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# taz.de -- Russischer Truppenabzug aus Tschernihiw: Wenn Antonina wieder tanzt
> Tschernihiw liegt von Russland aus auf dem Weg nach Kiew und wurde
> wochenlang erfolglos belagert. Nun ist Ruhe eingekehrt. Oder eher:
> Totenstille.
Bild: Vor dem zerstörten Hotel Ukraina in Tschernihiw am 6. April
Tschernihiw taz | Vor einer Woche gab es zwischen Kiew und Tschernihiw
keine Verkehrsverbindung mehr. Zwei Hauptstraßen waren blockiert und
Brücken gesprengt. Nun, da die russischen Truppen aus dem Gebiet
Tschernihiw abgezogen sind, ist eine dieser Straßen endlich wieder
befahrbar, wenn auch nur über eine Pontonbrücke. Und obwohl diese Stelle
nur schwer passierbar ist, ist die Strecke schon wieder sehr belebt, der
Verkehr staut sich. Die einen haben es eilig, Tschernihiw und die
angrenzenden Orte endlich zu verlassen. Die anderen fahren in die
Gegenrichtung, um Lebensmittel, Wasser und Medikamente für die zu bringen,
die ihre Heimatstadt nicht verlassen wollen.
[1][Tschernihiw], eine Stadt mit fast 300.000 Einwohnern, etwa 150
Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew gelegen, war einen
Monat belagert und von der Außenwelt abgeschnitten. Die russische Armee hat
versucht, die Stadt zu erobern, hat sie mit schwerer Artillerie und Raketen
beschossen, Bomben aus der Luft abgeworfen. Hunderte von Gebäuden in der
Stadt und der Umgebung sind zerstört. Auf den Feldern um Tschernihiw, die
langsam grün werden, kann man viele nicht explodierte russische Raketen
sehen, die wie Fremdkörper aus der Erde ragen.
Einrichtungen der zivilen Infrastruktur wurden regelmäßig beschossen,
darunter auch Krankenhäuser. Nach den Worten des Leiters der Verwaltung des
Gebietes Tschernihiw, Wjatscheslaw Tschaus, gibt es in der ganzen Region
kein einziges unzerstörtes Krankenhaus. Im städtischen Krankenhaus von
Tschernihiw gibt es seit Anfang März weder Strom und Wasser noch Heizung.
An den kritischsten Tagen mussten die Ärzte Patienten im Keller im Licht
von Handy-Taschenlampen operieren.
„Die ersten drei Tage waren die schwierigsten. Manchmal kamen auf einen
Schlag fünfzig bis sechzig Leute mit schweren Schussverletzungen“, erzählt
der medizinische Leiter des Krankenhauses, Waleri Tschobitko. Derweil lag
das Krankenhaus selbst unter Beschuss: „Wir haben Holzplatten vor Türen und
Fenster gestellt, damit Kugeln und Granatsplitter nicht in die Räume
gelangen konnten. Die Generatoren fielen aus, aber trotzdem haben wir unter
diesen schwierigen Bedingungen weiter operiert. Den Leuten zu helfen war
für uns das Wichtigste.“
Die 60-jährige Antonina Budnik ist eine der Patientinnen, die Glück hatten.
Zumindest teilweise: Nach einer Schussverletzung musste ihr das Bein bis
über dem Knie abgenommen werden, sie hat einige Finger verloren und ihr
rechtes Auge. Im Krankenhaus wird Antonina liebevoll „unsere Optimistin“
genannt. Schon vom ersten Gesprächsmoment an wird klar, warum. Auf die
Frage, was ihr passiert sei, richtet sich Antonina energisch im Bett auf,
schiebt die Decke zur Seite und sagt: „Sehen Sie selbst. Ich habe ein Bein
verloren.“ Und trotz dem, was ihr passiert ist, erzählt sie mit fröhlicher
Stimme ihre Geschichte. Als der Beschuss der Stadt begann, ging sie
zusammen mit ihrer alten, kranken Mutter in den Keller hinunter. „Als die
Tür zuging, explodierte etwas. Es war, als hätte mich ein Schlag getroffen.
