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# taz.de -- Debatte Netanjahus Aufruf: Kommt nach Israel?
> Benjamin Netanjahu rief Juden aus Europa auf, nach Israel auszuwandern.
> Auch wegen seiner Politik ist das Leben in Israel gefährdet wie nirgendwo
> sonst.
Bild: Die Küste von Tel Aviv. Können sich in Israel Juden in Sicherheit wiege…
Die mörderischen Anschläge auf jüdische Institutionen in Frankreich und
Dänemark haben in Israel Erwartbares gezeitigt: „Spontan“ rief Benjamin
Netanjahu die Juden in diesen Ländern auf, nach Israel auszuwandern; Israel
sei ihr Heim. „Die Juden sind wieder auf europäischem Boden ermordet
worden, nur weil sie Juden sind“, deklarierte er. „Den Juden Europas und
den Juden in der Welt sage ich, dass Israel euch mit offenen Armen
erwartet.“
Abgesehen davon, dass führende Politiker in beiden Ländern von der
Manipulation, die der israelische Premier auf Bürger ihres Landes meinte
ausüben zu sollen, nicht gerade begeistert waren, mag man sich fragen, was
es mit dieser Rhetorik Netanjahus auf sich hatte. Dass Juden als Juden „auf
europäischem Boden“ mörderischer Gewalt ausgesetzt waren, lässt in der
politischen Kultur Israels unweigerlich die Schoah assoziieren, und
entsprechend wird Israel als das einzige Land begriffen, wo Juden sich in
Sicherheit wiegen dürfen.
Nun stelle man sich aber vor, die Anschläge hätten letzten April oder Mai
stattgefunden, woraufhin, dem Aufruf Netanjahus folgend, Juden aus
Frankreich und Dänemark massenweise nach Israel ausgewandert wären, um dann
im Juli und August in einen rund 50 Tage währenden Krieg zu geraten, in
welchem ihr „Heim“ nicht nur den Tod unzähliger palästinensischer Kinder
und Frauen verursacht hat und bei dem auch 70 Israelis ums Leben kamen,
sondern selbst die in der Landesmitte gelegene Stadt Tel Aviv (ganz zu
schweigen von Orten im Süden des Landes) von täglichen Luftalarmsirenen
gebeutelt war. Rund zwei Monate war der Alltag des Judenstaates wie
lahmgelegt, Menschen fürchteten sich, auf die Straße zu gehen – von
Sicherheit konnte nicht die Rede sein.
Nicht nur durften also die Politiker Dänemarks und Frankreichs auf Benjamin
Netanjahus fremdbestimmte Ideologisierung des Unglücks in ihrem Land
indigniert reagieren, sondern in der Sache selbst war das Postulat des
israelischen Premiers von einer objektiven Lüge getragen: Nicht zuletzt
wegen der von Netanjahu und seinesgleichen betriebenen Politik ist das
Leben von Juden schon seit Jahrzehnten gerade in Israel wie nirgendwo sonst
gefährdet.
## Israel ist nicht bedroht
Dies zuzugeben würde allerdings die Einsicht erfordern, dass der Zionismus
bis zum heutigen Tag sein zentrales Versprechen nicht einzulösen vermochte:
den Juden ein Leben in Frieden und Sicherheit in ihrem eigenen Land zu
garantieren. Das will richtig verstanden sein: Israel ist in seiner
Existenz durch keines seiner Nachbarländer bedroht, auch nicht durch den
Iran und schon gar nicht durch die Palästinenser. Jedes Land der Region,
das Israel in seiner Existenz zu bedrohen trachtete, würde (aus bekannten
Gründen) unweigerlich seinen eigenen Untergang mit festschreiben.
Darum geht es aber nicht. Es geht um die Fähigkeit, mittel- und langfristig
ein Leben zu gewährleisten, das man als ein zivilgesellschaftlich
akzeptables Leben ohne Angst, Misstrauen und ewigen Hass aufs geopolitische
Umfeld, ohne Rassismus, keimenden Faschismus und entsprechend „notwendigen“
Militarismus ansehen könnte. In der gegenwärtigen historischen Phase
erweist sich dies als ein Ding der Unmöglichkeit. Israel strebt den für
eine solche Lebensrealität unabdingbaren Frieden nicht an, weil es diesen
Frieden nicht will.
Insofern enthält Netanjahus Rhetorik auch mehr als nur hohle
Phrasendrescherei, wie sie ein gewiefter Politiker in Wahlkampfzeiten vom
Stapel lassen mag. Sie spiegelt vielmehr ein Grundmuster zionistischer
Ideologie wider, das sich in die politische Kultur Israels über Jahrzehnte
eingefräst hat. So musste das historische Projekt des Zionismus letztlich
unvollendet bleiben, da ja ein Großteil der Juden in der Welt sich für ein
Leben außerhalb Israels entschieden hat, mithin dem Postulat der Alija, der
Einwanderung in Israel, nicht nachgekommen ist.
Entsprechend musste der Zionismus sich immer schon eingestehen, dass sein
Erfolg sich primär aus der Verneinung der Diaspora und weniger aus der
Attraktivität Israels für die in der „Diaspora“ lebenden Juden speiste. So
gerann das reaktive Moment auf das verabscheute diasporahafte Dasein zu
seiner ideologischen Raison d’Être. Und gerade weil er dies Ideologische
immer wieder zum Faktor der Selbstvergewisserung erhob, mithin „Beweise“
zur Rechtfertigung des von ihm begangenen historischen Wegs suchte, musste
er den Antisemitismus gleichsam als ideologischen Odem seiner
Existenzberechtigung stets am Leben halten.
