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# taz.de -- Reparationen für US-Sklaverei: Versöhnung ist nie verkehrt
> Kann man das Unrecht der Sklaverei wiedergutmachen? In den USA nimmt eine
> weiße Farmerin die Sache selbst in die Hand – und wird bedroht.
Bild: Die Sklavenliste von Stacies Ranch
Dirt Town Valley, Georgia taz | Stacie Marshall lebt ein Leben, das viele
Großstädter als Idylle bezeichnen würden. Auf ihrer Farm im US-Bundesstaat
Georgia liegt der Geruch von Heu in der Luft. Hinter einem Gatter wiehert
ein Pferd, auf der dahinterliegenden Wiese dösen Kühe und Ziegen. Stacie
Marshall, 41 Jahre alt, Cowboyhut und Westernstiefel, füttert die Hühner.
Dann greift sie zu einem Eimer, bugsiert die Milchkuh in eine Box und fängt
an zu melken. „So geht das jeden Tag“, sagt die Farmerin und lacht. „Ich
stehe um sechs Uhr auf, was für Bauern schon richtig spät ist.“
Wenn Marshall ihre Tiere versorgt und zusammen mit ihrem Beagle durch den
Kuhmist stapft, wirkt sie glücklich. Wäre da nicht diese eine Sache, die
seit Jahren an ihr nagt: die Vergangenheit ihrer Familie. „Als meine erste
Tochter zur Welt kam, hatte ich Probleme mit dem Stillen“, erinnert sich
Marshall. Ihr Großvater habe sie daraufhin trösten wollen. „Er sagte mir,
dass das in der Familie liegt. Schon meine Urururgroßmutter hatte nicht
genug Muttermilch produziert.“ Die damals praktikable Lösung: Man kaufte
Hester, eine Sklavin zum Stillen der Kinder.
[1][„Ich war schockiert“, sagt Marshall,] denn über Sklaverei war bei ihr
zu Hause zuvor nie gesprochen worden, so wie in vielen weißen
amerikanischen Familien. Direkt betroffen fühlte sie sich trotzdem lange
Zeit nicht: Zwar kommt sie ursprünglich vom Land, arbeitete aber jahrelang
als Grundschullehrerin in der Großstadt Atlanta. Erst als sie 2019 die Farm
ihrer Eltern übernahm, zog sie zurück ins ländliche Georgia – in eine
Gegend voller Traktoren, Pick-up-Trucks und Trump-Schildern im Vorgarten.
Beim Aufräumen stieß sie auf ein altes Sklavenregister der Gemeinde. Ihre
Familie besaß sieben Sklaven: drei Erwachsene und vier Kinder. „Ich konnte
das nicht einfach ignorieren“, sagt Marshall. Sie fühlt sich schuldig und
stellt sich fortan eine Frage, die nicht nur sie, sondern die gesamte
Nation umtreibt: Kann man das Unrecht der Vergangenheit wiedergutmachen?
Seit Jahren debattieren Politikerinnen und Politiker über diese Frage. Und
Stacie Marshall, die weiße Farmerin aus Georgia, war plötzlich mittendrin.
## Ein akademisches Thema
Reparationen für African Americans? In der Vergangenheit war das in den USA
allenfalls ein akademisches, theoretisches Thema. Doch der Fall George
Floyd – der Schwarze, der unter dem Knie eines Polizisten erstickte – hat
eine neue Dynamik in Gang gebracht. Bei Black-Lives-Matter-Protesten geht
es nicht mehr nur um Polizeigewalt und Alltagsrassismus. Immer öfter
bringen die Protestierenden auch eine finanzielle Kompensation für die
Nachfahren von Sklaven ins Spiel.
Schwarze werden in den USA nicht nur öfter verhaftet, inhaftiert und von
der Polizei erschossen. Auch wirtschaftlich stehen die meisten deutlich
schlechter da. Während der Pandemie sind im Verhältnis deutlich mehr
African Americans an Covid-19 gestorben als weiße US-Amerikaner. Um die
Missstände zu ändern, haben erste Städte und Bundesstaaten nun
Arbeitskreise für Reparationen eingerichtet. Geld fließt dadurch trotzdem
erst einmal nicht. Es geht zunächst um die Frage nach dem Wie.
Im Zweiten Weltkrieg wurden in den USA über 120.000 japanisch-stämmige
Amerikaner in Lagern interniert, weil ihnen Sympathien für den Feind
unterstellt wurden. Sie erhielten vom Staat später eine Entschädigung von
rund 20.000 Dollar. Rechnet man diese Summe auf heutige Verhältnisse hoch,
müsste man African Americans mindestens 100.000 Dollar zugestehen. So kämen
schnell Trillionen von Dollar zusammen. Ist diese Summe angemessen? Wer
sollte sie bezahlen? Und was ist mit Native Americans, von denen ebenfalls
viele unter den Folgen der Vertreibung leiden?
Stacie Marshall, die Farmerin aus Georgia, will zunächst im Kleinen helfen.
