# taz.de -- NS-Erbe einer Transportfirma: Lasten der Vergangenheit | |
> Kühne + Nagel transportierte die Möbel deportierter Juden. Der | |
> Logistikkonzern ließ dieses Kapitel aus der NS-Zeit bisher im Dunkeln. | |
Bild: Firma mit unaufgearbeiteter Geschichte: Kühne + Nagel | |
Viele große und international agierende Unternehmen haben längst | |
unabhängige Historiker mit der Aufarbeitung ihrer NS-Geschichte beauftragt. | |
Das wäre auch für Kühne + Nagel (K + N) relevant. Nicht nur, weil die | |
Ausrichtung der Firma als weltweit drittgrößtem Logistikkonzern | |
internationaler kaum sein könnte. Sondern auch, weil K + N in der NS-Zeit | |
zu einer der reichsweit führenden Speditionen aufstieg. Sie transportierte | |
in ganz großem Stil die Wohnungseinrichtungen der aus Westeuropa | |
deportierten jüdischen Bevölkerung ab. | |
Doch statt nach renommierten Historikern suchte die Firma vergangenes Jahr | |
per Anzeige nur nach „Praktikanten zur Erstellung eines Fotobandes, | |
basierend auf Archivarbeit“. Immerhin feiert der Konzern 2015 mit viel | |
Marketing weltweit den 125. Geburtstag. | |
Melden sich Historiker bei K + N, werden sie mit einem Zweizeiler | |
abgewiesen: Man habe nichts, das zu beforschen sei. Hinter dieser Blockade | |
steht Klaus-Michael Kühne persönlich: Der Mehrheitsaktionär agiert als | |
Firmenpatriarch, wie man ihn sonst nur aus dem Mittelstand kennt, | |
Familienbewusstsein inklusive. Die Skrupellosigkeit des eigenen Vaters | |
einzuräumen ist schwieriger, als das Fehlverhalten irgendeines | |
Vorvorvorgängers des Aufsichtsratschefs einzugestehen. Alfred Kühne war | |
seit 1932 Mitinhaber, sein Sohn hält die Firmengeschichte unter Verschluss. | |
Gegenüber der taz bekräftigt das Unternehmen mehrmals, sein komplettes | |
Archiv sei durch Bomben vernichtet worden. Das Bremer Stammhaus brannte | |
1944 tatsächlich komplett ab. Allerdings gab es zu diesem Zeitpunkt acht | |
weitere Niederlassungen. Das Verzeichnis der Deutschen Wirtschaftsarchive | |
weiß von „zehn lfde. Metern Akten, Protokollen und Geschäftsbüchern“ der | |
Firma, gesammelt seit 1902 – aber versehen mit dem Hinweis: „Benutzung nur | |
mit Genehmigung der Geschäftsleitung.“ | |
In einer Bodenkammer des Kölner Finanzamts stieß der Historiker Wolfgang | |
Dreßen schon in den 1990er Jahren auf umfangreiches Material über K + N, | |
dessen Existenz auch von der Behörde jahrelang geleugnet worden war. | |
## Systematische Plünderung | |
Dreßen wies nach, dass K + N „de facto ein Monopol bei der ’Aktion M' | |
hatte“, der systematischen Ausplünderung der aus Frankreich und den | |
Benelux-Ländern deportierten Juden. „M“ steht für Möbel: Fast 72.000 | |
Wohnungseinrichtungen transportierte K + N nach Deutschland. Dort wurden | |
sie Behörden und „Fliegergeschädigten“ zugewiesen oder auf „Judenauktio… | |
versteigert. | |
Die Aktenkonvolute, die über diese Geschäfte Auskunft geben, sind weit | |
verstreut. Im ukrainischen Nationalarchiv liegt eine Liste über | |
Besprechungen von K + N mit dem „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ in | |
Paris – Letzterer war für Beschlagnahmungen zuständig. Am 2. Juni 1944 wird | |
dabei bemängelt, dass sich K + N „bei der letzten Rechnung durch Anwendung | |
eines falschen Tarifs (RM 2.55 statt RM 2.05 pro cbm) […] geirrt“ habe. | |
Im innerdeutschen Geschäft profitierte K + N zunächst von der jüdischen | |
Auswanderung über Bremerhaven. | |
Frank Bajohr, Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Münchner | |
Institut für Zeitgeschichte, konstatiert in Bezug auf die Geschäfte von K + | |
N in Westeuropa „eine relative Nähe zum Massenmord“: Den Besitz „völlig | |
wehrlos gemachter Menschen zu transportieren“ sei „eine Form der | |
Leichenfledderei“. | |
Der zweite wichtige Auftraggeber war die Wehrmacht. K + N übernahm im | |
Zweiten Weltkrieg zahlreiche Transporte etwa auf dem Balkan, wie Akten aus | |
dem Bundesarchiv belegen. | |
## „Seine Existenz behaupten“ | |
Bis vor wenigen Tagen hat K + N solche Dokumente, obwohl mehrfach auf sie | |
hingewiesen, ignoriert. Unbestritten sei, behauptete die Firma, dass sie | |
