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# taz.de -- Instagram-Projekt „equiano.stories“: Sklaven als Influencer
> Das Instagram-Projekt bringt die historische Gewalt der Sklaverei in die
> sozialen Medien. Doch die historische Aufklärung gelingt ihm dort nicht.
Bild: Sklaverei-Experience mit Selfie: Equiano-Stories
Elends-Clickbaiting ist unglaublich beliebt. Das zeigen Accounts wie
„ichbinsophiescholl“ und „eva.stories“, die aus dem Geschichtsunterricht
bekannte Gräueltaten als visuelle Tagebücher neu aufgelegt haben, um die
Schrecken des Zweiten Weltkriegs aus Sicht seiner Leidtragenden zu
schildern. Im Februar kam eine weitere Produktion auf den Markt, die ein
historisches Opfer als zeitgenössischen Influencer in Szene setzt. Und wie
die beiden eingangs genannten zeichnet sich auch diese nicht gerade durch
Subtilität aus: Mit dem Anspruch, historische Tatsachen in leinwandreifer
Manier darzustellen, präsentiert „equiano.stories“ dem Instagram- und
TikTok-Publikum ein anderes sehr düsteres Kapitel der Geschichte.
Das Social-Media-Projekt wurde vom DuSable Museum Of African American
History in Chicago in Auftrag gegeben und vom Filmstudio Stelo Stories
entwickelt, die auch „eva.stories“ verantworten und somit ein Vorreiter auf
dem Gebiet sind. Es verfolgt ein ganz ähnliches Gedankenexperiment: Was
wäre, wenn ein afrikanisches Kind, das vor gut 300 Jahren in die
Versklavung verkauft wurde, alles verloren hat, es ihm aber irgendwie doch
gelingt, sich verzweifelt an ein Handy zu klammern und damit Verbrechen
gegen die Menschlichkeit online zu dokumentieren?
Seit der Veröffentlichung anlässlich des Black History Month zählt das
Projekt bislang hunderttausend Follower_innen auf Instagram und fast fünf
Millionen Likes auf TikTok. Es basiert auf den Schriften und der Biografie
von Olaudah Equiano, einem Intellektuellen, der Mitte des 18. Jahrhunderts
als kleiner Junge aus seiner Heimat Igboland im heutigen Nigeria
verschleppt wurde. Später erkaufte er sich seine Freiheit und setzte sich
öffentlichkeitswirksam für die Abschaffung des Sklavenhandels in
Großbritannien ein.
Doch diese einzigartige Lebensgeschichte ist nicht alleiniger Grund für die
Entstehung von „equiano.stories“. Als die Mitbegründerin von Stelo Stories,
[1][Maya Kochavi, in einem Interview] ihr Interesse bekundet, eine
Sklavereigeschichte in interaktiver Manier zu erzählen, sagt sie, es habe
sich wie eine „sehr organische Entwicklung“ angefühlt, nach dem
Holocaust-Debüt jenen Stoff zu bearbeiten. Das Studio habe festgestellt,
wie sehr diese Geschichte „die junge Generation fesselt“, die ihr zufolge
„etwas möchte, das sich echt anfühlt“. Ebenso findet Perri Irmer,
Präsidentin und CEO des DuSable-Museums, dass das Projekt „[2][einen
Paradigmenwechsel herbeiführen wird, wie Geschichte dargestellt, konsumiert
und verstanden wird]“.
## Erinnerungskultur als kommerzielles Projekt
Es geht nicht darum, ob Instagram und TikTok als Bildungsplattformen
grundsätzlich ungeeignet sind. Das Potenzial, pädagogisch wertvoll oder
empathiefördernd zu sein, hat schließlich jede Form von Kommunikation. Die
Frage ist eher, ob Projekte der Erinnerungskultur wie „equiano.stories“ auf
monetarisierten, kommerziellen Social Media Plattformen überhaupt primär
ihrem eigentlichen Zweck der Aufklärung und Bildung dienen können. Was in
diesem eingeschränkten Erzählmodus tatsächlich gelernt werden kann, bleibt
fragwürdig, wenn die fördernden Institutionen sich der Erinnerungskultur
verschreiben, aber historische Sorgfalt zugunsten effekthaschender Filter
vernachlässigen.
Laut d[3][em Onlineportal Israeli Innovation New]s wurden mehrere Millionen
von Dollar ausgegeben, um den potenziellen Zuschauer_innen eine
authentische Sklaverei-Experience zu bieten. Auf Grundlage von Equianos
eigenen Schriften wurden ein Igbo-Dorf und ein Sklavenschiff nachgebaut und
transgenerationale Traumata zu mundgerechten Clips kondensiert. Der
vornehmlich aus der Perspektive des jungen Equiano gedrehte Film beginnt
mit seinem Leben in seinem Heimatdorf und endet mit der Ankunft jenes
Schiffs an der Küste, an der er festgehalten wird.
Die Produktion fand vor drei Jahren in Südafrika statt und beinhaltete
Hunderte afrikanische Statist_innen in Ketten nebst einer Handvoll weißer
Schauspieler_innen in vergangenheitsgemäßer Marinekostümierung. Trotz
offensichtlicher rassismusbedingter Spannungen spricht die interkulturelle
Beraterin des Projekts, Yvonne Mbanefo, davon, dass die Dreherfahrung auf
dem Set hochemotional gewesen sei, aber gleichzeitig eine, „bei der die
Hautfarbe keine Rolle spielte“, weil alle „bloß wollten, dass diese Sache
funktioniert“.
