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# taz.de -- Autobiografie eines Journalisten: Zwei zu eins für Deutschland
> Keine Opfergeschichte: In seinem Buch „Das deutsche Krokodil“ erzählt der
> Journalist Ijoma Mangold von Fremdheit bei totaler Assimilation.
Bild: Ijoma Mangold pflegt das Dandyhafte – aber mit Bruch
Er würde vor der Studentenkneipe sitzen, gegenüber der Gethsemanekirche in
Prenzlauer Berg, hatte er gesagt, aber wo genau ist die? Lange muss nicht
gesucht werden, denn Ijoma Mangold ist von Weitem zu erkennen am
charakteristischen Scherenschnitt im Profil, an den kurzen Dreads,
kontrastiert durch einen dandyhaften Stil, der mit den Insignien
bürgerlicher Herrenmode spielt. Wenn Ijoma Mangold nicht Anzug, Hemd, gern
auch Krawatte trägt, dann zumindest ein Jackett.
Wie kam der Literaturchef der Zeit mit noch nicht mal 50 dazu, [1][ein
autobiografisches Buch] zu schreiben, in dem die Familie eine zentrale
Rolle spielt? Im Trend liegt er damit allemal. Allein in den vergangenen
Monaten erschien eine Reihe autofiktionaler Erzählungen und
Erinnerungsbücher, in die man Ijoma Mangolds „Das deutsche Krokodil“
stellen kann.
Natascha Wodin erkundete die Lebensgeschichte ihrer Mutter, einer
ukrainischen Zwangsarbeiterin. [2][Arno Frank] erinnerte sich an seinen
Vater, der ein Hochstapler war. Tom Kummer erzählte von der geliebten Frau,
die an Krebs starb. Deborah Feldman [3][berichtete über ihre Erlebnisse],
nachdem sie mit ihrem Sohn ihre ultraorthodoxe Gemeinde verließ und sich
als Deutsche neu erfand.
Obwohl der Autor seine Motive nicht offenbart, glaubt man als Leser doch
eine Idee zu haben, warum Mangold seine Geschichte aufschrieb. „Aber die
ist falsch“, schießt es aus ihm heraus. Sein Buch lade zwar dazu ein zu
glauben, es sei einem inneren Drang gefolgt. Entstanden aber sei es, weil
er während eines Sabbaticals Zeit hatte, darüber nachzudenken, wie ein
anderes, nichtjournalistisches Schreiben aussehen könnte. Nach dem Tod
seiner Mutter waren viele Erinnerungen aus seiner Kindheit zurückgekommen,
die er aufzuschreiben begann, weil sie, wie er zurecht annahm, „eine kleine
Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik“ erzählen könnten.
## Das Verlässliche ist nicht das Authentische
„Das deutsche Krokodil“ ist also das Protokoll einer Reise in die eigene
Geschichte. Die aber ist nicht ohne Hindernisse, weil „unsere
verlässlichsten Erinnerungen die am wenigsten authentischen sind. Wir haben
sie, wie das Meer den Stein schleift, allen Regeln der Erzählkunst
unterworfen“, schreibt Mangold. Gerade die besonders vertrauten
Erinnerungen sind demnach „Erinnerungen an Erinnerungen“.
Was dem Literaturchef der Habitus ist, war dem kleinen Ijoma – über den der
Autor anfangs in der dritten Person spricht, treten wir unserem frühen
Selbst doch wie einer fremden Person gegenüber – sein zweiter Vorname. Am
Telefon meldet er sich mit neun Silben, Ijoma Alexander Mangold. „Es ist
der Versuch, sein Schicksal abzuschwächen. Sein zweiter Vorname, das ist
die Hoffnung, soll die Exotik seines ersten Vornamens mildern. Wenn man es
so betrachtet, steht es eigentlich zwei zu eins für Deutschland. Aber nur,
wenn es ihm gelingt, den anderen die Existenz seines zweiten Vornamens in
Erinnerung zu rufen.“
Kinder betrachten Abweichungen von der Norm mit Unbehagen. Sie spüren, dass
Anderssein zwar als besonderer Ausweis von Individualität betrachtet werden
kann (wie man ihnen allenthalben versichtert), aber auch die Drohung
heraufbeschwört, Gegenstand von Spott und Ausschluss zu werden. Ein Wort
wie „negativ“ im Mund des anderen alarmiert den Jungen bereits, ist doch
beim Aussprechen der ersten Silbe noch nicht ausgemacht, wie die Sache
ausgehen wird. Er selbst gewöhnt sich an, beim Treffen mit Unbekannten
sofort zu sprechen, um die Frage nach der Zugehörigkeit gar nicht erst
aufkommen zu lassen.
An den Vater erinnern sein Vorname und ein schwarzes Krokodil, das im
Wohnzimmer der Familie einen Ehrenplatz erhalten hat. Vor allem aber das,
was der Junge als sein Schicksal begreift: dunkle Haut, schwarze, krause
Haare, die es kurzzuschneiden gilt. Bis er sie eines Tages wachsen lässt –
was seiner Umgebung Anlass ist, ihm mitzuteilen, nun habe er endlich die
biologische Wahrheit seiner Herkunft angenommen, die ihm selbst doch nur
ein weiterer Signifikant im Gesellschaftsspiel ist.
## Gesinnungspreuße an der Spitze der Coolheitspyramide
Das Gefühl des Andersseins wird aus einer weiteren Quelle gespeist. Ijoma
wächst bei seiner Mutter in Dossenheim bei Heidelberg auf. Der Vater, so
erinnert er es, so erzählt er seine Geschichte, hat die Familie verlassen,
als Ijoma zwei war, um nach seinem Medizinstudium für sein Dorf in Nigeria
zu arbeiten. Wer aber hat im Dossenheim der Siebziger eine alleinerziehende
Mutter, noch dazu eine, deren Wohnzimmerteppich ausgefranst ist, die
Geldsorgen hat und den unaussprechlichen Beruf der Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeutin ausübt?
