Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Antisemitismus in der Schule: Der Nahostkonflikt in Berlin-Wedding
> Eine zehnte Klasse beamt sich drei Tage lang ins Heilige Land. Zwei
> Pädagogen – einer Israeli, einer Palästinenser – begleiten sie dabei.
Bild: Das Credo der Konfliktpädagogen: „Wir wollen die Schüler da abholen, …
BERLIN taz | New York, mitten in der UN-Vollversammlung. Vertreter aus
Israel, Palästina, dem Iran, aus den USA, Deutschland und dem
UN-Sicherheitsrat sind anwesend. Es geht um das Verhältnis von Israel und
Palästina. Die israelische Verhandlungsführerin, 16 Jahre alt, offene,
lange Haare, in Turnschuhen und Jeans, vertritt knallhart die Interessen
ihres Landes und wehrt sich vor allem gegen die Angriffe aus dem Iran. Als
die Vertreterin des Iran behauptet, dass das Heilige Land den Juden nicht
zustehe, kontert sie: „Aber sind Juden nicht auch Menschen?“
Ein Vormittag in der Willy-Brandt-Oberschule in Berlin-Wedding. Eine zehnte
Klasse beschäftigt sich mit einem der brisantesten Themen überhaupt: dem
Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina.
Viel ist in den vergangenen Monaten, über alle politische Lager hinweg,
über den „neuen Antisemitismus“ in Deutschland gesprochen und geschrieben
worden. Neu an dieser Form des Judenhasses soll die Tatsache sein, dass er
von in Deutschland lebenden Muslimen propagiert werde. Die Attentate von
Paris und Kopenhagen haben dieser Diskussion zusätzliche Nahrung gegeben.
Sind muslimische SchülerInnen per se Antisemiten?
Ein Großteil der SchülerInnen der Klasse 10D hat Eltern, die aus arabischen
Ländern nach Deutschland eingewandert sind. Manal, die die eloquente
Verhandlungsführerin Israels gibt, ist Tochter palästinensischer Eltern.
Die Familie von Mustafa, der in der UN-Vollversammlung die palästinensische
Delegation vertritt, stammt aus Syrien.
Sein Markenzeichen ist die weiße Baseball-Kappe, die er auch während des
Unterrichtes trägt. Sein Onkel ist im Yom-Kippur-Krieg 1973 von
israelischen Streitkräften verwundet worden.
„Wir hatten hier in der Klasse einige Probleme mit diesem Thema“, berichtet
Sibylle Pux. Die 50-jährige Klassenlehrerin unterrichtet die Klasse seit
vier Jahren. In den nächsten Monaten müssen sich die Jugendlichen um
Ausbildungsplätze bewerben. Jede Zensur auf dem Zeugnis zählt. Trotz des
vollen Lehrplans hat Pux drei Tage freigeräumt, um ihren SchülerInnen neue
Perspektiven auf ein sensibles Thema zu ermöglichen. „Manchmal ist es
wichtiger, was fürs Leben zu lernen, als zu wissen, ob man Stuhl groß oder
klein schreibt“, ist Pux überzeugt.
## Konfliktpädagogen im Unterricht
Die Lehrerin hat sich Unterstützung geholt. Drei Tage lang leiten zwei
Männer den Unterricht, Shemi Shabat und Mohamed Ibrahim. Die beiden
Konfliktpädagogen haben viel Erfahrung im Umgang mit Schulklassen, in denen
der Nahostkonflikt ein virulentes Thema darstellt.
Ihre Biografien sind Teil des Themas und damit verwoben: Shabat ist
Israeli, Ibrahim ist Palästinenser. Der Deutschpalästinenser Ibrahim
erzählt von seinen ersten Begegnungen mit Israelis, von Widerständen in der
palästinensischen Gemeinschaft Berlins und von seiner Freundschaft mit
Shemi Shabat.
Für viele Schüler in der 10B ist es auch nach drei Tagen mit den beiden
schwer nachzuvollziehen, dass ein jüdischer Israeli und ein muslimischer
Palästinenser tatsächlich Freunde sein können.
Als Shabat von der irakischen Herkunft seiner Familie erzählt und davon,
dass die Muttersprache seiner Eltern Arabisch ist, ist die Klasse vollends
erstaunt. Ein Jude, der Arabisch spricht, ja sogar aus dem Irak kommt?
„Wir wollen die Schüler dort abholen, wo sie stehen“, ist das Credo der
Pädagogen.
## Vorurteile und Verunsicherung
Die Länder, aus denen ihre Eltern flüchteten, kennen viele der Schüler
kaum. Manal weiß weder aus welcher Region noch aus welcher Stadt ihre
Eltern stammen. Diese Unwissenheit teilt sie mit vielen anderen
SchülerInnen. Ihr Bild vom Nahen Osten und dem Konflikt zwischen Israelis
und Palästinensern ist diffus und von Vorurteilen, Stereotypen und
Verschwörungstheorien geprägt.
Im Kindergarten hatte sich der schlaksige, in der Klasse beliebte Mustafa
mit einem Jungen angefreundet, dessen jüdische Mutter aus Israel stammt.
