# taz.de -- Schriftstellerin Deborah Feldman in Berlin: Das Leben ist ein Roman | |
> Deborah Feldman hat ihre chassidische Gemeinde in New York verlassen, ist | |
> Deutsche geworden und hat ein Buch geschrieben. Eine Begegnung. | |
Bild: Gut angekommen: Deborah Feldman mit Hund Paco in Berlin-Kreuzberg | |
Sie passt nicht so recht ins Straßenbild von Kreuzberg 61, zu klassisch ist | |
ihr Outfit. Das Wort damenhaft käme einem in den Sinn, signalisierte diese | |
kleine Frau im Kleid nicht einen eher undamenhaft erscheinenden, vielleicht | |
sehr amerikanischen Tatendrang, wie sie energisch mit ihrem Hündchen über | |
die Straße kommt. | |
Auch das Tier hat einen Sinn fürs Bürgerliche, bellt es doch immer, wenn | |
ihm jemand komisch vorkommt. Als wir wenig später in einem Café gegenüber | |
dem großen Friedhof in der Bergmannstraße sitzen, schlägt Paco an, wenn ein | |
Bettler auf Krücken vorbeihumpelt oder ein junger Mann zuviel Virilität | |
ausstrahlt. Bleibt aber freundlich, als Deborah einem Verkäufer der | |
Obdachlosenzeitschrift Motz eine Spende aushändigt. | |
Er sei ein Schriftstellerinnenhund, sagt Deborah Feldman. „Er hat mich im | |
Winter täglich rausgeholt.“ 1.500 Seiten hat sie im Winter geschrieben, die | |
aber auf 700 gekürzt werden mussten. Der Übersetzer hätte es sonst zeitlich | |
nicht geschafft. | |
## Auf ewig entrissen | |
Deborah Feldman ist noch keine 30 Jahre alt, hat aber eine mehr als | |
außergewöhnliche Geschichte hinter sich, die sie in ihrem Bestseller | |
„Unorthodox“ erzählt und nun in „Überbitten“ weitergeführt hat, das … | |
Kurzem im Secession Verlag erschienen ist. Deborah fühlte sich fehl am | |
Platz in ihrer Gemeinschaft im Brooklyner Stadtteil Williamsburg. | |
Die Satmarer zogen aus der Katastrophe der Vernichtung des europäischen | |
Judentums die Konsequenz, sich aus der feindlichen Welt zurückzuziehen und | |
Gottes Gebote strengstens einzuhalten. Je strenger, desto besser, um so | |
„den Sinn für Sicherheit wieder heraufzubeschwören, der ihnen auf ewig | |
entrissen worden war“, wie Feldman schreibt. | |
## Sie wollte Deutsche werden | |
Deborah wird von der geliebten Großmutter erzogen. Sie liest heimlich | |
Bücher, die sie nicht lesen soll. Sie versucht zu verstehen, wie aus der | |
Oma, „Bubby“, die dem Mädchen auf alten Fotos als mondäne, selbstbewusste | |
Frau aus Europa entgegen tritt, jene Frau werden konnte, deren größte | |
Freude ein kleiner Garten hinter dem Haus ist. Bis Bubby fatalerweise einen | |
Früchte tragenden Baum pflanzt, der bald alles andere Leben verdrängen | |
wird, aber nicht ausgerissen werden darf, weil Regeln, die ein paar Tausend | |
Jahre alt sind, es verbieten. | |
Wie unwahrscheinlich ist es, dass ein chassidisches Mädchen sich als | |
alleinerziehende Mutter in Manhattan durchschlägt, dann ihrer Faszination | |
nach Europa nachgibt, kaum am Münchener Hauptbahnhof angekommen eine Affäre | |
mit einem blonden deutschen Mann beginnt und sich nun, in der | |
Bergmannstraße sitzend, darauf freut, dass sie in einer Woche den deutschen | |
Pass bekommen wird? Deborah Feldman, deren Großmutter man 1945 aus der | |
Hölle von Bergen-Belsen auf einer Bahre herausgetragen hat, wollte Deutsche | |
werden. Jetzt hat sie es geschafft. | |
## Deutsche Kernzuverlässigkeit | |
Es ist eine unwahrscheinliche Geschichte, folgt aber einer glasklaren und | |
