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# taz.de -- Migrationsroman von Mohsin Hamid: Eine Welt voller Türen
> Autor Mohsin Hamid verwendet in „Exit West“ märchenhafte Elemente. Er
> schickt seine Protagonisten auf eine Wanderung über die Kontinente.
Bild: Hamid auf einem Literaturfestival 2014
Es fängt an wie eine beliebige „Boy meets girl“-Geschichte. Vielleicht aus
gemütlich europäischer Perspektive nicht ganz so beliebig, denn Saeed und
Nadia, das Paar, das erst noch eins werden muss, leben in einer Stadt, die
sich auf einen Bürgerkrieg vorbereitet. In einer Stadt, wo die Sitten so
streng sind, dass die allein lebende Nadia sich angewöhnt hat, immer ein
voluminöses Ganzkörpergewand zu tragen, um Ruhe vor den Männern zu haben.
Langsam nähern die beiden sich einander an, werden irgendwann ein Paar.
Die weitere Entwicklung wird durch den Bürgerkrieg beschleunigt, der
inzwischen eingesetzt hat. Saeeds Mutter kommt ums Leben. Eine Bombe
zerstört Nadias Wohnung. Als das Leben im Krieg schließlich unerträglich
wird, beschließen Nadia und Saeed fortzugehen. Sie haben von einer Tür
gehört, durch die man nur gehen muss, um in eine andere Welt zu gelangen.
Mohsin Hamid erzählt die Geschichte von Saeeds und Nadias Migration ohne
die eigentliche Flucht. Den Weg vom unerträglichen A über das gefährliche B
ins verheißungsvolle C, das große, lebensgefährliche und vielleicht
lebensentscheidende Abenteuer des verbotenen Weges, lässt er aus. Seine
Protagonisten gehen schlicht durch „Türen“. Die erste Tür in der –
namenlosen – Heimatstadt von Nadia und Saeed befindet sich in einer
ehemaligen Zahnarztpraxis. Nachdem die Liebenden hindurchgegangen sind,
finden sie sich auf der Insel Zypern wieder, wo sie eine Weile in einem
Flüchtlingslager leben.
Doch zögern sie nicht, durch eine weitere Tür zu gehen, die sie nach London
führt. Und auch dort gibt es weitere Türen, die den Weg zu anderen Orten
eröffnen. Als Kind hat Mohsin Hamid die „Narnia“-Geschichten des britischen
Autors C. S. Lewis verschlungen. Dort gelangen die kindlichen Helden durch
einen Schrank in eine andere Welt voller märchenhafter Abenteuer. Auch die
Geschichte von Nadia und Saeed trägt Züge, die ins Märchenhafte, mitunter
auch ins Dystopische weisen. Ein leichter, flirrender Schleier des
Surrealen liegt über der gesamten Erzählung, besonders über dem
London-Kapitel.
## Lahore oder Damaskus
Das London des Romans teilt mit der realen heutigen Metropole zwar die
bekannte Stadtgeografie, ist aber vor allem Schauplatz einer zunehmend
gewalttätiger werdenden Auseinandersetzung zwischen Massen von illegalen
Einwanderern, die ganze Stadtteile besetzt halten, sowie dem immer brutaler
gegen sie vorgehenden Militär des Landes. (Eine, nebenbei gesagt, etwas
befremdliche Vision, die sich von den Angstfantasien britischer
Rechtsextremer vermutlich nicht sehr stark unterscheidet.)
Im Laufe ihrer sich in die Länge ziehenden Wanderung über die Kontinente,
mit jeder neuen Tür, die sie durchschreiten, verändern sich die Liebenden –
als Paar und als einzelne Persönlichkeiten. Während Nadia in der Fremde die
anderen Fremden entdeckt, fühlt Saeed sich von deren Andersartigkeit eher
bedroht und sucht die Gesellschaft von früheren Landsleuten – auch wenn
diese sich in einer Weise kleingeistig nach außen abschotten, die er einst
verachtet hätte. Aber bevor die Beziehung des jungen Paares an solchen
Unterschieden zu zerbrechen droht, gehen sie lieber durch die nächste Tür.
Mohsin Hamid hat keinen Roman über die derzeitige „Flüchtlingskrise“ in
Europa geschrieben. Der Autor lebt in Pakistan, einem Land, aus dem liberal
orientierte Intellektuelle schon immer gern fortmigriert sind, und hält von
dort aus Kontakt mit Freunden in aller Welt. Die fiktive Stadt, aus der
Nadia und Saeed weggehen, weil bewaffnete Ultrareligiöse einen Bürgerkrieg
entfesseln, könnte wahrscheinlich ebenso gut Lahore sein wie Damaskus. Aus
dieser Perspektive ist „Exit West“ zu sehen.
Doch es geht in diesem Roman nicht (mehr) darum, irgendwo anzukommen, sich
als Fremder in einer anderen Welt zurechtzufinden. Die Flucht der
Protagonisten hat zwar einen Ausgangsort, jedoch kein Ziel. Die Migration
an sich ist es, die die Personen formt, die ihre Paarbeziehung einerseits
befördert, andererseits beeinträchtigt. Und vielleicht ist es sogar die
merkwürdige Zwischenexistenz in der dauernden Wanderschaft, die das wahre
Wesen der Menschen stärker zutage treten lässt, als es beim Verharren an
einem Ort geschehen wäre. Aber wer weiß das schon.
Vielleicht spielt auch die Wanderschaft von Nadia und Saeed, von der Mohsin
Hamid erzählt, letztlich an ein und demselben Ort, gewissermaßen in einem
Narnia der Migration. Die Welt hinter der jeweils nächsten Tür ist nämlich
wieder nur ein Zwischenreich. Und der Mensch ist in Wahrheit ohnehin
nirgendwo zu Hause; nicht einmal zu zweit. Mohsin Hamid erzählt diese
melancholisch gefärbte Einsicht wie ein modernes Märchen, in dem die Liebe
so lange wandert, bis sie verschwindet.
25 Sep 2017
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Migration
Pakistan
Flucht
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Australien
Deutschtürken
Literatur
Kolonialismus
Die Zeit
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