Land zu verlassen. | |
| Doch kann das nicht die richtige Antwort auf Terror und Antisemitismus | |
| sein. Treffender als es der neu gewählte Vorsitzende des Zentralrats der | |
| Juden in Deutschland, Josef Schuster, am 15. Januar in der Jüdischen | |
| Allgemeinen zu Protokoll gegeben hat, kann man es kaum ausdrücken: „Angst | |
| war noch nie ein guter Ratgeber. Und ich würde es auch als falsch | |
| empfinden, vor Terrorismus einzuknicken.“ | |
| ## Bewusst zurückgekehrt | |
| Vor allem aber gibt es noch einen weiteren, mindestens so gewichtigen | |
| Grund, in Deutschland zu bleiben – ganz abgesehen davon, dass Deutschland | |
| inzwischen der Lebensmittelpunkt von etwa zweihunderttausend Jüdinnen und | |
| Juden ist. Es waren Jüdinnen und Juden, die – was inzwischen beinahe | |
| vergessen ist – nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich am Aufbau von | |
| Demokratie und demokratischer Kultur in der Bundesrepublik beteiligt waren. | |
| Sie waren bewusst zurückgekehrt, um ein besseres Deutschland aufzubauen: | |
| Die sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Jeannette Wolff, der | |
| Regierende Bürgermeister von Hamburg, Herbert Weichmann, der | |
| nordrhein-westfälische Justizminister Josef Neuberger, der hessische | |
| Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der mit dem Frankfurter Auschwitzprozess | |
| die moralische Selbstaufklärung der deutschen Gesellschaft über den | |
| millionenfachen Mord an den europäischen Juden in die Wege leitete, der | |
| kompromisslose Mahner Heinz Galinski sowie nicht zuletzt Ignatz Bubis, der | |
| 1992 als Vorsitzender des Zentralrats der Juden angesichts der | |
| rassistischen Pogrome in Rostock-Lichtenhagen vor Ort seine Solidarität mit | |
| den Angegriffenen zeigte. | |
| Doch waren es nicht nur jüdische PolitikerInnen, die einen entscheidenden | |
| Beitrag zum Aufbau demokratischer Kultur leisteten: Auch die intellektuelle | |
| Gründung der Bundesrepublik Deutschland war wesentlich ein Werk jüdischer | |
| RemigrantInnen, aber auch hier gestrandeter Juden, eine Gründung, die sich | |
| nicht in offiziellen Gründungsakten und eindeutigen institutionellen | |
| Dokumenten niederschlug, sondern in teils verängstigten, teils | |
| sehnsüchtigen, teils verschämten, teils immer wieder bezweifelten | |
| Einzelentscheidungen von Künstlern, Schriftstellern, Intellektuellen. | |
| Es handelt sich um ein Erbe, das bis heute verpflichtet. Ein eher | |
| konservativer Soziologe, Clemens Albrecht, verlieh dieser Tatsache schon | |
| 1999 in einer Studie zur Geschichte der „Frankfurter Schule“ prägnanten | |
| Ausdruck: „Als Juden, Remigranten, Sozialwissenschaftler und | |
| Linksintellektuelle gab es neben ihnen kaum andere Intellektuelle, die | |
| glaubwürdiger in der Rehabilitierung deutscher geistiger Traditionen waren. | |
| Eben weil der Faschismus für Horkheimer und Adorno kein spezifisch | |
| deutsches Phänomen ist, war die (…) Kritische Theorie die einzige Position, | |
| durch die ein radikaler Bruch mit dem Faschismus ohne Bruch mit der eigenen | |
| kulturellen Identität möglich war.“ | |
| ## Die Weimarer Moderne | |
| Doch waren es keineswegs nur – und hier irrt Albrecht – die Frankfurter | |
| Professoren Horkheimer und Adorno, denen die intellektuelle Gründung der | |
| Bundesrepublik zu verdanken ist. Die Weimarer Moderne und die eigene | |
| Erfahrung von Verfolgung, Ausgesetztheit und Flucht hat das Werk all jener, | |
| die zurückkehrten und die frühe Bundesrepublik geistig formten, maßgeblich | |
| geprägt. | |
| So sind aus dem literarischen, wissenschaftlichen und filmisch-dramatischen | |
| Werk zu nennen: etwa die um 1920 geborene Lyrikerin und Romanautorin Hilde | |
| Domin oder der Kritiker Marcel Reich-Ranicki, der Drehbuchautor und | |
| Regisseur Peter Lilienthal, der Produzent Arthur Brauner, die | |
| Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer und Edgar Hilsenrath, die | |