„Auch wenn ich Israel manchmal dafür hasse, dass es die Situation nicht in
den Griff bekommt“ – er steht zu seinem Kumpel. Von seinen muslimischen
Freunden wird er deshalb oft kritisiert.
Für ein Aufwärmspiel teilen Shabat und Ibrahim die Klasse in drei Gruppen
ein. Während die einen beobachten, entwickelt sich zwischen den beiden
anderen Gruppen ein Kampf um die in der Klasse vorhandenen Stühle. Die
Schüler rennen durch den Raum, stoßen sich zur Seite, das Jagdfieber packt
sie. Die ersten Stühle fliegen durch den Raum; Klassenlehrerin Pux muss
Schutz suchen.
## Streit um ein paar Stühle
Als einige der Jugendlichen irgendwann merken, was hier passiert,
erschrecken sie. „Es ist verrückt, was ein paar Stühle auslösen können“,
sagt eine Schülerin. „Wir haben einfach nicht miteinander gesprochen.“ Es
wird deutlich, wie schnell Konfliktsituationen entstehen und eskalieren
können.
Der Workshop dient gleichzeitig als Folie für Probleme innerhalb der
Klasse, die im Laufe der drei Tage immer wieder aufflammen. Es geht häufig
um das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen. Die Schülerinnen fühlen sich
von manchen der pubertierenden Jungen ungerecht behandelt.
Als Manal, Mustafa und ihre Mitschüler Erwartungen an Shabat und Ibrahim
formulieren, ist der Wunsch nach einem konfliktfreien Verlauf, nach freier
Meinungsäußerung und gegenseitigem Respekt groß. Wünsche, die den
Jugendlichen in ihrem Alltag häufig verwehrt bleiben.
„Fast alle Schülerinnen und Schüler sind im Laufe ihrer Jugend mit
Gewalterfahrungen konfrontiert worden, oft auch in der eigenen Familie“,
sagt Sibylle Pux. Hier an der Schule müsse ein Lehrer auch immer als
Sozialarbeiter tätig sein, sich um traumatisierte SchülerInnen kümmern,
notfalls auch Geschwister der Jugendlichen mit auf Klassenfahrt nehmen,
wenn es im Elternhaus nicht auszuhalten ist.
## Gewaltfreier Dialog
„Mir macht das hier aber mehr Spaß, als wenn ich an einem Gymnasium in
Zehlendorf arbeiten würde. Hier sehe ich jeden Tag, dass sich etwas
verbessert“, sagt sie. Dabei geht es ihr um die einfachen Dinge, wie den
korrekten Umgang miteinander, die Bereitschaft zum gewaltfreien Dialog oder
wenn ein Schüler, dessen schulische Noten scheinbar hoffnungslos schlecht
sind, doch noch die Versetzung schafft.
Doch es kommt im Verlauf des Workshops auch zu Situationen, bei denen die
Toleranz der Workshopleiter auf eine harte Probe gestellt wird. Die
SchülerInnen sprechen über Adolf Hitler, die Vernichtung der Juden und
ihren eigenen Bezug zur deutschen historischen Schuld.
Für viele der Jugendlichen ist es schwer nachvollziehbar, wieso sie in
Deutschland mit ihrer Kritik an Israel nicht gehört werden. Oft wird
behauptet, Deutschland hätte wohl ein „schlechtes Gewissen“ und müsse
„Schadenersatz an die Juden zahlen“. Deswegen könne man nichts gegen Israel
sagen.
## Deutschlands einseitige Unterstützung
Die Wut auf die aus ihrer Sicht einseitige Unterstützung Deutschlands für
Israel lässt Manal sogar fragen: „Ist Kanzlerin Angela Merkel eigentlich
eine Jüdin?“
Klassenlehrerin Sibylle Pux fällt es in solchen Situationen sichtlich
schwer, ruhig auf ihrem Stuhl sitzen zu bleiben. Doch Shabat und Ibrahim
haben die Situation im Griff. Die Kritik der Jugendlichen an Israel und an
der Politik soll jeder äußern. Jeder darf seine Meinung sagen und soll
diese vor allem auch begründen.
Die beiden Männer fragen nach, sind interessiert. Erst wenn die
Jugendlichen ihre Gefühle offen aussprächen, könne man sie auch damit
konfrontieren, so ihre Überzeugung.
Ibrahim und Shabat berichten den Schülern von den Gräueln des
Nationalsozialismus, von Euthanasie und Versuchen an Kindern. Sie
verdeutlichen den Jugendlichen, dass beinahe alle hier im Raum in Hitlers
Rassenideologie einen minderwertigen Platz eingenommen hätten, da sie zu
einem großen Teil auch Semiten seien. Als ein Schüler fragt, warum am
S-Bahnhof Westhafen ein Denkmal für die ermordeten Juden Berlins steht, und
erfährt, dass von dort aus Tausende Juden wie Vieh in Waggons in die
Konzentrationslager abtransportiert wurden, herrscht ungläubiges Schweigen.
