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# taz.de -- US-Sklaverei-Roman in deutscher Version: Schleuser in die Freiheit
> Colson Whiteheads Roman „Underground Railroad“ folgt dem Weg von Cora aus
> der Sklaverei und erzählt vom Netzwerk der Unterstützer.
Bild: Frederick Douglass, legendärer Abolitionist und ein Verfasser von sogena…
„Das Sonderbare an Amerika war, dass Menschen Dinge waren.“ Recht bald
fällt dieser Satz in Colson Whiteheads Roman „Underground Railroad“, der
heute auf Deutsch erscheint. Und der Satz beschreibt in seiner nüchternen
Präzision auch, um was es in Whiteheads Roman geht: Die Darstellung der
entmenschlichten Dimension von US-Sklaverei und die Gewalttätigkeit ihrer
BefürworterInnen, die bis weit ins 19. Jahrhundert eine amoralische
Rechtfertigung für sadistische Gewalt und Unterdrückung aus Religion und
Philosophie herleiteten, um Menschen wie Vieh behandeln zu können.
Warum die Sklaverei in den USA, anders als in Westeuropa, so lange in Kraft
war, ist immer noch nicht restlos ergründet. Europäische Mächte verdienten
am Sklavenhandel mit, sie brauchen sich daher nicht überlegen fühlen.
Heute ist weitgehend vergessen, wie verbreitet die Sklaverei auch im Norden
der USA war. Manche mag es überraschen, dass es auch im Süden
unterschiedliche Positionen gab: Der (zurecht wegen Kriegsverbrechen im
Bürgerkrieg) umstrittene Südstaatengeneral Robert E. Lee klagte die
Sklaverei etwa 1856 „als moralisches und politisches Übel“ an, während der
Nordstaatengeneral William T. Sherman noch 1860 sagte, er wolle sie „nicht
abschaffen und modifizieren.“
Das riesige Land hatte sich mit der Sklaverei für lange Zeit arrangiert.
Die Beschäftigung mit ihrer Bedeutung für die afroamerikanische Geschichte
blieb selbst in der jüngeren Vergangenheit auf Spezialisten beschränkt.
Diese Leerstelle besetzt Colson Whitehead nun mit seinem Roman. In
„Underground Railroad“ geben bizarre Vorkommnisse – etwa Sklavenauktionen
und Bestrafungsaktionen aus nichtigen Anlässen – dem namenlosen Grauen
einen Bezugsrahmen.
## Doppelt prekäre Beziehungen
Das Buch ist aber auch Fanal dafür, welche Mühen Einzelne auf sich genommen
haben, um sich aus diesem Unrechtssystem zu befreien. Whitehead stellt die
Geschehnisse anhand der Odyssee von Cora dar, einer jungen Sklavin, die im
Georgia des 19. Jahrhunderts ihren unwürdigen Umständen entflieht; er
erzählt von ihrem Alltag als Feldsklavin, dem gefahrvollen Übertritt aus
dem Süden in die Nordstaaten, der chaotischen Flucht aus der Unterwerfung
in ein selbstbestimmtes Leben, wie sie aus dem „Social Death“ einer
Baumwollplantage zu freieren Entfaltungsmöglichkeiten kommen will, in den
liberalen Gesellschaften größerer US-Städte. Zu den großen Themen des
Romans gehört, die Geschichte von Coras Emanzipation aufzufächern und von
der Unmöglichkeit zu erzählen, dem erlittenen Unrecht jemals völlig zu
entkommen.
Coras Leben in den 1820ern und ihre Familiengeschichte hat Whitehead zu
einem packenden Plot verzahnt, der weder rührselig verkitscht noch
drastisch überzeichnet daherkommt. Verschiedene Handlungsstränge werden zu
einem grandiosen Mosaik angeordnet. Ungeschminkt, nie paternalistisch,
schildert Whitehead dies, obwohl er als Autor über eine Frau schreibt.
Gerade die Schilderungen des Dreiecks der doppelt prekären Beziehungen
schwarzer Frauen zu schwarzen und weißen Männern sind eine Stärke von
„Underground Railroad“. Man kann sich seinem erzählerischen Sog nicht
entziehen, sobald man mit der Lektüre begonnen hat.
## Die Buchstaben und die Sterne lesen
Nikolaus Stingl hat in seiner Übersetzung dankenswerter Weise auf allzu
karnevalistische Eindeutschungen von Slang verzichtet, je sachlicher der
Ton, desto mehr nimmt die Sprache den Fluss des Geschehens auf und zieht
die LeserInnen in den Bann.
Noch etwas ganz Grundsätzliches schwingt zwischen den Zeilen mit. Wir
wüssten heute wenig über die Lebensumstände von verschleppten Schwarzen,
gäbe es keine slave narratives, Berichte ehemaliger Sklaven wie Frederick
Douglass und Harriet Jacobs, die das Lesen und Schreiben im 19.
