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# taz.de -- Augenzeugenbericht der Sklaverei: Verschleppt in Ketten
> In „Barracoon“ erzählt Zora Neale Hurston das Leben des Sklaven Oluale
> Kossola. Vor zwei Jahren veröffentlicht, erscheint das Buch nun auch auf
> Deutsch.
Bild: Als Schriftstellerin bekannt, als Anthropologin bisher nicht: Zora Neale …
„Vielleicht ist unser Planet dazu da, dass wir das außerordentliche Wunder
des Lebens schätzen lernen, das selbst unser Leid umgibt.“ Die
Triggerwarnung der Schriftstellerin Alice Walker im Vorwort zu „Barracoon“
von Zora Neale Hurston klingt zwar etwas blumig. Dass dieses Werk 90 Jahre
nach seiner Fertigstellung endlich veröffentlicht ist, hat aber seine
Berechtigung, denn es zeigt exemplarisch an einem Fall die Folgen der
Sklaverei. In den USA avancierte es 2018 zum Bestseller.
Bekannt wurde Zora Neale Hurston (1891–1960) als Protagonistin der Harlem
Renaissance, einer afroamerikanischen KünstlerInnengruppe, die 1926 mit dem
Magazin Fire in Erscheinung trat. So selbstbewusst, so amoralisch hatten
afroamerikanische AutorInnen zuvor nicht geschrieben. Wie Hurston kamen
die meisten aus der gerade entstehenden Mittelklasse und konnten studieren.
Es war die erste afroamerikanische Generation, die ihre Bildungschancen
wahrnahm. In ihre Arbeiten flossen Erfahrungen des Südstaatenrassismus und
der Migration der Schwarzen in die Großstädte des Nordens ebenso ein wie
die Entbehrungen, die der Black Friday 1929 und die Große Depression mit
sich brachten.
Es spiegelte sich die Bewusstwerdung der Schwarzen als benachteiligte
US-Bürger wider, das Interesse an den Ideen des Kommunismus und die
Entdeckung von Harlem als Mekka von Schwarz und Weiß. „Wir Neger waren in
Mode“, stellte Langston Hughes, den eine Freundschaft mit Zora Neale
Hurston verband, 1928 verwundert, aber auch verbittert fest. Jazz und
Alkohol, diese Verbindung gab es zu Zeiten der Prohibition in Harlem;
profitieren vom Interesse der Weißen konnte Hurston nur flüchtig.
## Ein Manuskript gerät in Vergessenheit
Heute gehören ihre Romane zum Kanon der US-Literatur, zu Lebzeiten konnte
sich Hurston kaum mit ihren künstlerischen Beiträgen durchsetzen. Auch
„Barracoon“ geriet in Vergessenheit, obwohl das Manuskript in den 1930ern
an namhafte Verlage geschickt wurde. Hurston arbeitete damals als
Anthropologin, die Schülerin von Franz Boas war besonders an der
sogenannten Oratur, der mündlichen Dichtung, interessiert.
Sie sammelte alte Überlieferungen, forschte in den Südstaaten nach
Bluessongs und Soziolekten sowie nach Erinnerungen an die Ära der
Sklaverei. 1927 reiste sie für eine Exkursion nach Alabama, um den letzten
noch lebenden Zeitzeugen der Sklaverei aufzuspüren. Aus dem geplanten
Interview mit dem damals 86-jährigen Oluale Kossola wurden zahlreiche
Treffen: das Material für „Barracoon“.
## Vier Millionen Verschleppte
Kossola war 1859 aus dem Gebiet des heutigen Benin von schwarzen
Sklavenhändlern an die nigerianische Küste verschleppt worden und wurde in
einem barracoon (Verlies) gefangen gehalten, bis er in Ketten auf dem
Schiff „Clotilda“ in die USA verbracht wurde. Sein Schicksal teilt er mit
vier Millionen Menschen, die allein zwischen 1800 und 1860 als Opfer des
Sklavenhandels in die USA kamen. Offiziell war die Sklaverei bereits 1808
für illegal erklärt worden.
Kossolas Geschichte ist auch deshalb singulär, weil sein Drama mit den
Wirren des US-Bürgerkriegs zusammenfällt, der 1861 auch wegen der
Auseinandersetzung über die Sklaverei zwischen den Nord- und Südstaaten
ausgebrochen war. Die Sklaven der „Clotilda“ wurden 1860 heimlich an die
Küste von Mississippi gebracht und dort zunächst vom Kapitän versteckt.
Als die Geschichte aufgeflogen war, wurde er mit einer Geldbuße belegt. Die
Sklaven kamen frei, Kossola gründete zusammen mit anderen der 130
Verschleppten das Dorf African Town (heute Plateau) in Alabama. Hurston
ging nach der Methode der teilnehmenden Beobachtung vor und gewann das
Vertrauen von Kossola, der 1927 als Cudjo Lewis längst sesshaft war und auf
ein dramatisches Leben zurückblickte.
Der Prozess der Annäherung, Verständigungsschwierigkeiten zwischen der
jungen Städterin und dem alten Farmer, seine Erinnerungslücken, ihre
Sprache, seine Sprache fließen in den Bericht mit ein. Kossola spricht in
Gleichnissen, Geschichten aus der Tierwelt machen die Brutalität der
Verschleppung anschaulich.
## Arroganz der Alteingessenen
Hurston notiert, er sei ein Griot, ein Geschichtenerzähler. Hier kommt
eine weitere Ebene hinzu, Kossola schildert, wie arrogant die
alteingesessenen Afroamerikaner auf ihn geblickt hätten. Seine Erinnerungen
an die 1860er Jahre werden nicht in seiner Muttersprache Yoruba, sondern im
englischen Slang des US-Südens und 80 Jahre später von einer Frau
aufgezeichnet.
Kossolas Sehnsucht nach einem zu jener Zeit bereits untergegangenen Afrika
werden aus der ländlichen Perspektive Alabamas von einer Akademikerin
wiedergegeben. Dieses Sprachpuzzle trägt zu einer höchst spannenden Lektüre
bei.
11 May 2020
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
US-Sklaverei-Geschichte
Schwerpunkt Rassismus
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