Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Berlin-Konzert von LCD Soundsystem: Im Promo-Purgatorium
> Wer die New Yorker Dancepunkband LCD Soundsystem am Montag in Berlin live
> sehen wollte, musste erst durch ein Werbetribunal.
Bild: James Murphy von LCD Soundsystem am Montagabend im Funkhaus Nalepastraße…
„Sich um etwas bemühen“ – so definiert das etymologische Wörterbuch den
Eintrag „werben“. Das wäre eine wahre Untertreibung für das, was sich am
Montagabend im Funkhaus Nalepastraße im Berliner Stadtteil Oberschöneweide
zugetragen hat: ein wahres Werbetribunal.
Als stünden die letzten Stunden des Kapitalismus bevor, betrat ein
US-Moderator namens Luke Wood die Bühne und pries in einer zirka
zweistündigen Dauerwerbeschleife Kopfhörer an – das Premium-Produkt seiner
mit Apple zusammenhängenden Firma Beats By Dr. Dre. Dre war verhindert;
Wood, sein Vertreter, eine Kreuzung aus Claus Strunz und L. Ron Hubbard,
hatte viele beschwörende Power-Point-Formeln parat: „And I really mean it“,
unterstrich er immer wieder das bereits Gesagte.
Und wirklich, was er der erlauchten Zuschauerschar unter die Nase rieb, sei
„bei Weitem das sexyste Produkt, das es gibt“: ein Kopfhörerpaar, mit
Plastik ummantelt in bescheuerten Farben, das zusammen mit circa 40.000
anderen Features, „Realtime Audio Calibration“ können. Also, so ungefähr,
man sitzt auf dem Tempelhofer Feld und hört Musik, während Kim Jong Un die
Wasserstoffbombe zündet, aber kriegt es gar nicht mit, weil die Kopfhörer
Umweltgeräusche komplett rausfiltern. Der wohltemperierte Sound zum
Weltuntergang. Alter, wie geil ist das denn?
## Noch mehr Pfeile im Köcher
Eigentlich waren die Zuschauer, darunter die halbe Berliner Journaille,
Influencer, Musikindustriepeople und GewinnerInnen von Tickets, gekommen,
um das einzige Konzert der New Yorker Dancepunkband LCD Soundsystem in
Deutschland zu sehen. Das ging aber trotz anders lautender Ankündigung noch
längst nicht los. Wood hatte weitere Pfeile im Köcher. Er bat den
ehemaligen britischen Fußballnationalspieler Rio Ferdinand auf die Bühne,
als würde der nie was anderes machen als bei Kopfhörer-Promotionpurgatorien
den Einpeitscher zu geben.
Er sei schon oft im Funkhaus gewesen, behauptete Rio Ferdinand und wackelte
mit den Knien, die aus seiner zerlöcherten Designerjeans lugten. Und
erzählte dann, dass er früher, vor Spielen, immer „Fool’s Gold“ von den
Stone Roses und einen Track des britischen Grime-Rappers Kano in der
Umkleidekabine zum Heißmachen gehört habe, auf ebendiesen Kopfhörern.
Interessanter war freilich, dass Wood und Ferdinand gleichzeitig mit den
Beinen wackelten. Restless-Leg-Syndrom in rhythmischer Vollendung.
## Tochter in die Präsentation einflechten
Dann kam leider nicht Aleister Crowley auf die Bühne, um die beiden in
Ketten zu legen, sondern der britische Boxer Anthony Joshua. Und – ja ist
es denn die Möglichkeit? – auch er ein Fan der Kopfhörer, mit denen man
Wood am liebsten hätte strangulieren wollen, als er die Pubertätsprobleme
seiner Tochter als Unterthema in die Präsentation mit einflocht.
Irgendwann zeigte die große Uhr im ehemaligen Sendesaal des Funkhauses
23.20 Uhr. Es ging noch nicht los, denn Wood oblag es auch, LCD Soundsystem
anzukündigen. Zunächst sprach er aber ausführlich von den Talking Heads in
seiner Heimatstadt Rochester, Upstate New York. Diese sei wie Berlin im
Winter ohne Berlin.