| Theaterregisseure Peter Zadek und George Tabori, Philosophen und | |
| Kulturwissenschaftler wie Ernst Bloch, Michael Landmann, Werner Marx und | |
| Friedrich Georg Friedmann, der Soziologe Alphons Silbermann, der Publizist | |
| Ralf Giordano, der Literaturwissenschaftler Hans Mayer – die Erfahrung von | |
| KZ, erzwungener Emigration sowie Vernichtung nächster Angehöriger ist aus | |
| der Gründung der Bundesrepublik nicht wegzudenken. | |
| Diese Erfahrungen prägten ihr Werk genauso tief wie die des aus Österreich | |
| stammenden Auschwitzhäftlings Jean Améry, der sich in der Bundesrepublik | |
| und nicht in seinem Geburtsland Österreich niederließ, der jedoch sein | |
| Leben nach der erlittenen Folter nicht mehr lange fortsetzen wollte. | |
| Die aufklärerische Literatur der Bundesrepublik ist zudem ohne das Werk des | |
| Romanciers Peter Weiss oder des Lyrikers Erich Fried, die ihren | |
| Lebensmittelpunkt nicht in Westdeutschland hatten, undenkbar. | |
| Auch gehört ein Paul Celan, der für die Lyrik im Nachkriegsdeutschland | |
| bestimmend war, der deutschsprachigen jüdischen Kultur an, wenngleich der | |
| aus Siebenbürgen stammende Dichter ein Heimatloser war und blieb. | |
| ## Pluralistische Demokratie | |
| Es waren schließlich remigrierte jüdische Politologen, die der jungen | |
| Republik ihr Selbstverständnis als verfasster, pluralistischer Demokratie | |
| gaben: Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal und Franz Neumann sowie Ossip | |
| Flechtheim, der an einer demokratisch-sozialistischen Option festhielt. | |
| Aber auch eine wiedererstehende Judaistik verdankt zurückgekehrten Jüdinnen | |
| und Juden außerordentlich viel: Eine Neugründung dieses Fachs hätte es ohne | |
| Jacob Taubes und Marianne Awerbuch nicht gegeben. | |
| Zu erinnern ist auch an Adolf Leschnitzer, der 1955 in Berlin die erste | |
| Honorarprofessur für die „Geschichte des deutschen Judentums“ erhielt, | |
| sowie an den Religionswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps und den | |
| Historiker Joseph Wulf – er verzweifelte tödlich an der Gleichgültigkeit | |
| Nachkriegsdeutschlands. | |
| Zu nennen sind weiterhin bedeutende Pädagogen: Max Fürst, der uns ein | |
| anschauliches Bild der jüdischen Jugendbewegung in Weimar hinterlassen hat, | |
| der Erziehungswissenschaftler Ernst Jouhy, der nach einer Tätigkeit in der | |
| französischen Résistance Lehrer an der Odenwaldschule und dann Professor in | |
| Frankfurt wurde – vor allem aber auch Berthold Simonsohn, der nach | |
| leidvoller Haft in Theresienstadt, nach Jahren aktiver jüdischer | |
| Sozialarbeit als Professor in Frankfurt am Main Wiederbegründer der | |
| psychoanalytischen Pädagogik wurde. | |
| ## Vorbilder im Kampf gegen Judenhass | |
| Ohne Remigranten auch kein erneuertes deutsches Theater: die Schauspieler | |
| und Regisseure Fritz Kortner, Ernst Deutsch und Ida Ehre, Therese Giehse | |
| und Kurt Horwitz. Sie alle, Männer und Frauen, sind bis heute Vorbilder im | |
| Kampf gegen Judenhass, Rassismus und Demokratieverachtung – egal, ob diese | |
| Haltungen von mörderischen, salafistischen Wirrköpfen oder dumpfen | |
| Wutbürgern wie den Pegida-Demonstranten an den Tag gelegt werden. | |
| Für die Juden in der Bundesrepublik Deutschland gilt auch heute – mit | |
| Abstrichen –, was Bertolt Brecht 1952 in seiner „Kinderhymne“ geschrieben | |
| hat: Und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wir’s. Das | |
| gilt, wie gesagt, nur mit Abstrichen. Denn „lieben“ kann man – in den | |
| Worten des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann – allenfalls seine | |
| Frau, aber nicht seinen Staat. | |
| Allemal aber genügt Respekt, um zu bleiben und die nach dem | |
| Nationalsozialismus unter Schmerzen erkämpfte demokratische Kultur vor Ort, | |
| also in Deutschland, zu verteidigen. | |
| 21 Feb 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
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