Im humanistischen Gymnasium begreift der pubertierende Ijoma schnell die
Machtverhältnisse. An der Spitze der Coolheitspyramide tummeln sich Mädchen
aus reichem Elternhaus, die jeden Elitebegriff von sich weisen, um sich
ihrer eigenen Privilegien bloß nicht bewusst werden zu müssen. Ijoma ist
bald selbst ganz oben angelangt (Bildung ist tatsächlich Macht), weil er in
der Theatergruppe mitmacht, über ein beeindruckendes Reservoir an
Fremdwörtern verfügt und als interessant gilt, weil er Richard Wagner liebt
und sich als Gesinnungspreuße definiert.
In Deutschland spricht man ungern über Klassenfragen. Dass die
Privilegierten es nicht tun, liegt in der Natur der Sache. Dass die weniger
Privilegierten es nicht tun, mag damit zusammenhängen, dass die Idee der
Volksgemeinschaft noch immer nachwirkt, die erfunden wurde, um dem Sprechen
über Klassen und Schichten das Vokabular zu entziehen.
Es zeichnet Ijoma Mangolds Buch aus, dass es die sozialen Tatsachen ebenso
genau erfasst wie die Sprache und die Blicke der anderen. „Es überrascht
mich oft, wie blind viele Leute gegenüber sich selbst und ihren Privilegien
sind. Ich vermute, dass mein großes Interesse an Gesellschaftsromanen –
Proust etwa beschreibt vor allem das Finetuning von Machtverhältnissen – in
meinem eigenen Aussehen, meiner eigenen Sonderrolle begründet liegt: Es
schärft den Blick, wenn man begreift, dass man über die Klasse die Rasse
neutralisieren kann.“
## Gut aufgehoben, statt fremd
An seiner Schule hat es keine Ausländer gegeben, erzählt er. „Es gab an
meinem Heidelberger Gymnasium nur mich. Man diskriminiert nicht
Einzelmenschen, man diskriminiert die Gruppe.“ Das aber gilt nur für den
sozialen Nahbereich.
Ganz allein ist Ijoma in Heidelberg nicht. Eines Tages wird er von einem
jungen Mann angesprochen, der sich als Afrodeutscher bezeichnet. Kofi ist
Rapper bei der HipHop-Crew Advanced Chemistry, die 1992 mit dem Stück
„Fremd im eigenen Land“ bekannt wird. Der junge Ijoma fühlt sich aber nicht
gemeint: „Damals war das einfach nicht meine Erfahrung. Ich hatte mich nie
fremd im eigenen Land gefühlt, sondern immer gut aufgehoben“, erinnert er
sich im Buch.
Man könne es dem populären Genre der migrantischen Literatur zuordnen, sagt
er, zugleich falle es aus ihr heraus: „Weil es keine Opfergeschichte
erzählt, sondern die Frage stellt, was Fremdheit bei totaler Assimilation
ist. Ich wollte eine ganz individuelle Geschichte erzählen. Ich wollte
zeigen, dass es sie gibt, und dass sie sich durch die Diskurse, die sonst
im Schwange sind, nicht abbilden lässt. Mein Ehrgeiz war, ein Buch zu
schreiben, aus dem man keine These ableiten kann.“
Allein ist der junge Ijoma mit seiner Geschichte. Die bringt es mit sich,
dass er kaum etwas über seinen Vater weiß, aber viel über die
Vertreibungsgeschichte der Familie seiner Mutter erfährt. Man verlässt die
schlesische Kleinstadt, als die Rote Armee näher rückt, kehrt für kurze
Zeit zurück, flüchtet aber bald erneut vor den Schikanen der nun polnischen
Behörden ins Brandenburgische. Dort kommt die Familie in einem Schloss
derer von Ribbeck unter, die in Fontanes Gedicht verewigt sind, das Mutter
Mangold oft ihrem Sohn Ijoma vorliest.
## Das Leben als Epos und psychologischer Roman
Die Vaterlosigkeit hat unvermittelt ein Ende, als ein Brief des Vaters
eintrifft, der den Sohn nach Nigeria einlädt. Hier findet Ijoma zwar
herzliche Aufnahme, aber das Leben bleibt ihm fremd, weil es den Gesetzen
des Epos, nicht des psychologischen Romans folgt, wie Mangold nüchtern
festhält.
Das ist eine überraschende Feststellung für einen Autor, der seine Skepsis
gegenüber der Psychoanalyse und ihrer Idee der Verdrängung nicht verhehlt.
Dabei ist es einmal mehr die Aufdeckung des Verdrängten, hier durch einen
im Nachlass gefundenen Brief der Mutter an den Vater, die es Ijoma Mangold
am Ende ermöglicht, das Familiengeheimnis zu entschlüsseln.
Und was hat es mit dem „deutschen Krokodil“ auf sich? Es ist eine
Lokomotive. Ijoma bekommt sie zu Weihnachten, Baureihe 194, grün lackiert.
Sie hat so starke Motoren, dass sie lange Güterzüge selbst die Geislinger
Steige hochziehen kann.
20 Aug 2017
## LINKS
[1] http://www.zeit.de/2017/34/vater-sohn-beziehungen-versoehnung-treffen
[2] /!5425890/
[3] /!5428694/
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
Die Zeit
Familienroman
Afrodeutsche
Exil
Migration
Literatur
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