| # taz.de -- Debatte über Fotos aus Butscha: Krieg ist nicht erträglich | |
| > Wie viel Grauen Medien aus dem Ukraine-Krieg zeigen sollen, ist | |
| > umstritten. Doch die Gewalt des Krieges zu verschleiern, darf keine | |
| > Option sein. | |
| Bild: Ein Journalist auf einem zerstörten Fahrzeug in Butscha | |
| Seit vergangenem Sonntag kann man den grausamen Bildern nicht mehr | |
| entkommen. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Butscha, einem | |
| Vorort von Kiew, [1][wurde ein Massaker sichtbar]. Die Leichen Hunderter | |
| Ukrainer*innnen wurden auf den Straßen, in Kellern und in Vorgärten | |
| entdeckt. In der „Tagesschau“ wird am Abend ein Video des ukrainischen | |
| Verteidigungsministeriums gezeigt: Autos fahren Slalom auf Butschas | |
| Straßen, um keine der Leichen am Straßenrand zu überfahren. Es folgen Fotos | |
| internationaler Nachrichtenagenturen, die getötete Menschen mit gefesselten | |
| Händen zeigen, neben ihnen liegen ihre Fahrräder oder Einkaufstaschen. Die | |
| Gesichter der Leichen sind verpixelt. | |
| Der Beitrag dauert nur wenige Minuten, beim Zuschauen verkrampft sich alles | |
| in der Bauchgegend, man muss gegen den Drang ankämpfen, sich die Hände vor | |
| das Gesicht zu schlagen. Dabei sind die gezeigten Aufnahmen fast | |
| zurückhaltend im Vergleich zu dem, was sich an diesem Abend in anderen | |
| Medien finden lässt. International werden Nahaufnahmen von Gesichtern der | |
| Leichen, abgetrennte Gliedmaßen oder ein Soldat mit einem getöteten Baby in | |
| den Händen gezeigt. | |
| Die deutsche Presse geht unterschiedlich mit den Bildern um: mal aus der | |
| Ferne, mal verpixelt, mal in Frontalansicht. Auch auf Plattformen wie | |
| Instagram, Twitter, Reddit oder Facebook wurden unzählbare Fotos und Videos | |
| aus Butscha geteilt. Ähnlich präsent wie die Fotos war an diesem Abend in | |
| den sozialen Medien nur die Warnung: Zeigt keine Bilder der Opfer! | |
| Denn wie viel Leid und Elend man aus einem Krieg zeigen soll, was den | |
| Opfern gerecht wird und wie viel man dem Publikum zumuten kann, darüber | |
| gibt es in Deutschland eine medien-ethische Debatte, die nicht erst seit | |
| dem russischen Massaker in Butscha existiert. Anfang März diskutierte die | |
| deutsche Öffentlichkeit über das Foto der Pulitzer-Preisträgerin Lynsey | |
| Addario, das [2][auf der Titelseite der New York Times] erschien. Darauf zu | |
| sehen war eine vierköpfige Familie, die auf der Flucht Opfer eines | |
| russischen Artillerieangriffs wurde. Und auch bei früheren Aufnahmen, die | |
| heute als ikonisch gelten, gab es Debatten: Etwa beim [3][Foto des | |
| dreijährigen syrischen Alan Kurdi], dessen Leiche 2015 am Strand angespült | |
| wurde. | |
| ## Es ist wichtig, Bilder zu zeigen | |
| Die Motivation der Warnenden mag ehrenwert sein, sie argumentieren mit der | |
| Würde und den Persönlichkeitsrechten der Opfer. Oder sie weisen daraufhin, | |
| dass die Bilder zu grausam sein könnten, dass die Menschen verschrecken | |
| oder abstumpfen könnten. Kriegsbilder sind furchtbar. Doch es ist wichtig, | |
| sie zu zeigen. Und zwar aus mehreren Gründen: zur Dokumentation des | |
| Kriegsgeschehens und um die Weltbevölkerung zu informieren. Sie können | |
| wichtiges Beweismittel für Ermittlungsbehörden oder den internationalen | |
| Strafgerichtshof in Den Haag sein und sie können dafür sorgen, dass niemand | |
| mehr weggucken kann. | |
| Denn Bilder funktionieren anders als Text: Sie berühren uns sofort | |
| emotional und hindern uns am Vergessen. Bilder haben die Macht, Kriege zu | |
| verändern, weil sie Kriegsparteien oder andere Beteiligte beeinflussen | |
| können. Und natürlich haben die Kriegsparteien ein Interesse daran, welche | |
| Bilder um die Welt gehen. Deswegen geht mit der Veröffentlichung von | |
| Kriegsfotografien eine Verantwortung einher. | |