Als die Soldaten mich dann später rausgetragen haben, habe ich Witze
gemacht. Ich habe zu ihnen gesagt: ‚Jungs, ich bin dick, aber jetzt bin ich
ein bisschen leichter‘“, sagt Antonina und lacht.
## Splitter im Körper
Vor dem Krieg hat sie als Hausmeisterin gearbeitet. Sie hat vier Kinder und
drei Enkel. Sie sagt, dass sie in der ganzen Zeit nur ein einziges Mal
geweint habe. Und zwar, als sie drei Tage nach dem Beschuss ihre Kinder
angerufen habe, die bis dahin nicht wussten, wo ihre Mutter war, um ihnen
zu erzählen, dass sie am Leben sei. „Wenn ich aus dem Krankenhaus komme,
sehe ich meine Stadt wieder, und unsere Ukraine wird schöner werden als
zuvor“, sagt die Frau und fügt hinzu: „Und am Tag des Sieges werde ich
tanzen!“
Einer der Chirurgen zeigt ein paar Dutzend kleiner Päckchen, auf denen
Namen von Patienten stehen. Darin befinden sich die Splitter, die sie den
Menschen während der Operationen aus dem Körper geholt haben. Es gibt große
und kleine, rostige und sehr spitze. „Und das ist von einer Streubombe“,
sagt der Arzt und zeigt eins der Pakete mit dem Namen Chruscht.
Der Patient Taras Chruscht ist immer noch hier im Krankenhaus. Der Mann hat
Verletzungen an Hals und Oberkörper, auch seine Lunge war betroffen. „Das
ist am 17. März passiert. Ich war auf einer Straße im Zentrum unterwegs,
als ich unter Beschuss geriet. Aber ich hatte Glück, dass man mich sofort
ins Krankenhaus gebracht hat. An dem Tag wurden aus unserem Stadtteil
Frauen und Kinder evakuiert, nur eine Stunde später begann der Beschuss.
Hinterher habe ich erfahren, dass es Streubomben waren“, erzählt der Mann.
Er weiß nicht genau, wie viele Menschen dabei ums Leben kamen, aber ein
Bekannter von ihm habe durchs Fenster gesehen, dass hinterher um die
fünfzehn Menschen auf der Erde lagen und sich nicht mehr bewegt haben.
Die Ärzte im Krankenhaus sagen, dass Menschen mit Schussverletzungen bei
ihnen eingeliefert wurden, die einfach zufällig die Straße entlanggegangen
waren oder für Brot oder Wasser angestanden hatten. „Sie haben absichtlich
auf Menschenansammlungen gezielt“, erklärt Krankenhausleiter Waleri
Tschobitko.
## Eine surreale Szene
Im Lauf des März sind einige Dörfer in der Region komplett vom Erdboden
verschwunden, in Tschernihiw selbst fielen mehrgeschossige Wohnhäuser
russischen Bomben zum Opfer. Neben einem dieser zum Teil verbrannten Blocks
gräbt eine Frau gerade die Beete neben einer Hecke um. „Jetzt ist dafür
genau die richtige Zeit“, erklärt sie diese surreal anmutende Szene:
Inmitten totaler Zerstörung steht eine Frau und lockert die Erde auf.
Die 67-jährige Nadeshda hat ihr ganzes Leben in diesem nun zerstörten Haus
verbracht. Ihre Wohnung ist heil geblieben, aber sie kann dort nicht
hinein, weil die darüberliegenden Etagen eingestürzt sind und die
heruntergefallenen Platten den Hauseingang blockieren. „Ich weine Tag und
Nacht. Ich will wieder nach Hause. Jetzt wohne ich schon seit Wochen bei
fremden Leuten, die mich aufgenommen haben. So viel Schreckliches habe ich
noch nie erlebt. Das alles ist nachts um vier Uhr passiert. Nur mit Glück
haben wir es noch im Nachthemd auf die Straße geschafft. An diesem Morgen
sind meine Haare grau geworden“, sagt sie, nimmt ihre Mütze ab und zeigt
ihre weißen Haare.