Jahrhundert beigebracht bekamen oder sich selbst beibrachten. Jene
triumphalen Zeugnisse der Selbstwerdung markieren ja überhaupt den
libertären, aus der Misere geborenen Aufbruch der afroamerikanischen
Literatur.
Auf ihrer Flucht bemerkt Cora an einer Stelle, wie ihr Vertrauter Caesar
„Sterne ebenso lesen konnte wie Buchstaben“. Der Historiker Bruce Dorsey
hat in seiner Studie „Gender and Race in the Antebellum Popular Culture“
darauf hingewiesen, dass slave narratives immer „zugleich wirklich und
imaginär“ seien.
Ein eigenes literarisches Genre. Whiteheads Roman ist natürlich kein
Tatsachenbericht, sondern Gegenwartsliteratur, sehr genau recherchiert,
wiewohl auch fantastische Einfälle einsetzend, um zur Pointe zu kommen,
aber selbstverständlich erneuert Colson Whitehead eine alte Tradition.
## Innere und äußere Unruhe
Sein Romantitel ist einem realen historischen Schleusernetzwerk entlehnt,
das Sklaven auf ihrer Flucht aus dem Süden der USA in den Norden logistisch
unterstützt hat, seine Mitglieder waren weiße Abolitionisten, aber auch
freie Schwarze und ehemalige Sklaven; sie erkundeten Fluchtrouten, sorgten
für sichere Unterkünfte und falsche Papiere, gingen aber auch nach
geglückter Flucht zurück in den Süden, um Familienangehörige und Freunde
nachzuholen, oftmals unter Lebensgefahr.
Whitehead lässt diese Underground Railroad als unterirdische Eisenbahn mit
einem verzweigten Tunnelsystem, geheimen Bahnhöfen und Stationsvorstehern
wiederauferstehen. Das fiktionale Verkehrsmittel kurbelt Action und
Geschwindigkeit der Story mit an. Unterwegssein, das hat der britische
Soziologe Paul Gilroy in seinem Werk „Black Atlantic“ herausgestellt, war
zentral für die schwarze Identitätsbildung.
Die innere und äußere Unruhe von Cora ist ebenfalls wiederkehrendes Motiv
in „Underground Railroad“, zu merken in der Fragilität der
(auseinandergerissenen) Familienbeziehungen; Frauen, Kinder und Männer
auf sich allein gestellt, das Zusammenfinden von Ersatzfamilien und
Kollektiven.
Whitehead zeichnet die Figuren mit vielen Konturen: Die Skrupellosigkeit
weißer und schwarzer Kopfgeldjäger, die im Süden und im „freien“ Norden …
Broterwerb Sklaven jagten, genauso die bourgeoise Lebensart der Southerner,
quasiaristokratischer Plantagenbesitzer, wie die Gewissensbisse und
religiös oder gesellschaftspolitisch grundierten Motive von Abolitionisten.
## Tief im kulturellen Code verwurzelt
Auch die Kommunikation von Sklaven untereinander, die, die sich mit ihrem
Dasein abgefunden hatten und die, die sich dagegen auflehnten, der
Kulturschock der aus dem Süden kommenden Sklaven im Norden, all das wird in
„Underground Railroad“ thematisiert.
Wie oft war die Rede von der „Great American Novel“, die angeblich niemand
mehr zu schreiben imstande sei, weil es zu kompliziert sei, Geschichte und
Gegenwart in eins zu setzten und zu fiktionalisieren. „Underground
Railroad“ ist nichts weniger als ein Meisterwerk, ein Roman, dessen
historische Implikationen natürlich Schatten auf heute werfen. Über die
Frage der Sklaverei und ihre wirtschaftlichen Folgen, die
Auseinandersetzung zwischen agrarischer oder industrieller Ökonomie, über
die die USA von 1861 bis 1865 in einen Bürgerkrieg gerieten.
Aktuell sei an die todbringenden Auseinandersetzungen um [1][„White
Supremacy“ und das rassistische Erbe der USA vergangene Woche in
Charlottesville, Virginia,] erinnert. Die Aufarbeitung der Vergangenheit
bleibt konfliktreich und schwierig. Das weiß auch Whitehead: In einem dem
Roman vorangestellten Interview bezeichnet er die Sklaverei als „einen
unserer fundamentalen Irrtümer; einen Fehler, der tief im kulturellen Code
verwurzelt ist“.
Sein Roman wurde in den USA mit dem renommierten Pulitzer-Preis
ausgezeichnet. Colson Whitehead, geboren 1969 in New York, wo er noch heute
lebt, trägt übrigens lange Dreadlocks, so wie die jamaikanischen
Rastafarians.
21 Aug 2017
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## AUTOREN
Julian Weber
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