| ## Wie wäre die Situation ohne Bilder? | |
| Eine der Kritiker*innen der Praxis, Bilder wie die aus Butscha | |
| weiterzuverbreiten, ist die Medienethikerin Claudia Paganini. Sie sagt | |
| [4][im Interview mit der Süddeutschen Zeitung,] dass Medien diese Bilder | |
| zeigen würden, um höhere Klickzahlen zu generieren. „Schockierende Bilder“ | |
| brauche man heute nicht mehr. Denn, so erklärt sie: „Wir haben in Europa | |
| einen Konsens, dass Krieg negativ ist.“ Als Alternative schlägt sie vor: | |
| „Bilder, die Empathie auslösen und positive Gefühle wecken.“ Doch es ist | |
| nicht die Aufgabe von Journalismus, mit Kriegsbildern „positive Gefühle“ zu | |
| wecken. Im Gegenteil: Journalismus soll dokumentieren und uns das Grausame | |
| erklären, das Hunderte Kilometer entfernt von uns stattfindet. | |
| Russland führt einen Krieg, [5][der auf Desinformationen basiert]. So gibt | |
| es, obwohl Dutzende Journalist*innen in Butscha berichtet und | |
| fotografiert haben, die Vorwürfe, die Ukraine habe den Fall nur inszeniert. | |
| Und es gibt Menschen, die das glauben. Wie wäre die Situation, wenn es | |
| nicht einmal die Bilder gäbe? | |
| ## Die Würde der Menschen bleibt gewahrt | |
| In der Debatte, was angemessen ist, kommt immer wieder das Argument der | |
| Würde der Opfer auf. Doch die Würde wird den Menschen nicht durch die Fotos | |
| genommen, sondern durch die sexualisierte Gewalt, durch die Schändung und | |
| Ermordung. Bilder machen nicht schlimmer, was passiert ist, sie machen es | |
| sichtbar. Viele Angehörige, so auch im Fall der getöteten Familie, die von | |
| Addario fotografiert wurde, befürworten es, wenn Bilder verbreitet werden. | |
| Sie möchten, dass die Weltöffentlichkeit von den Verbrechen erfährt, die | |
| ihren Liebsten angetan wurden. | |
| Doch der Deutsche Presserat hat zugleich natürlich Recht, wenn er zu einem | |
| sorgsamen Umgang mit den Fotos aufruft. Denn es kann nicht sein, dass es | |
| heißt: je grausamer, desto wirkungsvoller. Gewalt, die stattfindet, darf | |
| nicht verschleiert werden. Es ist also ein Balanceakt, und es ist eine | |
| journalistische Aufgabe zu entscheiden, was zu zeigen ist und was nicht. | |
| Wichtig ist neben der Verifizierung der Bilder, dass die Motivation klar | |
| ist: nämlich die Dokumentation und Aufklärung. | |
| ## Auf Fotos verzichten ist keine Alternative | |
| Deswegen ist es auch ein Unterschied, ob sie in sozialen Medien geteilt | |
| werden oder durch journalistische Berichterstattung eingeordnet und mit der | |
| nötigen Hintergrundinformation versehen sind. Die Forderung, ganz auf diese | |
| Bilder zu verzichten, geht mit dem Wunsch einher, die Situation für uns | |
| erträglicher zu machen. Doch Krieg ist nicht erträglich. Und so darf es | |
| auch hier vor Ort nicht dargestellt werden. | |
| Natürlich kann man auch mal Pause vom Nachrichtengeschehen machen. Und es | |
| spricht auch nichts gegen Warnhinweise oder dagegen, dass Bilder erst nach | |
| einer Zustimmung angezeigt werden – gerade für jüngere Menschen kann das | |
| hilfreich sein und auch um Menschen mit Kriegs- und Fluchterfahrung vor | |
| einer Retraumaisierung zu schützen. Doch ganz auf die Fotos zu verzichten, | |
| kann keine Alternative sein. Die Grausamkeiten des Krieges dürfen nicht | |
| verschleiert werden – auch, wenn es schwer anzusehen ist. | |
| 8 Apr 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nach-dem-Massaker-in-Butscha/!5843396 | |
| [2] https://www.nytimes.com/2022/03/07/opinion/letters/ukraine-russia-war.html | |
| [3] /Grossbritanniens-Fluechtlingspolitik/!5226687 | |
| [4] https://www.sueddeutsche.de/medien/claudia-paganini-tote-menschen-zeigen-bi… | |
| [5] /Fake-Video-ueber-vermeintliche-Toetung/!5840206 | |
| ## AUTOREN | |
| Carolina Schwarz | |
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