nachvollziehbaren Logik, wie Feldman in ihrer an keiner Stelle | |
langweiligen, weil gut geschriebenen und zugleich reflektierten, von viel | |
Lektüre geprägten Selbstbefragung zeigt. Am Ende steht die Erkenntnis: | |
Deutschland ist ein aufgeklärtes Land, in dem sich eine junge jüdische | |
Feministin wohlfühlen kann. | |
„Ich habe großes Vertrauen in die deutsche Demokratie aufbauen können. Sie | |
bietet eine Kernzuverlässigkeit an. Ich hoffe, ich werde bei dieser Meinung | |
bleiben“, sagt sie und fügt an, sie freue sich darauf, im September zum | |
ersten Mal zu wählen. Sie wolle sich intensiv mit dem deutschen Wahlsystem | |
und den Programmen der Parteien auseinandersetzen. In den USA hat sie | |
Bernie Sanders unterstützt. „Ich hätte Clinton nie gewählt.“ | |
## In der Stadt der Bücher | |
Naiv sei sie nicht, auch wenn manche ihr das vorwürfen. „Man kann | |
Antisemitismus wahrnehmen in Deutschland. Es gibt Korruption, wie überall, | |
aber trotzdem würde ich sagen, dass das System die Oberhand hat. Kann man | |
das so sagen?“ Deborah Feldman lebt seit zweieinhalb Jahren in Berlin, das | |
ihr als kosmopolitischer Hafen für Zuflucht Suchende, als Stadt der Bücher | |
und am Ende sogar als „magisches Reich“ erscheint, wo die Menschen ohne | |
Eile gehen und entspannt miteinander sprechen. | |
Feldmans Deutsch ist präzise, Jiddisch ihre Muttersprache. Sie freut sich | |
darüber, dass sie durch ihre Literatur dem Deutschen etwas geben kann. Alte | |
Wörter wie iberbetn zum Beispiel, was so viel wie um Verzeihung bitten, | |
Abbitte leisten bedeutet, das die Satmarer ständig benutzen, | |
sicherheitshalber, weil man seinem Gegenüber auf die eine oder andere Weise | |
unrecht getan haben könnte. „Überbitten“ hat Feldman noch auf Englisch | |
geschrieben, ihr nächstes Buch will sie auf Deutsch verfassen. | |
## Angst vor dem Scheitern | |
Sieben Jahre ist es her, dass sie ihren Mann und Williamsburg zusammen mit | |
ihrem Sohn verlassen hat. Was ihr in diesen sieben Jahren widerfahren ist, | |
erzählt sie nun, in ihrem neuen Buch. Ihr heimliches Studium, ein Trip | |
durch die USA, der Umzug mit dem Sohn aufs Land, die Reisen nach Spanien, | |
Frankreich und in das ungarische Dorf, aus dem ihre Familie | |
mütterlicherseits stammt. Schließlich Deutschland und seine Bewohner. In | |
diesen Reisen spiegelt sich die Suche nach ihrem Platz in der Welt, an dem | |
der Kampf gegen „die schartige Klinge der Panik“, die Angst vor dem | |
Scheitern endlich vorbei ist. | |
Jedes Jahr bildet ein großes Kapitel, das wieder unterteilt wird durch | |
Zitate aus ihren Lektüren: Ganz am Anfang ein Satz aus der Tora, dann | |
Passagen von Adrienne Rich, Aniza Yezierska, Epikur, Jean Baudrillard, | |
Czesław Miłosz, Salomon Maimon, Joseph Roth, Jean Améry und Primo Levi. | |
## Befreite Generation? | |
Zu Beginn des Gesprächs will sie wissen, ob ich beauftragt worden sei, ihr | |
Buch zu lesen? Nein, ich habe „Überbitten“ gelesen, weil mich interessiert | |
hat, wie Sie auf die Idee gekommen sind, nach Deutschland zu ziehen, of all | |
places? | |
„Sie haben sich aus freiem Willen entschieden, das Buch zu lesen?“, fragt | |
Deborah Feldman ungläubig zurück. In meinem Alter, setzt sie nach, müsste | |
ich doch der befreiten Generation angehören? Befreit ist ein interessantes | |
