Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Schweigen über die Kolonialgeschichte: Bilder von Zuckerinseln
> Literatur ist manchmal ein Zeugnis der Verdrängung. Unsere Autorin sucht
> nach Spuren der Sklaverei in der Karibik – in historischen Romanen.
Bild: ArbeiterInnen auf einer Zuckerrohrplantage in Jamaika, ca. 1880
Eine junge Frau kann nicht wünschen und nicht genießen – das ist das Thema
von [1][Dorothee Elmigers Romanessay „Aus der Zuckerfabrik“,] der 2020
einen Platz auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis errang. Den Grund
für ihr wunschloses Unglück erkennt die Erzählerin in dem
Schuldzusammenhang, der die Zuckerkonsumenten Europas über Jahrhunderte
hinweg mit den Sklaven auf den Zuckerplantagen der Karibik verbunden hat.
Bei Elmiger wird der karibische Rohrzucker zur Metapher für einen Zustand,
in dem das Genießen unweigerlich auf Kosten anderer geschieht.
Zucker war jahrhundertelang das Produkt mühseliger Plackerei auf
Pflanzungen des Nahen und Fernen Ostens und mithin ein Luxusartikel für
Wohlhabende, während sich die große Mehrheit – zumal in Europa – mit
Früchten und Honig zufriedengeben musste. Aber Zucker ist das Genussmittel
schlechthin: ein Stoff, der die Nahrungsaufnahme in ein Vergnügen und den
Alltag in etwas Besonderes verwandelt.
Gebäck und Desserts, konservierte Früchte, die meisten Getränke – sie
benötigen Zucker. Traditionell wird Zucker mit Liebe und Zärtlichkeit
assoziiert; unser Liebesvokabular kreist um die Vorstellung von Süße.
Kurzum: Der europäische Hunger auf Zucker ließ sich durch ein paar Rosinen
im Getreidebrei nicht stillen.
Im 18. Jahrhundert gab es Zucker plötzlich günstig zu kaufen: [2][Auf den
karibischen Inseln wurde Rohrzucker von Sklaven angebaut und in großen
Mengen nach Europa exportiert]. Es war die Sklavenarbeit, die den Zucker so
billig machte. So eng verbanden sich im Bewusstsein der Europäer die
karibischen Inseln mit der Zuckererzeugung, dass sie bald von den
„Zuckerinseln“ sprachen.
Kolonisten aus mehreren europäischen Ländern waren schon im 16. Jahrhundert
dem Seefahrer Kolumbus gefolgt und hatten die Westindischen Inseln in
Anbaugebiete für Tabak, Baumwolle, Zucker und Kaffee verwandelt. Sie nahmen
die indigenen Ureinwohner der Inseln gefangen und zwangen sie zur Arbeit
auf ihren Pflanzungen.
## Daniel Defoe und der Mythos des Kannibalen
Um sich zu rechtfertigen, zeichneten die Kolonisten von diesen Ureinwohnern
ein finsteres Bild als gewalttätige und kannibalische Menschen. Wie der
[3][Historiker Michael Zeuske] gezeigt hat, verwandelten sie dabei die
Mythen der Ureinwohner von „Canibales“ und „Caribes“ in eine Erzählung…
Wahrheitsanspruch.
Diese Erzählung zu verbreiten halfen Montaigne in seinen „Essais“ von 1580
und Shakespeare in seinem Drama „Der Sturm“ von 1611. Noch 1719 ließ Daniel
Defoe seinen Romanhelden Robinson Crusoe in der Karibik den Indigenen
Freitag vor der Tötung durch Kannibalen retten. Sowohl Shakespeares
Prospero als auch Defoes Robinson Crusoe „zivilisieren“ die Indigenen,
indem sie sie für sich arbeiten lassen: Ideologieproduktion wie aus dem
Lehrbuch.
Aber die realen Ureinwohner der Karibik starben lieber, als Zwangsarbeit zu
leisten, und durch die von den Europäern eingeschleppten Krankheiten wurden
sie weiter dezimiert. Um die immer größeren Pflanzungen mit Arbeitskräften
zu versorgen, ging die karibische Plantokratie dazu über, (männliche)
afrikanische Sklaven zu kaufen, die von Sklavenhändlern in wachsender Zahl
auf die Westindischen Inseln verschleppt wurden.