Der Jubel fiel verständlicherweise matt aus, als die acht MusikerInnen von
LCD Soundsystem gegen halb zwölf schließlich auf die Bühne kamen. Die New
Yorker mühten sich redlich, drehten die Verstärker monstermäßig auf und
eröffneten mit dem Evergreen „Daft Punk is playing in my House“. Sänger
James Murphy, der von Anfang an Rosé trank, klang nicht nur wie David
Thomas von Pere Ubu, auch sein Bauchumfang war dem großen David Thomas
ebenbürtig. Und er taperte auch ähnlich wie jener legendäre Tanzbär auf der
Bühne herum.
Tight und machtvoll wie die frühen Pere Ubu war auch der Vortrag von LCD
Soundsystem. Und sehr dynamisch. Beeindruckend laut. Natürlich nicht so
Kaputt-Rock-’n’-Roll-mäßig wie einst Pere Ubu. LCD Soundsystem simulieren
diese Kaputtheit des alten Undergrounds nur und verschrauben
unterschiedlichste Stile und Sounds zu ihren eigenen – durchaus im
Mainstream bekömmlichen – Songs, ohne dass sie ihre Vorbilder komplett
verraten.
## Feedback zelebrieren
Natürlich zelebriert James Murphy den Schlag auf die Kuhglocke. Natürlich
drehen die beiden Keyboarderinnen Nancy Wang und Gavin Russom (der jetzt
eine Frau ist) an ihren Maschinen, bis es pfeift und schrillt. Natürlich
hält Gitarrist Al Doyle (sonst bei den Briten Hot Chip) die Gitarre in die
Höhe, nachdem er Riffs anspielt, und natürlich zelebriert er das Feedback.
Natürlich hat Nancy Wang „Resist“ auf den Unterbau ihres Keyboard-Ständers
eingraviert. Natürlich verneigt sich James Murphy vor Walter Becker von
Steely Dan. Der Funke will aber nicht mehr überspringen: Die
Butterfahrt-Atmosphäre hatte fast alles ruiniert.
„American Dream“, das neue Album von LCD Soundsystem, arbeitet sich auch in
mehreren Songs an den Widersprüchen des kommerziellen Erfolgs und seinen
künstlerischen Kompromissen ab. „We all know this is nothing/ This is
nowhere“, singt James Murphy in dem Song „Call the Police“, den LCD
Soundsystem in einer sehr schönen Liveversion hinkriegen, genau wie den
Titelsong. Murphy verschwindet während des Konzerts mehrmals aus der Mitte,
trinkt am Bühnenrand im Hintergrund aus dem Weinglas und wirkt dabei, als
säße er in diesem Moment gern am Stammtisch seiner Weinbar in Brooklyn.
Luke Wood hat dort Lokalverbot.
5 Sep 2017
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Konzert
Coronaleugner
Dancefloor
New York
Festival "Pop-Kultur"
Kolonialismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neues Album von Popstar M.I.A.: Die armen Sendemasten
M.I.A. ist ein Weltstar des schrillen Pop. Leider hat sie nicht erst im
Promorummel um ihr neues Album „MATA“ etwas den Bezug zur Realität
verloren.
US-Produzent Juan MacLean über Sucht: „Ich will das System niederreißen“
Houseproduzent Juan MacLean war drogenabhängig. Nun hat er in New York eine
therapeutische Einrichtung zur Suchtbehandlung mitgegründet.
Neues Album von LCD Soundsystem: Und noch ein Smash Hit
Holt die Kuhglocken raus: Das New Yorker LCD Soundsystem ist nach gefühlt
hundert Jahren zurück. Sein neues Album heißt „American Dream“.
Festival Pop-Kultur Berlin: Alle Hände in die Luft
Die antiisraelische Hetzkampagne gegen das Festival „Pop-Kultur“ hat nicht
gefruchtet. Stimmung und Darbietungen sind gelungen.
US-Sklaverei-Roman in deutscher Version: Schleuser in die Freiheit
Colson Whiteheads Roman „Underground Railroad“ folgt dem Weg von Cora aus
der Sklaverei und erzählt vom Netzwerk der Unterstützer.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.