Israel hat den Antisemitismus nie bekämpft, auch nie bekämpfen wollen,
sondern vielmehr zum Argument erhoben, ja war nachgerade immer schon daran
interessiert, dass es ihn gebe, um eben mit dem Angebot der historischen
Alternative für die Juden, dem Zionismus, aufwarten zu können.
Zu diesem Zweck ist auch das Schoah-Andenken von Anbeginn ideologisch
instrumentalisiert und die „Sicherheitsfrage“ – ungeachtet ihrer realen
Dimension – zum nationalen Fetisch erhoben worden. Die Möglichkeit, das
Sicherheitsproblem mit einem realen Frieden zu lösen, ist von der
israelischen Politik nie ernsthaft erwogen worden. Der Einzige, Jitzhak
Rabin, der diesen historischen Weg möglicherweise hatte beschreiten wollen,
ist nicht von ungefähr umgebracht worden.
Die Varianten der Verwendung dieses ideologischen Grundmusters sind Legion.
Sie reichen vom Apostrophieren jeglicher Kritik an Israel, besonders wenn
sie aus Europa kommt, als antisemitisch über das Postulat einer ewigen
Bedrohung der israelischen Sicherheit bis hin eben zur Feier Israels als
Zufluchtsstätte „für Juden“.
Die eklatanten Widersprüche, die dieser ideologischen Praxis innewohnen,
stören die propagandistischen Platzhalter dieses Grundmusters kaum: Denn
nicht nur lässt sich fragen, warum Juden in der Welt nach Israel auswandern
sollen, wo doch Israel nach eigenem Bekunden stets in seiner Existenz
bedroht ist; zu reflektieren wäre auch, wie es um den Kausalzusammenhang
bestellt ist zwischen dem in der Welt grassierenden Antisemitismus und der
von Israel praktizierten völkerrechtswidrigen Okkupationspolitik, die
ihrerseits gar nicht für eine solche erachtet wird, weil das besetzte Land
(in der religiösen Version) Juden von Gott verheißen wurde beziehungsweise
(in der säkularen Version) jüdischer Oberhoheit notwendig unterstellt
bleiben muss, um sich der Gefahr der „Auschwitz-Grenzen“ des alten
Kernlands Israel entwinden zu können, als welche diese schon seit
Jahrzehnten der israelischen Politrhetorik gelten. Netanjahus Aufforderung
an die Juden Frankreichs und Dänemarks, nach Israel, ihrem „Heim“,
auszuwandern, weiß sich also einer traditionsreichen Ideologie
verschwistert.
## Wahlkampf in Israel
Wie hat man aber dieses im Brustton der Überzeugung trompetete
Exoduspostulat im Kontext des gegenwärtigen israelischen Wahlkampfs zu
verstehen? Gemessen an den indignierten Reaktionen seitens der
französischen und dänischen Politiker konnte ja von vornherein kein Zweifel
bestehen, dass Netanjahu mit seinen Proklamationen diplomatisch ins
Fettnäpfchen treten würde. Wozu also der pathetische Akt? Nun, dass der
israelische Premier um des Machterhalts willen auf nichts und niemanden
Rücksicht nimmt, ist bekannt. Selbst die bilateralen Beziehungen mit den
USA ist er mit Affronts gegen deren Präsidenten aufs Spiel zu setzen
bereit. Es kommt aber ein Weiteres hinzu.
Der Wahlkampf hat eine eigentümliche Dynamik entfaltet, die mit der
herkömmlichen Links-rechts-Einteilung nicht mehr zu erfassen ist. Denn der
in den letzten anderthalb Jahrzehnten erfolgte Rechtsruck der israelischen
Gesellschaft hat bewirkt, dass Israels „Linke“ (also die Reste eines
weitgehend demolierten Linksliberalismus) keine Herausforderung mehr für
den aus Rechtskonservativen, Rechtsradikalen, Nationalreligiösen und
Orthodoxen sich zusammensetzenden Block darzustellen vermag. Der
eigentliche Wahlkampf spielt sich letztlich innerhalb des rechten Blocks
ab, wobei jede der in diesem Block versammelten Parteien die je andere
rechts zu überholen trachtet: je nationalistischer, je populistischer, je
„zionistischer“, je fremden-, europa- und weltfeindlicher, desto besser.
Alles, was Israel als gerecht, was den Zionismus als Schutz der Juden, was
die „Welt“ als Feind Israels, mithin „der Juden“ darzustellen vermag, m…
in Beschlag genommen, ideologisch verwertet, politisch eingesetzt werden –
mit dem einzigen Ziel, Benjamin Netanjahu die nächste Amtsperiode zu
garantieren. Frankreichs und Dänemarks Juden werden sich sehr überlegen, ob
sie in dieses Israel einwandern sollen. Im Wahlkampf des israelischen
Premiers haben sie gleichwohl ihre Funktion als Gegenstand hohler
Phrasenpolitik bereits erfüllt.
24 Feb 2015
## AUTOREN
Moshe Zuckermann
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