Die Plantagenbesitzer unterwarfen die Afrikaner einem brutalen
Arbeitsregime. Nach Auffassung des Historikers Robin Blackburn übertraf das
karibische Sklavensystem an Grausamkeit alle früheren und späteren Formen
der Sklaverei. Die Zuckersklaven arbeiteten regelmäßig weit über ihre
körperlichen Kräfte hinaus und waren einem zynischen Kalkül ausgesetzt, dem
zufolge es billiger war, neue Sklaven zu kaufen, als das Leben derer, die
man schon hatte, zu erhalten. Ein junger Afrikaner, der den
Schiffstransport in die Karibik überlebte (was lediglich zwei Dritteln der
menschlichen Fracht gelang), hatte auf einer Zuckerplantage des 18.
Jahrhunderts nur noch eine Lebenserwartung von 20 weiteren Jahren.
Die Strafen für zu langsam arbeitende oder sich widersetzende Sklaven waren
drakonisch und mitunter sadistisch. Peitschenhiebe und Brandmarkungen
hinterließen offene Wunden, Ohren oder Geschlechtsteile wurden
abgeschnitten und entlaufene oder aufständische Sklaven wurden bei
lebendigem Leibe verbrannt. Dennoch kam es in der Karibik immer wieder zu
Sklavenrevolten.
## Tödliches Schweigen bei Jane Austen
In den kolonialen Mutterländern wurde die Realität des Sklavensystems gerne
verleugnet oder umgedeutet. Das hinterließ Spuren auch in der Literatur: In
Jane Austens Roman „Mansfield Park“ von 1814 reist der Eigentümer Sir
Thomas Bertram nach Antigua, um sich in die Verwaltung seiner zweiten
Besitzung einzuschalten, aus der er einen Teil seiner Einkünfte bezieht.
Was genau auf Antigua geschieht, bleibt jedoch im Dunkeln.
Der [4][Kulturwissenschaftler Edward Said] hat in „Kultur und
Imperialismus“ ein wenig Licht in das Dunkel gebracht: Die zweite Besitzung
Sir Thomas’ kann nur eine Plantage sein, auf der Sklaven für den Wohlstand
in Mansfield Park schuften. Sir Thomas wird auf seiner Plantage
Arbeitsabläufe gestrafft, Aufseher ausgetauscht und Sklaven bestraft haben.
Aber als seine Nichte Fanny ihn nach dem Sklavenhandel fragt, stößt sie auf
ein „tödliches“ Schweigen. Ein Tabu scheint auf der Sklavenwirtschaft zu
liegen.
Das Unrecht der karibischen Sklaverei kann dem moralischen Urteil Sir
Thomas’ jedoch nicht völlig entgangen sein. Als er bei seiner Rückkehr das
als unschicklich geltende Theaterspiel seiner Kinder abrupt beendet,
versucht er damit wohl auch das eigene moralische Versagen auf Antigua zu
kompensieren.
Bei der Veröffentlichung von „Mansfield Park“ war der Zuckeranbau in der
Karibik bereits im Niedergang begriffen. Immer öfter kam es zu Revolten,
die Exporte brachen ein und in England gewannen die Abolitionist:innen
an Einfluss. In der französischen Zuckerkolonie Saint-Domingue war es schon
1791 zu einem Sklavenaufstand gekommen, der 1804 – nach einem Bürgerkrieg
und einem Krieg gegen französische Truppen – zur Gründung der freien
schwarzen Republik Haiti führte.
In seiner Erzählung „Die Verlobung von Santo Domingo“ (1814) bezeichnet
Heinrich von Kleist diese Revolution als eine Zeit, in der „die Schwarzen
die Weißen ermordeten“ – eine eigenwillige Zusammenfassung. Sie missachtet
den Umstand, dass im Verlauf von Revolution und Befreiungskrieg etwa
zweieinhalbmal so viele Schwarze umkamen wie Weiße, ganz abgesehen von dem
Unrecht des Kolonialkriegs, den Frankreich in Saint-Domingue führte.
In Kleists Erzählung gerät ein Schweizer Soldat in einen Hinterhalt, den
der „fürchterliche schwarze Neger“ Congo Hoango gelegt hat. Mit dieser
Figur hat Kleist das Schreckensbild vom bösen schwarzen Mann mitverbreitet
– eine paranoide Vorstellung, die aus der Weigerung der Europäer entstand,
die eigene koloniale Gewalt anzuerkennen.