Um mit dem Weinen aufzuhören, während sie von ihrem Unglück erzählt, wendet
sich die Frau wieder ihrer Arbeit zu und sagt: „Das ist mein Garten, hier
habe ich vor drei Jahren sechzig verschiedene Rosenarten gepflanzt. Sie
müssen in diesem Jahr blühen, trotz alledem.“
Doch auch die sinnlosesten und grausamsten [2][Bombardements] von
Tschernihiw und seiner Umgebung konnten den Geist der Einwohner nicht
brechen. Das erzählen hier alle. „Tschernihiw war die Festung auf dem Weg
der Russen nach Kiew“, erzählt der Rentner Wassili überzeugt, während er in
der Schlange nach Wasser ansteht. Noch immer ist die Wasserversorgung ein
Problem.
Das Hotel Ukraina im Stadtzentrum von Tschernihiw war immer ein Wahrzeichen
der Stadt. Am 12. März nachts um drei hat die russische Armee eine Bombe
darauf geworfen. Es wurde vollständig zerstört. „Das Hotel Ukraina gibt es
nicht mehr – aber die Ukraine“, kommentierte der Gebietschef von
Tschernihiw, Wjatscheslaw Tschaus. Und ergänzt, dass sich laut russischer
Propaganda angeblich ausländische Söldner in dem Hotel aufgehalten hätten,
die an der Seite der Ukrainer kämpfen wollten.
In Wirklichkeit gab es dort weder Kämpfer noch andere Menschen, weshalb
auch niemand zu Schaden kam. Tschaus kann die genaue Zahl der Opfer unter
der städtischen Bevölkerung noch nicht nennen, nach vorläufigen Schätzungen
geht er von bislang dreihundert Toten und mehr als tausend verwundeten
Zivilisten in der gesamten Region Tschernihiw aus. „Ich kann nicht genau
sagen, warum wir noch nicht angefangen haben, die Wohnhäuser zu
durchsuchen. Aber ich schätze, wenn wir anfangen, die Trümmer wegzuräumen,
werden wir noch viele weitere Leichen finden“ sagt er.
Tschaus ist davon überzeugt, dass die russische Armee auch im Gebiet
Tschernihiw [3][Kriegsverbrechen begangen hat, wie sie jetzt schon aus
Butscha und anderen Städten im Großraum Kiew] bekannt wurden. „Das weiß ich
genau. Am stärksten haben die Dörfer und kleinen Städte in unserer Region
gelitten. Dort waren russische Soldaten und Kriegsgerät. Direkt auf den
Höfen der Menschen. Sie haben die Bewohner aus den Häusern vertrieben und
sich selbst dort einquartiert. Die Menschen mussten in den Kellern leben.
Einige Fälle von Folter und gewaltsamen Tötungen von Zivilisten wurden
bereits registriert“, so Tschaus.
Weil während der Blockade alle Kommunikationsverbindungen zwischen den
einzelnen Siedlungen unterbrochen waren, wurde die Dokumentation von
Kriegsverbrechen erst nach dem Abzug der russischen Truppen aus dem Gebiet
möglich. Und obwohl seit einigen Tagen in Tschernihiw und dem umliegenden
Gebiet absolute Ruhe herrscht, ist der Krieg hier noch nicht vorbei.
Mehrmals am Tag heulen die Alarmsirenen, und die Leute müssen wieder in die
Keller.
Und doch sind die Menschen in der Region zuversichtlich, dass die
russischen Truppen nach einer so vernichtenden Niederlage wie hier vor
Tschernihiw nicht noch einmal zurückkommen werden.
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
8 Apr 2022
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Tschernihiw
[2] https://www.dw.com/de/beginn-einer-humanit%C3%A4ren-katastrophe-augenzeugen…
[3] /Massaker-in-Butscha/!5843277
[4] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Anastasia Magasowa
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