# taz.de -- Serie „Unorthodox“ auf Netflix: Sechs Millionen ersetzen | |
> Die Serie „Unorthodox“ erzählt von Esty, die aus einer chassidischen | |
> Sekte nach Berlin flieht. Regisseurin Maria Schrader zeigt eine sehr enge | |
> Welt. | |
Bild: Esty ohne Perücke, aber noch mit geschorenen Haaren (Shira Haas) | |
Den Sheitel hat sie ins Wasser geworfen. Wie ein nasses, lebloses Tier | |
dümpelt die Perücke neben Esty (Shira Haas) im sommerlichen Wannsee. Für | |
die junge Frau ist das ein Akt der Selbstermächtigung: Nie wieder will die | |
gerade nach Berlin gekommene Esty ihr eigenes Haar verstecken müssen, weil | |
es die Gesetze des „Zniut“, der Sittsamkeit, so verlangen. | |
Diese Szene in der [1][von Maria Schrader inszenierten] und von Anna Winger | |
geschriebenen vierteiligen Mini-Serie „Unorthodox“, die ab Donnerstag zum | |
Netflix-Angebot gehört, ist ein Schlüsselmoment in Estys Entwicklung. | |
An dem Punkt hat die aus Williamsburg, Brooklyn, stammende junge Frau schon | |
jede Menge hinter sich – und das Publikum jede Menge gelernt über die | |
Gesetze der Parallelwelt, in der Esty aufwuchs: Die chassidische | |
Gemeinschaft der „Satmar“, die 1905 von einem Rabbi namens Joel Teitelbaum | |
gegründet und nach dem Zweiten Weltkrieg in Williamsburg wieder aufgebaut | |
wurde, lebt nach ultrastrengen, orthodoxen Regeln. Sie lehnt selbst die | |
jüdische Bevölkerung Israels als „Zionisten“ ab. | |
[2][Die Schriftstellerin Deborah Feldman] verbrachte tatsächlich 24 Jahre | |
in dieser Sekte – ihr autobiografischer Roman „Unorthodox“ erschien 2012 | |
und wurde zu einem internationalen Bestseller, den streng orthodoxe Gruppen | |
sogleich anfeindeten. | |
Schrader und Winger haben ihre Adaption lose an Feldmans Buch angelehnt – | |
die Heldenreise ihrer Protagonistin Esther, genannt Esty, beginnt nicht nur | |
viel später (der Roman spielte größtenteils in den 90ern und endet mit dem | |
Wegzug der Erzählerin samt ihrem kleinen Sohn aus Williamsburg), sie setzt | |
sich auch in Berlin fort, wo Feldman heute lebt. | |
## Die englische Sprache als unrein ablehnen | |
Die beiden Szenerien unterscheiden sich dabei nicht nur zeitlich und | |
örtlich: Fast der gesamte Williamsburg-Teil wurde auf Jiddisch gedreht – | |
weil die Gemeindemitglieder die englische Sprache als unrein ablehnen. | |
Die Serie illustriert so auch auf der Sprachebene den „Schlamassel“, in dem | |
sich ein Mensch befindet, der mit einem Teil seiner Vergangenheit gebrochen | |
hat – selbst wenn der Bruch ein lebensnotwendiger Ausbruch war. | |
Schrader arrangiert die Geschichte in zwei parallele, auf unterschiedlichen | |
Zeitebenen angesiedelte Handlungsstränge: Estys Vergangenheit in | |
Williamsburg, die absurden Gesetze für Chassidinnen, ihre heimliche Liebe | |
zur „weltlichen“ Literatur und Musik, die arrangierte Ehe mit dem einen | |
„Shtreimel“ (den hohen Nerzhut der Chassiden) tragenden Yakov, genannt | |
Yanky (Amit Rahav), werden mit den Erlebnissen von Esty in Berlin | |
zusammengeschnitten. | |
## Strikt reglementiertes Dasein | |
„Die parallele Erzählung verdeutlicht Esthers Situation, die zwar in Berlin | |
angekommen ist, in Gedanken aber zwischen beiden Welten pendelt“, erklärt | |
Schrader. So schnell kann man ein solch strikt reglementiertes Dasein, eine | |
solche Gedankenkontrolle nicht abschütteln. | |
Und so erlebt man, wie Esty im verwirrenden Berlin der Gegenwart versucht, | |
Fuß zu fassen, sich mit einer Gruppe Goj-Klassikmusiker*innen anfreundet, | |
zaghaft ihren eigenen Weg entdeckt, während sich in ihrer Vergangenheit die | |
Schlinge zuzieht: „Was am Anfang ein beschützendes Zuhause ist, verwandelt | |
sich in ein Gefängnis“, nennt es Schrader. | |
Ein besonderes Augenmerk legen Serie und Roman auf die mangelnde | |
Aufklärung, die groteske Sex- und Lustfeindlichkeit der Satmar-Gemeinde. | |
Esty, die die israelische Schauspielerin Shira Haas mit einer imposanten | |
Mischung aus Trotz und Verletzlichkeit gibt, wird vor der Hochzeit von | |
ihrer Schwägerin besucht. Und kommt schon bald aus dem Staunen nicht mehr | |
heraus: „Du hast in dir drin ein Loch“, beginnt die Frau, während ihre | |