Ihr erstes Ziel: die Nachfahren „ihrer“ ehemaligen Sklaven ausfindig
machen, um sie zu entschädigen. Wie genau, weiß sie nicht. Mit einer
Entschuldigung? Mit Geld? Mit einem Teil ihres Landes, das sie
bewirtschaften könnten?
## Im Sklavenregister
Schon die Namenssuche stellte sich als nahezu unlösbar heraus. „Im
Sklavenregister sind nur Nummern verzeichnet“, erklärt die 41-Jährige.
Hester – die Schwarze Frau, die ihre Urahnen stillte – taucht namentlich
nicht auf.
Als Nächstes sprach Marshall mit ihren Nachbarn. Doch die meisten Weißen im
Dorf wollen von ihrem Engagement nichts hören. „Viele hier haben selbst
nicht viel. Denen brauche ich nicht mit weißen Privilegien zu kommen.“
Auf dem Friedhof sind die Soldatengräber aus dem amerikanischen Bürgerkrieg
(1861–1865) mit Südstaatenfahnen dekoriert. „Diese Leute haben für die
Beibehaltung der Sklaverei gekämpft“, sagt Marshall. „Aber die Leute
glorifizieren die Vergangenheit noch immer.“ Direkt neben den geschmückten
Gräbern liegen blanke, ungeschliffene Steine: kein Name, kein Datum, keine
Fahne. „Hier wurden die Sklaven neben ihren Besitzern begraben“, sagt
Marshall.
Melvin Mosley, der Schwarze Pfarrer im Dorf, riet ihr, sich auf das Gute zu
konzentrieren. Also lud Marshall im Frühjahr 2020 eine Gruppe von
Studierenden auf ihren Hof ein. „Der Mord an George Floyd war gerade einmal
zwei Wochen her“, sagt die Farmerin. „Die meisten Leute haben danach in den
sozialen Medien diskutiert, ohne sich je persönlich zu sehen. Das wollte
ich ändern.“
## Wirtschaftliche Not
Zusammen mit Mosley und anderen Schwarzen Nachbarn besuchte sie den
Friedhof und eine zusammengefallene Holzhütte auf dem Bauernhof. Dort lebte
bis vor einigen Jahren der Schwarze Schulbusfahrer des Dorfs. Die Sklaverei
ist schon lange vorbei, die wirtschaftliche Not bei vielen African
Americans aber geblieben.
Inzwischen hat Stacie Marshall drei „Racial Reconciliation Workshops“ auf
ihrer Farm gegeben. Zwischen Kuhstall und Kinderbetreuung bewirbt sie sich
um Fördergelder, um die alte Behausung als Freilichtmuseum herzurichten.
Ihr Mann, ein Psychotherapeut, und ihr pensionierter Vater unterstützten
sie nach Kräften. Doch in der erweiterten Familie haben sich einige von ihr
entfremdet. „Ein Cousin schickte mir eine Mail und schrieb, man solle mich
lynchen“, sagt Marshall. Die fröhliche Farmerin ringt nun mit den Tränen.
Unterdessen scheint sich in den USA ein neuer Trend zu etablieren. Seit dem
Mord an George Floyd überweisen weiße Amerikaner zunehmend Geld an Schwarze
– per Bezahl-App. US-Medien berichten, dass Wildfremde manchmal 20,
manchmal 50, manchmal sogar mehrere Hundert Dollar spenden. Eine Art
Reparation im Kleinen. Doch solche Zuwendungen sind umstritten. Manche
Aktivistinnen und Aktivisten werfen den Spendern vor, ihr schlechtes
Gewissen reinwaschen zu wollen. Andere wollen kein Mitleid. Black Lives
Matter wiederum ruft auf seiner Website zu Spenden auf. So komme das Geld
immer dort an, wo es gerade am nötigsten gebraucht werde.
„Staatliche Reparationen sind nahezu unmöglich“, glaubt Melvin Mosley, der
Schwarze Pfarrer, der Stacie Marshall bei ihrem Unterfangen unterstützt.
„Wo sollte man da anfangen? Wie sollte man so tiefe Wunden heilen?“ Den
individuellen Weg, den die weiße Farmerin aus Georgia beschreitet, hält er
für zielführender als eine bestimmte Summe Geld. „Es geht darum, was wir
heute tun können“, sagt Mosley. „Liebe und Versöhnung zu verbreiten, ist
nie verkehrt.“
Und Stacie Marshall? Sie will auch in Zukunft ihre Workshops anbieten, um
für Verständigung zwischen Schwarz und Weiß zu sorgen. Einen kleinen Erfolg
hat sie errungen. Mithilfe von Bekannten, die sich stundenlang durch
Sklavenregister, Ahnentafeln, Geburts- und Sterbeurkunden wühlten, hat sie
herausgefunden, wer die Nachfahrin der ehemaligen Sklavin Hester ist. Es
handelt sich um Betty Mosley, die Frau des Pfarrers.
5 Oct 2022
## LINKS
[1] https://www.nytimes.com/2021/07/04/dining/georgia-farm-slaves.html
## AUTOREN
Steve Przybilla
## TAGS
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