Wort in diesem Zusammenhang, sage ich. Ich glaube nicht, dass diese | |
Generation „befreit“ ist. „Aber diese Generation hat es aktiv versucht“, | |
gibt Deborah Feldman zurück. | |
Anstelle einer Antwort zitiere ich die Geschichte ihrer Friseurin, die sie | |
im Buch erzählt: „ ‚Ich verstehe diese Besessenheit mit Hitler gar nicht�… | |
sagte sie launenhaft, während sie einen Kamm durch mein Haar führte. ‚Das | |
ist inzwischen an einem Punkt, dass ich kotzen würde, wenn ich auch nur | |
eine weitere Werbung für ein Buch oder einen Film zum Holocaust sehen | |
müsste.‘ “ | |
## Wir machen es anders | |
Das kann man befreit nennen, aber sicher nicht im Sinne einer auch nur | |
halbwegs gelungenen intellektuellen und emotionalen Verarbeitung der | |
Vergangenheit, finde ich. Dafür ist zu viel Aggression und Ressentiment im | |
Spiel. Und zitiert Deborah Feldman in ihrem Buch nicht Primo Levi, der über | |
„Vergangenheitsbewältigung“ schrieb, das sei ein Euphemismus, den man mit | |
„Verdrehung der Vergangenheit“ ganz gut umschreiben könnte? | |
„Es ist komplizierter als das“, sagt Feldman. „Denn die Friseurin ist | |
zugleich eine Frau, die einen Flüchtling bei sich zu Hause aufgenommen hat. | |
Diese Generation ist nicht befreit im Sinne, dass sie sich nicht mehr damit | |
beschäftigen wollen, sondern insofern sie gesagt haben, das ist ein anderes | |
Deutschland, und wir sind andere Deutsche. Wir machen es anders.“ | |
## Ihre eigene Geschichte | |
Hier sieht Deborah Feldman Parallelen zu den Fragen, die sie selbst | |
umtreiben. Sie arbeitet am Entwurf eines neuen Selbst, das jüdisch ist, | |
aber nicht mehr religiös, und das die Katastrophe, die ihre Großeltern | |
heimgesucht hat, nicht mehr als Zentralperspektive für die Erzählung | |
ihrer eigenen, individuellen Geschichte begreift. | |
Diese Geschichte verwandelt sie nicht erst mittels ihrer Bücher in einen | |
Roman. In „Überbitten“ kommt Feldman immer wieder auf den Gedanken zurück, | |
dass jeder Erzählung eine spirituelle Dimension innewohnt und man das | |
eigene Leben als Erzählung begreifen kann. Es ist also gerade umgekehrt: | |
Der Roman ihres Lebens ging ihren Büchern voraus. „Das Leben ist eine | |
Geschichte, die internen Regeln folgt“, erklärt sie. „Wenn du diese Regeln | |
verstehst, kannst du Entwicklung hineinbringen. Ich habe mein Leben wie | |
eine Geschichte behandelt, die eben geschrieben wird. So habe ich mein | |
Leben nach vorn bewegt, im Glauben daran, dass es möglich ist.“ | |
## Ohne Glauben geht es nicht | |
Zu Beginn ihres Lebensromans hat sich die Schriftstellerin gefragt, wie sie | |
ohne Gott weiterleben soll. Und, frage ich nun, wie leben Sie ohne Gott? | |
„Ohne Gott kann man leben, ohne Glauben nicht“, gibt sie prompt zurück. | |
„Ich wurde dazu erzogen, Sinn im Leben zu finden, daher musste ich mir | |
einen Ersatzglauben suchen. Ohne Glauben geht es nicht. Ohne Glauben hätte | |
ich hier nicht ankommen können.“ | |
Das Schreiben der eigenen Geschichte ist für Deborah Feldman aber nicht nur | |
individuelle Sinnstiftung, sondern Merkmal unserer Zeit, notwendig | |
angesichts von Einsamkeit, Ausgrenzung und Klimakatastrophe: „Schreiben ist | |
die Erinnerung an das Menschliche, das wir verlieren.“ | |
26 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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