Hände ein paar ulkige Gesten vollführen, „das führt zu einem Gang, der | |
führt zu einer kleinen Tür – der Öffnung zu deinem Schoß, der Quelle alles | |
Lebens!“ | |
„Nein“, entfährt es Esty erschrocken – sie ist sicher, dieses Loch, diese | |
Tür nicht zu haben … wo soll das denn sein? Hätte sie dieses ganze Zeug | |
nicht längst fühlen müssen?! | |
## In voller Nachthemdmontur | |
Die Sexualität mit ihrem ahnungslosen, aber auf Fortpflanzung abonnierten | |
Ehemann gestaltet sich dementsprechend verkrampft und qualvoll. Dabei | |
verletzt es Esty neben der schmerzhaften Prozedur, die allabendlich (in den | |
nicht durch die Menstruation „beschmutzten“ Wochen) in voller | |
Nachthemdmontur eingeleitet wird, besonders, dass ihr Ehemann seine Familie | |
stets von den angeblichen Funktionsstörungen seiner Frau in Kenntnis setzt. | |
Denn dass es an ihr liegen muss, steht außer Frage. | |
Und dennoch schaffen es Schrader und Winger, die sich bereits in Anna | |
Wingers rasanter Kalter-Krieg-Serie „Deutschland 83“ kennenlernten, | |
jegliche Herablassung zu vermeiden. Behutsam anstatt pejorativ | |
verdeutlichen sie, woher das sture Satmar-Beharren auf den Traditionen | |
kommt. | |
„Als wir versucht haben, ihre Kleidung zu tragen und ihre Sprache zu | |
sprechen, hat Gott uns bestraft“, betet der Rabbi an einem Feiertag, „als | |
wir unseren Freunden und Nachbarn vertraut haben, hat Gott uns bestraft“. | |
Vor allem den Holocaust sieht die Sekte als logische Konsequenz für das | |
falsche Verhalten der Juden und Jüdinnen – die besonders strengen | |
orthodoxen Regeln sind die einzige Möglichkeit, weiteren Strafen zu | |
entkommen. | |
## Engmaschiges Netz aus Ritualen, Verboten und Gebeten | |
„Unsere Hauptfigur kommt aus einer Gemeinde, die sich verschließt und auch | |
unbedingt verschlossen bleiben möchte“, erklärt Schrader die Vorsicht, mit | |
der sich entsprechenden Situationen genähert wurde. „Und in unserem Team | |
von Frauen herrschte Einigkeit darüber, die Konflikte wie die Menschen von | |
mehr als einer Seite zu erzählen.“ | |
Trotz der Angst, die bei Verstößen über den Gläubigen hängt, trotz des | |
engmaschigen Netzes aus Ritualen, Verboten und Gebeten, das Esty lange Zeit | |
den gewohnten, benötigten Halt bot, ist ihre Kritikfähigkeit lebendig | |
geblieben. Doch wie tief das Denken in ihr verwurzelt ist, zeigt eine | |
Szene, in der die schwangere Esty in Berlin eine Gynäkologin aufsucht. „Es | |
gibt verschiedene Möglichkeiten“, eröffnet diese ihr, „es kommt darauf an | |
ob Sie das Kind behalten wollen …“ „Aber wir müssen doch die sechs | |
Millionen ersetzen“, platzt es aus Esty heraus. | |
Neben dem klassischen Motiv der Befreiung einer unterdrückten Seele gewährt | |
„Unorthodox“ authentischen Einblick in eine hermetische Welt, die für die | |
darin lebenden Frauen noch kleiner und enger ist als für Männer. | |
## Den Rest der Welt nicht mehr ausschließen | |
Filme wie der 2009 entstandene Coming-out-Film „Du sollst nicht lieben“ von | |
Chaim Tabakman oder das 2018 [3][unter der Regie von Joshua Z. Weinstein | |
ebenfalls auf Jiddisch gedrehte Drama „Menashe“], in dem ein | |
jüdisch-orthodoxer Witwer um das Sorgerecht für seinen Sohn kämpft, könnten | |
ein Hinweis sein, dass auch abgeschlossene Sekten wie die Satmar nicht mehr | |
lange unter sich bleiben, den Rest der Welt, egal ob man ihn als sündig | |
oder befreiend erlebt, nicht mehr ausschließen können: Dafür ist unsere | |
Welt, oh vey oh vey, schlichtweg zu global. | |
Und auch in „Unorthodox“ hat sich das moderne Leben längst zwischen die | |
Schläfenlocken gedrängt: Yankys Cousin, der einst aus der Gemeinde | |
ausgeschieden war, trägt heimlich ein Smartphone mit sich herum. Yanky ist | |
zunächst schockiert. Dann versteht er, dass man mit dem Gerät sogar das | |
berüchtigte Internet besuchen kann, und ruft „Wo ist Esty?“ ins Handy. Doch | |
neben vielen anderen Dingen wird Yanky lernen müssen, dass so ein Telefon | |
nicht alles weiß. Schon gar nicht, ob es einen Gott gibt. | |
25 Mar 2020 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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