# taz.de -- Debatte um „Vaterjuden“: Verschleppter Konflikt | |
> Vor 30 Jahren legte der deutsche Staat durch Einwanderungsregeln fest, | |
> wer jüdisch ist. Heute dreht sich die Debatte um Befindlichkeiten. | |
Bild: Jüdische Emigranten aus der Ukraine vor dem Grenzdurchgangslager Friedla… | |
Seit einigen Wochen geistern ein Name und ein Begriff durch die deutschen | |
Feuilletons: Max Czollek und „Vaterjude“. Anfang August hatte Autor Maxim | |
Biller dem Publizisten Max Czollek in einer [1][Zeit-Kolumne abgesprochen], | |
der Halacha nach Jude zu sein. Die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, | |
besagt nämlich, dass jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat oder zum | |
Judentum konvertiert ist. Auf Czollek trifft das nicht zu. | |
Czollek selbst wies die Vorwürfe zurück. Auf Twitter schrieb er, er habe | |
nie öffentlich oder privat behauptet, dass seine Mutter jüdisch sei. Er | |
sprach sich außerdem dafür aus, die Debatte über Pluralität im Judentum | |
weiterzuführen. | |
[2][In der Jüdischen Allgemeinen] schaltete sich kurze Zeit später der | |
Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, mit | |
einem kurzen Gastbeitrag ein. Wenig überraschend war seine Argumentation: | |
Ob man jüdisch sei oder nicht, richte sich nach den Regeln der Religion. | |
Czollek mag sich dem Judentum nahe fühlen, ein echter Jude werde er dadurch | |
trotzdem nicht. So Schusters Urteil. | |
Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, | |
widersprach [3][daraufhin auf Zeit Online]. Er forderte Pluralismus und die | |
Anerkennung „hybrider Identitäten“. Später äußerten sich Autorin Mirna … | |
[4][in der FAZ], Tuvia Tenenbom [5][im Spiegel] sowie Sasha Marianna | |
Salzmann [6][ebenfalls in der FAZ]. | |
Konservative und orthodoxe Stimmen fordern in der Debatte, sich an | |
religiöse Regeln zu halten. Progressive Stimmen wünschen sich die Inklusion | |
von sogenannten Vaterjuden, also solchen Menschen, deren Vater jüdisch ist. | |
Zudem sehen Unterstützer:innen von Czollek in der Fixierung auf seine | |
Person einen Vorwand, „um einen engagierten Befürworter einer | |
pluralistischen Gesellschaft zu diskreditieren“, wie es [7][in einer | |
aktuellen Stellungnahme] zahlreicher Personen aus der Kultur- und | |
Journalismusbranche heißt. Sasha Marianna Salzmann sieht in Czollek gar das | |
Mitglied einer Minderheit, das „weniger Sprechzeit“ in dieser Gesellschaft | |
habe und betrachtet gleichzeitig Czolleks jüdische Kritiker:innen als | |
solche, die ihm „die viele Redezeit“ neideten. Dass sich beide Punkte | |
widersprechen, geschenkt. | |
## Einwanderung aus der Sowjetunion | |
Wer sich in den vergangenen 30 Jahren mit der Geschichte der in Deutschland | |
lebenden Jüdinnen und Juden befasst hat, wird der derzeitigen | |
Auseinandersetzung etwas überdrüssig sein. Was hier anklingt, ähnelt einer | |
Diskussion, die in den 1990er Jahren in Deutschland fernab der deutschen | |
Öffentlichkeit geführt wurde. Heute zeigt sich: Wirklich weitergekommen | |
scheint in der Diskussion niemand zu sein. | |
Als ab Beginn der 1990er Jahre über 200.000 Jüdinnen und Juden und ihre | |
Familien aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland einwanderten, | |
wurde schon einmal die Frage verhandelt, wer jüdisch genug war. Die Antwort | |
darauf entschied darüber, wer einreisen durfte und wer nicht. | |