## Geschichte der Befreiung
Auf der englischen Zuckerinsel Jamaika wurde 1831 der sogenannte
Weihnachtsaufstand zwar niedergeschlagen, er hatte jedoch 1834 die
Abschaffung der Sklaverei durch das britische Parlament zur Folge. In ihrem
Roman „Das lange Lied eines Lebens“ von 2010 erzählt die britische Autorin
Andrea Levy, Tochter jamaikanischer Immigrant:innen, die Geschichte dieser
Befreiung.
Levys Roman ist auch deswegen bemerkenswert, weil er die jamaikanischen
Sklav:innen bei der Verteidigung ihrer Würde und ihrer vitalen Interessen
zeigt. Immer wieder überziehen sie ihre weißen Herr:innen mit
zielsicherem Spott, sabotieren deren Vorhaben und schützen erfolgreich ihre
eigenen Freiräume.
Levy verschweigt die Brutalität der weißen Herrschaft nicht – ihre
Schilderung etwa der Hinrichtungen nach dem gescheiterten Aufstand lässt
sich nur mit angehaltenem Atem lesen –, aber sie betont den Witz, die
Vitalität und den Zusammenhalt der Sklav:innen. Ihre lebenskräftigen
Romanfiguren sind weit entfernt von der gepflegten Melancholie in Elmigers
Romanessay.
Als Metapher für schuldbeladenes Genießen funktioniert die karibische
Zuckerplantage nicht mehr: Zucker wird heute maschinell und überwiegend aus
Zuckerrüben gewonnen. Aber der üppige Konsum im globalen Norden der
Gegenwart ist inzwischen in andere Schuldzusammenhänge verstrickt.
4 Aug 2021
## LINKS
[1] /Roman-von-Autorin-Dorothee-Elmiger/!5711712
[2] /Kuratorin-Tafari-Ama-ueber-Sklaverei/!5416099
[3] /250-Jahre-Alexander-von-Humboldt/!5625776
[4] /Antisemitismus-in-der-Linken/!5781586
## AUTOREN
Renate Kraft
## TAGS
Literatur
Roman
Kolonialismus
Sklaverei
Zucker
Jamaika
Literatur
Theater
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
US-Sklaverei-Geschichte
US-Sklaverei-Geschichte
Literatur
Karibik
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neues Buch von Kate Zambreno: Requiem für ein unscheinbares Leben
Kate Zambreno denkt über ihre Mutter nach, die eine alltägliche
Vorortexistenz führte. Schreibend tastet sich die Autorin durch die
Erinnerungen.
Abschied von Peter Brook: Rendezvous mit der Geschichte
Peter Brook ist legendär in der Theaterwelt. Seine letzte Inszenierung
„Tempest Project“ war zu Gast bei den Ruhrfestspielen.
Roman von Nils Minkmar: Jeden Sonntag ein Huhn im Topf
Nils Minkmar hat mit großer Detailfreude „Montaignes Katze“ geschrieben.
Der historische Roman zeigt die Einigung eines zerrissenen Landes.
Reparationen für US-Sklaverei: Versöhnung ist nie verkehrt
Kann man das Unrecht der Sklaverei wiedergutmachen? In den USA nimmt eine
weiße Farmerin die Sache selbst in die Hand – und wird bedroht.
Augenzeugenbericht der Sklaverei: Verschleppt in Ketten
In „Barracoon“ erzählt Zora Neale Hurston das Leben des Sklaven Oluale
Kossola. Vor zwei Jahren veröffentlicht, erscheint das Buch nun auch auf
Deutsch.
Esi Edugyans Roman „Washington Black“: Flucht im Wolkenkutter
Brutales Thema, leichter Ton: Ein Sklave entkommt auf ungewöhnliche Weise
aus Barbados. Jetzt ist „Washington Black“ auf Deutsch erschienen.
Antilleninsel Guadeloupe: Feilschen um ein Foto der Schönen
Die Karibik ist im Trend, Guadeloupe ist längst in. Von klugen Marktfrauen
und einem großartigen Museum zur Aufarbeitung der Sklaverei.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.