Es wird sehr still im Raum.
## Der Unbekannte mit der Kufiya
Doch auch über die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts
hören die Jugendlichen viel, was für sie neu ist. Sie wussten nicht, dass
es 1947 einen Teilungsplan der UN für Palästina gab, den die
palästinensische Seite abgelehnt hat. Als ein Bild des langjährigen
Palästinenserführers Jassir Arafat an die Wand projiziert wird, erkennt ihn
lediglich Mustafa.
Mohamed Ibrahim, der als staatenloser Palästinenser in den 70er Jahren
Berlin aufgewachsen und mittlerweile deutscher Staatsbürger ist, beunruhigt
diese Unkenntnis. „Wir waren damals eine hochpolitische Generation, wussten
in der palästinensischen Community genau, was in unserer Heimat los ist.
Davon ist heute leider nicht mehr viel zu sehen.“
Der Workshop und die Reaktionen der Jugendlichen auf die Angebote zeigen,
dass hier eine Generation des Informationsüberflusses, jedoch auch des
Nichtwissens sitzt. So informiert sich einige durch die YouTube-Videos auf
ihren Smartphones und bei den Erwachsenen aufgeschnappte Gesprächsfetzen
zum Verhältnis von Israel und Palästina fühlen, so wenig faktenbasiert und
historisch unterfüttert ist dieses Wissen.
## Sie fühlen sich ernst genommn
Zum Schluss des Workshops ist Mustafa den Konfliktpädagogen nicht nur für
die inhaltliche Arbeit dankbar: „Ihr habt euch dafür interessiert, wer wir
sind!“, sagt er und erntet Kopfnicken der gesamten Klasse.
Die UN-Vollversammlung einigt sich auf eine Aufteilung des Gebiets. Eine
Hälfte geht an Israel, mit der anderen Hälfte kann ein Staat Palästina
aufgebaut werden.
In der Nachbesprechung schildert die Deutschpalästinenserin Manal, dass es
ihr schwergefallen sei, Israel zu spielen. Sie habe Kompromisse machen
müssen, „sonst hätten uns die arabischen Länder wieder angegriffen“.
Mustafa, der die palästinensische Seite bei der UNO vertreten hat, fragt,
wieso man nicht einfach Israel und Palästina zusammenlegen könne. „Dann
gäbe es keinen Krieg mehr um Land, Religion oder Ehre. Ein Vorschlag, zu
dem auch Ibrahim und Shabat spontan keine Entgegnung einfällt. Klingt ja
eigentlich recht vernünftig.
4 Mar 2015
## AUTOREN
Gil Shohat
## TAGS
Antisemitismus
Wedding
Schule
Palästina
Israel
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Gaza
Israelkritik
Berlin-Neukölln
Kippa
Muslime
Synagoge
Benjamin Netanjahu
## ARTIKEL ZUM THEMA
Angriffe auf Juden: „Explosion des Hasses“
In Westeuropa ist die Anzahl der Angriffe auf Juden um fast 40 Prozent
angestiegen. Schuld daran sind vor allem der Nahostkonflikt und die
IS-Propaganda.
Ex-Palästinenserführer Arafat: Justiz schließt Vergiftung aus
Vor 11 Jahren starb Jassir Arafat in einer Pariser Klinik. Einige
vermuteten einen Giftmord mit Polonium. Experten aus Frankreich widerlegten
die These jetzt erneut.
Debatte Antisemitismus: Die Empörung ist verzerrt
Die größte Gefahr für Juden in Deutschland geht nach wie vor von Neonazis
aus. Und nicht etwa von arabischen Jugendlichen.
Angehender Rabbiner zum Kippa-Tragen: „In Neukölln kann man das“
Armin Langer lädt Josef Schuster vom Zentralrat der Juden nach
Berlin-Neukölln ein. Der hatte zuvor davor gewarnt, in sogenannten
Problemvierteln eine Kippa zu tragen.
Antisemitismus in Deutschland: „Die Ängste sind berechtigt“
Der Zentralrat der Muslime hat Verständnis für die Sorgen von Juden in
Deutschland. Jeder Angriff auf Juden sei „ein Angriff auf unsere
Gesellschaft“, so Aiman Mazyek.
Antisemitismus in Deutschland: Besser Zipfelmütze statt Kippa?
Jüdische Gläubige sollen in Vierteln mit vielen Muslimen lieber ihre Kippa
absetzen, meint der Zentralrat der Juden. 2014 stiegen antisemitische
Straftaten an.
Kolumne German Angst: Wir nennen es „Israelkritik“
Feuer auf eine Synagoge – kein Antisemitismus. Anschlag auf einen jüdischen
Supermarkt – kein Antisemitismus. Die deutsche Logik ist relativierend.
Debatte Netanjahus Aufruf: Kommt nach Israel?
Benjamin Netanjahu rief Juden aus Europa auf, nach Israel auszuwandern.
Auch wegen seiner Politik ist das Leben in Israel gefährdet wie nirgendwo
sonst.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.