Deutsche Politiker:innen und jüdische Funktionäre, wie der damalige | |
Zentralratsvorsitzende Heinz Galinski, brachten gemeinsam die Einwanderung | |
postsowjetischer Jüdinnen und Juden auf den Weg. Für sie schaffte man einen | |
juristischen Rahmen: Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion | |
konnten [8][als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“] einreisen. | |
## Blühendes jüdisches Leben | |
Vonseiten der jüdischen Institutionen setzte man Hoffnung in die | |
Ankömmlinge. In ihnen sah man die Chance, die überalterten Gemeinden wieder | |
aufblühen zu lassen. Denn 1990 betrug die Mitgliederzahl gerade einmal | |
29.089. Nach dem Zuzug waren es bald schon wieder knapp über 100.000 | |
Mitglieder. | |
Um nur wenige Jahrzehnte nach der Shoa und den Nürnberger Gesetzen die | |
unangenehme Situation zu vermeiden, als deutscher Staat Stammbäume | |
jüdischer Menschen zu durchforsten, griff man auf die sowjetische, schon | |
vorhandene Definition zurück. Dort bestand die Vorstellung einer jüdischen | |
Nationalität, die nazionalnost, die wie andere politische Ethnien, Russe, | |
Ukrainer oder Tatare, im sowjetischen Pass unter Punkt fünf vermerkt wurde. | |
Im Gegensatz zu den Gesetzen der Halacha übertrug sich diese Nationalität | |
über den Vater. In der Sowjetunion waren vaterjüdische Identitäten also | |
gelebte Realität. | |
Postsowjetische Jüdinnen und Juden und ihre Familienmitglieder konnten | |
unter diesen Gesichtspunkten in den 1990er Jahren also rechtmäßig nach | |
Deutschland einwandern. Sie trugen maßgeblich dazu bei, dass sich | |
Deutschland bis heute damit schmücken kann, wieder zu einem „blühenden | |
jüdischen Leben“ gefunden zu haben. Sie stärkten die Positionen des | |
Zentralrats und belebten die Gemeinden, die vom Aussterben bedroht waren. | |
## Ausschluss aus der Gemeinde | |
[9][In den meisten orthodoxen Gemeinden] fanden diese Menschen nach ihrer | |
Ankunft in Deutschland allerdings keinen Platz. Über die Hälfte der | |
postsowjetischen Jüdinnen und Juden ist heute kein Mitglied in einer | |
Gemeinde – weil ihnen als Vaterjuden der Weg verwehrt blieb oder sie | |
schlicht kein Interesse hatten. Für die Einreise jüdisch genug, für die | |
Gemeinde aber nicht. | |
Was sich in den 90er Jahren beobachten ließ, war ein Zusammenprall zweier | |
unterschiedlicher Verständnisse von Jüdischkeit: Orthodox-religiöse | |
Identitätsvorstellungen stießen auf säkulare postsowjetische Jüdinnen und | |
Juden. Dass diese säkularen Juden weitestgehend assimiliert in ihren | |
Herkunftsländern gelebt hatten und wenig Wissen in Bezug auf religiöse | |
Rituale mitbrachten, wurde in Deutschland als Defizit gewertet. Bis heute | |
hält sich diese Ansicht. | |
Wo man damals die Einwanderung damit begründete, bedrohte Juden | |
aufzunehmen, steht seit 2005 explizit die weitere Existenz der jüdischen | |
Gemeinden im Zentrum. In jenem Jahr erfolgte die Reform des | |
Einwanderungsverfahrens für jüdische Zuwander:innen. Dafür starkgemacht | |
hatte sich der Zentralrat der Juden, de facto führte das zum Rückgang der | |
Zuwander:innenzahl. | |
Die Aufnahmeregeln zum [10][„Aufnahmeverfahren für jüdische Zuwanderinnen | |
und Zuwanderer“] des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sind seit | |
2005 strenger formuliert: Sie zielen darauf ab, nur noch solche Jüdinnen | |
und Juden einreisen zu lassen, die sich auch klar zur jüdischen Religion | |