„in Möbeltransporte involviert war“. Unklar sei aber, „wer die Spedition | |
beauftragt hatte, ob dies in einem kulturpolitischen Zusammenhang erfolgte, | |
und falls ja, ob die Durchführung wissentlich und willentlich geschah.“ | |
Der „kulturpolitische Zusammenhang“ wird auch auf Nachfrage nicht | |
erläutert. In den besetzten Ländern beinhaltete „Kulturpolitik“ jedenfalls | |
das gezielte Plündern von Sammlungen und Bibliotheken. | |
Der Prozess, in dem sich K + N seiner Geschichte stellt, ist ungeheuer zäh | |
– nun jedoch hat er eine gewisse Dynamik entfaltet. Während die Firma noch | |
Ende Januar gegenüber der taz die „mangelnde Relevanz der Rolle von Kühne + | |
Nagel in diesen Zeitperioden“ – den beiden Weltkriegen – herausstellte, | |
bedauerte sie vor wenigen Tagen erstmals „Tätigkeiten im Auftrag des | |
NS-Regimes“. Man sei sich „der schändlichen Vorkommnisse während der Zeit | |
des Dritten Reichs bewusst“. Zu berücksichtigen sei allerdings die | |
Herausforderung, „in dunklen und schwierigen Zeiten seine Existenz zu | |
behaupten“. | |
Diese Erklärung ist, in Gegensatz zu den meisten anderen auf der K + | |
N-Homepage, nur auf Deutsch zu lesen. | |
Thomas Sorg kennt das Abwiegeln aus interner Perspektive. Bis 2013 war er | |
Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats von K + N Deutschland. „Die NS-Zeit | |
wurde auch uns gegenüber immer tabuisiert“, sagt er. Wenn man sich über die | |
„bemerkenswert dünne“ Darstellung der 1930er und 1940er Jahre in den | |
Firmenchroniken gewundert habe, seien Fragen sofort abgeblockt worden. | |
K + N hatte einen jüdischen Teilhaber: den in Auschwitz ermordeten Adolf | |
Maass. Die Firmenchronik erweckt den Eindruck, als wechselte Maass im April | |
1933 freiwillig „in eine Großhandelsfirma seiner Verwandtschaft“. Noch | |
heute betont K + N: „Herr Maass hat die Firma von sich aus verlassen.“ Die | |
Familie habe nach dem Krieg keinerlei Ansprüche geltend gemacht. | |
## K + N drängte jüdischen Teilhaber raus | |
Maass’ Schwiegertochter ist 90 Jahre alt. Sie bestätigt, dass ihr | |
verstorbener Mann keine Forderungen gegen K + N erhoben habe. Unter welchen | |
Umständen verließ dessen Vater die Firma? Die alte Dame weiß es nicht. | |
Einen Hinweis hat sie jedoch: Da ihr Schwager nach Kanada ausgewandert sei, | |
könne dort etwas zu finden sein. Im Montreal Holocaust Memorial Centre | |
lagern tatsächlich Verträge. Daraus geht hervor, dass Alfred und Werner | |
Kühne schon 1932 versuchten, die Beteiligungsverhältnisse in der Firma zu | |
ihren Gunsten zu ändern. Maass, mit 45 Prozent der größte Anteilseigner, | |
wurde auf ein Drittel gedrückt. Die Firmenbeteiligungen in Leipzig und | |
Stettin sollten künftig „für alleinige Rechnung der Herren Alfred und | |
Werner Kühne“ laufen. Begründung: Maass habe Verpflichtungen des | |
Gesellschaftsvertrags nicht erfüllt, zudem wurde „Herr Maass seit Jahren in | |
der Zinsenfrage erheblich bevorzugt“. | |
In der Firma herrschte Streit. Im April 1933 gab Maass auf, auch auf Druck | |
von außen: Die Reichsgetreidestelle entzog dem Unternehmen seinetwegen | |
wichtige Aufträge. Maass unterschrieb einen Knebelvertrag, in dem er auf | |
sämtliche Rechte an K + N und weiteren Firmen verzichtete und | |
Konkurrenzschutz garantierte: Er werde sich künftig „weder direkt noch | |
indirekt in irgendeiner Form an einem Speditions- und/oder | |
Schiffahrtsunternehmen beteiligen“. | |
Der Gesellschaftsvertrag von 1928 legte fest, dass Maas bei unfreiwilligem | |
Ausscheiden ein 50-prozentiger Zuschlag auf die Abfindung zustehe. Das war | |
nun obsolet: Maass wurden firmeninterne Schulden angelastet. Er verließ | |
seine Firma statt mit einer Abfindung mit ihm „wohlwollend“ gestundeten | |
Zahlungsverpflichtungen. | |
Neun Tage nach Maass’ Ausscheiden wurde Werner Kühne in die NSDAP | |
aufgenommen. Maass kam 1938 zum ersten Mal ins KZ, 1941 musste er mit | |
seiner Frau endgültig das Haus in Hamburg-Winterhude verlassen. Ob es seine | |
ehemalige Firma war, die anschließend das Mobiliar ausräumte, ist nicht | |
bekannt. | |
31 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Henning Bleyl | |
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