Im Gegensatz zu den Opfern des Nationalsozialsozialismus Sophie Scholl und
Eva Heyman hat Equiano die menschenverachtenden Verbrechen überlebt, die
ihm in seiner Jugend angetan wurden, und kämpfte den Rest seines Lebens
unermüdlich für die Überwindung dieser unterdrückerischen Machtstrukturen.
## Versklavung aus Sicht eines unschuldigen Kindes
Dennoch zieht „equiano.stories“ es vor, Versklavung aus Sicht eines
unschuldigen Kindes statt eines erwachsenen Revolutionärs darzustellen. Das
ist ein Klischee. Auch muss jugendliche Naivität mal wieder als Erklärung
herhalten, dass die verabscheuungswürdige Gewalt, die nun mal zur
Geschichte der Sklaverei gehört, nicht zu sehen ist. Dieselben Projekte,
die sich auf die Fahnen schreiben, über Gewalt aufzuklären, infantilisieren
somit ihren eigenen Daseinszweck. Sich die Frage nach institutionellen und
ökonomischen Gründen der Gewalt zu stellen, ist eben eine unfotogene
Angelegenheit.
Die pädagogischen Grenzen von „equiano.stories“ werden dabei durch die
Geschäftsbedingungen von TikTok und Instagram diktiert. Grausame
Einzelheiten aus Equianos Lebensrealität werden also nicht ausgespart, weil
sie keinen Mehrwert hätten, sondern weil sie den Bestimmungen der
Social-Media-Plattformen zuwiderlaufen. Obwohl „equiano.stories“ seinem
Publikum gelegentlich externe Links zur Verfügung stellt, die eine (wenn
auch dürftige) geschichtliche Einordnung ermöglichen, bleiben diese nicht
mehr als Fußnoten des größeren emotionalen Narrativs.
Um das Lehrstück über Toleranz und Akzeptanz eines fremden Volkes zu
popularisieren, wurden zahlreiche politische Nuancen und kulturelle
Eigenheiten der Igbo auf das absolute Mindestmaß beschränkt. Um nur ein
Beispiel zu nennen, das der historischen Faktenlage widerspricht: Die
Sprache der Kolonisierenden wird in „equiano.stories“ wie
selbstverständlich auch von den Kolonisierten gesprochen. Der Versuch, den
Marginalisierten eine Stimme zu verleihen, beraubt sie somit ihrer Stimme.
Der „Andere“ muss einem also erst nähergebracht werden, bevor seine
Gleichberechtigung gefordert werden kann.
Der Entwickler Stelo Stories ist dabei ein fragwürdiger Erzähler von
Equianos Geschichte. Laut Berichterstattung israelischer Medien wie
Ha’aretz verdankt Geschäftsmann [4][Mati Kochavi, der das Studio mit seinen
Töchtern gegründet ha]t, sein Vermögen unter anderem Deals in der
Sicherheitsbranche zu Zeiten des US-amerikanischen „War on Terror“.
## Die Umwandlung von Schmerz in Kapital
Zu Kochavis vielen unternehmerischen Errungenschaften gehören auch [5][der
Verkauf von Spionageflugzeugen an autoritäre Regime wie die Vereinigten
Arabischen Emirate]. Vermögen, das durch die potenzielle Verletzung von
Menschenrechten angehäuft wurde, wird hier also moralisch reingewaschen
mithilfe von menschenrechtelnden Projekten wie „eva.stories“ und
„equiano.stories“.
Die Umwandlung von Schmerz in Kapital ist ein bedauernswertes, aber
naturgemäßes Symptom einer Erinnerungskultur, die darauf spezialisiert ist,
menschliches Leid als kontemporäres Spektakel zu vermarkten. Unterdrückung
und Verfolgung werden dabei auf die Zeitfenster beschränkt, in denen sie
stattfinden. Dabei sind sie das Resultat von Ursachen, die in der
Vergangenheit liegen und zukünftige Konsequenzen mit sich bringen. Leid,
das nur in Form eines Abenteuerfilms begreifbar ist, bleibt Entertainment.
Wenn der „Andere“ nur akzeptiert wird, wenn er ansprechend ist, wenn er
idealisiert oder idolisiert wird, wird seine Menschlichkeit zweitrangig.
Was zählt, ist dann nur seine schillernde Persönlichkeit.
Social-Media-Nutzer_innen neigen dazu, passive Anteilnahme mit aktiver
Beteiligung zu verwechseln. Doch Zuschauen und Gedenken allein können nicht
als politische Handlung gelten, höchstens als Motivation, um politisch
aktiv zu werden. Hinter den Filtern dieser Art des Gedenkens als
Unterhaltung verbirgt sich eine schlichte Wahrheit: Es ist
erfolgversprechender, historische Gräuel der Vergangenheit zuzuordnen, als
sie in der Gegenwart politisch einzuordnen.
Aus dem Englischen von Temye Tesfu
13 Apr 2022
## LINKS
[1] https://www.haaretz.com/israel-news/.premium.MAGAZINE-after-the-holocaust-n…
[2] https://chicagocrusader.com/chicago/true-story-of-18th-century-life-in-afri…
[3] https://nocamels.com/2022/02/instagram-stelo-stories-equiano-slavery/
[4] https://www.haaretz.com/israel-news/.premium-the-father-and-daughter-team-w…
[5] https://www.haaretz.com/middle-east-news/.premium-israel-businessman-uae-sp…
## AUTOREN
Ido Nahari
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