bekennen. Potenzielle russisch-jüdische und meist säkulare | |
Einwander:innen müssen den Behörden eine religiös-jüdische Identität | |
vorgaukeln, um ihren Aufnahmeantrag bewilligt zu bekommen. Dass das wenig | |
sinnvoll und nachhaltig ist, dürfte klar sein. | |
## Mehrheit einer Minderheit | |
Die aktuelle Vaterjuden-Debatte ist vor diesem Hintergrund zurückgeblieben. | |
30 Jahre nach dem Beginn der Einwanderung von säkularen postsowjetischen | |
Jüdinnen und Juden fokussiert man sich lieber auf Befindlichkeiten | |
einzelner Personen, anstatt Probleme und Realitäten normaler Menschen zu | |
thematisieren. | |
Die Erfahrung russischsprachiger Jüdinnen und Juden ist eben eine | |
besondere. Sie ist geprägt durch Ausschlüsse. Einerseits als vermeintlich | |
defizitäre Juden, weil sie säkular leben, und anderseits als | |
Zuwanderer:innen, die von alteingesessenen Juden und der | |
Mehrheitsgesellschaft oftmals nur als Migrant:innen wahrgenommen wurden. | |
Im deutschen Diskurs findet diese Problemdarstellung selten Platz. Dabei | |
bilden sie, die postsowjetischen Jüdinnen und Juden, die Mehrheit einer | |
Minderheit. Sie bleiben, mal wieder, unsichtbar. | |
Dass die Fokussierung auf Max Czollek und persönliche Angriffe gegen ihn | |
daneben sind, sollte klar sein. Doch der Punkt ist: Czollek hat wenig zu | |
befürchten. Eine Person wie er, die als Publizist in der deutschen | |
Öffentlichkeit einen festen Platz hat, deren Bücher und Texte in den | |
Feuilletons positiv besprochen werden; eine Person also, die anerkannt und | |
schon jetzt gehört wird, nimmt eine privilegierte Position ein. Dagegen | |
sieht es für postsowjetische Jüdinnen und Juden, deren Identitäten seit 30 | |
Jahren Gegenstand von Beurteilungen sind, schlecht aus. | |
## Konflikt zwischen Alten und Neuen | |
Der Großteil der derzeitigen Debattenbeiträge trifft also nicht den Kern. | |
Worum es doch wirklich geht, sind nicht die angeblich verheimlichten | |
Familienverhältnisse des Publizisten Czollek, sondern ein verschleppter | |
Konflikt, der vor 30 Jahren zwischen jüdischen Institutionen und den neu | |
zugewanderten Jüdinnen und Juden entstanden ist. | |
Jahrzehnte interessierte sich kaum jemand für die Ungerechtigkeiten, die an | |
der Einwanderungspraxis für jüdische Zuwander:innen aus der ehemaligen | |
Sowjetunion hingen. Nach 30 Jahren ist es an der Zeit, genau darüber zu | |
sprechen. | |
15 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zeit.de/2021/33/max-czollek-judentum-linke-kommunismus-intellek… | |
[2] https://www.juedische-allgemeine.de/politik/nach-den-regeln-der-religion/ | |
[3] https://www.zeit.de/kultur/2021-08/judentum-alltag-maxim-biller-max-czollek… | |
[4] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/wer-sich-jude-nennen-darf-ein-gastbe… | |
[5] https://www.spiegel.de/kultur/tuvia-tenenbom-zu-max-czollek-maxim-biller-un… | |
[6] https://zeitung.faz.net/faz/feuilleton/2021-09-14/22a6e5ce942b4e3698642fa00… | |
[7] https://docs.google.com/document/d/e/2PACX-1vSTyiq9eiuQOlOk_n-9eWR0xT3bGOXU… | |
[8] /Kommentar-Renten-Kontingentfluechtlinge/!5572102 | |
[9] /Hamburgs-Reformjuden-sind-wieder-da/!5464455 | |
[10] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/MigrationAufenthalt/merkblatt-au… | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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