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# taz.de -- Vom Kriegsalltag in Tschernihiw: Glücksspiel Leben
> Die Kinder ahmen eine Sirene nach, die Freundin hat nicht mal die Fenster
> abgeklebt. Eindrücke aus dem Krieg in der belagerten Stadt Tschernihiw.
Bild: Das alte Bibliotheksgebäude der Stadt Tschernihiw – zerstört von russ…
Tschernihiw taz | Seit zweiundzwanzig Tagen trage ich denselben roten
Pullover, den mir eine Freundin aus der Region Iwano-Frankiwsk gegeben hat.
In der Nacht, die wir nach unserer Flucht aus Tschernihiw in Schaschkiw
(südlich von Kiew, Anm. d. Red.) verbracht haben, zogen die Kinder ihre
Socken aus, ohne dass sie jemand darum gebeten hatte. Das war am 13. März,
gegen 23 Uhr. Zwölf Stunden zuvor hatten wir Tschernihiw endgültig
verlassen.
Die Kinder gehören zu meiner Freundin Vita*. Nach all den Wochen, die wir
gemeinsam in Tschernihiw verbracht haben, kann ich sie wohl als meine
Freundin bezeichnen. Vitas Kinder, zwei kleine Jungs, mögen es nicht, in
Socken zu schlafen.
Jede Nacht haben wir Decken auf dem Boden in der Nähe des Kellers
ausgebreitet und uns zum Schlafen aneinandergekuschelt, um nicht zu
frieren. In der letzten Nacht spendete der Heizkörper schon keine Wärme
mehr, da die Heizung mit Wasser arbeitet, welches es seit Tagen nicht mehr
gab. Genauso wenig wie Licht und ein funktionierendes Mobilfunknetz. Doch
nicht davon wurde mir schwer ums Herz. Was mich wirklich bedrückte: wenn
die Katzen nachts den Krug mit unseren Wasservorräten umstießen. Ich wäre
fast in Tränen ausgebrochen.
Wenn wir also in einem Knäuel auf dem Boden in den Schlaf dämmerten, wurde
den Kindern warm und sie begannen damit, ein Kleidungsstück nach dem
anderen loszuwerden.
Jedoch kann jeden Augenblick ein Bomber über dem Haus auftauchen.
Schlaftrunkene Kinder müssen dann schnell in den Keller gebracht werden.
Falls im Haus ein Feuer ausbricht, müssen wir sie auf die Straße scheuchen.
Und dann tragen sie keine Socken.
## Ein fremder Hof
[1][Am 3. März warfen die Russen acht Bomben über einem Wohngebiet im
Tschernihiw ab.] Mehrere Häuser wurden vollständig zerstört, in zwei
Hälften gerissen, ausgebrannt. Den ganzen Tag wurden Menschen aus den
Trümmern geborgen. Viele der Getöteten hielten sich außerhalb ihrer Häuser
auf. Die Apotheken und Geschäfte hatten gerade ihre Türen geöffnet – und
die Menschen reihten sich in die Warteschlange ein.
Bald darauf nahmen die Russen Menschen in Warteschlangen immer häufiger
unter Beschuss. Das Geschäft, bei dem ich oft mit meinem Mann
vorbeischaute, wenn wir den Hund ausführten, haben sie mit
Mehrfachraketenwerfern vom Typ „Grad“ beschossen. Dutzende Menschen, die
auf Brot gewartet haben, sind dabei ums Leben gekommen. Am Tag darauf
beschossen sie die Warteschlange der Menschen, die Wasser kaufen wollte.
Wir konnten nicht mehr nach Hause fahren. Ein Bombensplitter war ins
Gebäude eingeschlagen. Das Hochhaus steht am Rande der Stadt – aus jener
Richtung versuchten sie, in die Stadt einzudringen.
Bereits in den ersten Stunden, nachdem wir die Tür hinter unseren Büchern,
Pflanzen, Gemälden – unserem gesamten Besitz – abgeschlossen hatten, fanden
wir uns damit ab, dass unser Zuhause nicht mehr existieren würde. Das
Korallenhalsband, das mir mein Mann am Vortag geschenkt hatte; die
Fotoalben unserer Großmütter, die wir digitalisieren wollten; nichts davon
nahm ich mit.
Am Tag darauf verabschiedete ich mich in einem fremden Hof von meinem Mann.
Auf den Schultern trug er einen Rucksack, darin Essen für den ersten Tag,
eine Schüssel und ein Löffel aus Metall, etwas Warmes zum Anziehen. Mit den
Fingern schnipsten wir kurz die Zigarettenasche weg. Allmählich
verschmolzen die Umrisse meines Mannes mit der morgendlichen Straße.
Zuletzt verschwand der rosa Fleck seiner Isomatte, die am Rucksack hing.
Innerhalb von acht Jahren ist dies der zweite Mann in meinem Leben, den ich
in den Krieg verabschiede. Mein Vater war der erste.
## Särge
Die Stadt benötigt Verbandszeug, Treibstoff, Generatoren, OP-Stirnleuchten,
Chlor und Zimmerleute, um den städtischen Arbeitern bei der Anfertigung von
Särgen zu helfen. Der Stadtfriedhof von Tschernihiw liegt am Stadtrand und
steht unter Dauerbeschuss, so kann eine Beerdigung viele weitere nach sich
ziehen. Eine Zeit lang haben einige Hundert Menschen im Keller der
Friedhofskirche Zuflucht gesucht, bis die Kirche schließlich in Flammen
aufging. Die Überlebenden wurden mit Bussen vom Friedhof evakuiert.
Nun werden die Menschen in grobgezimmerten Särgen beerdigt; das Holz für
die Bretter kommt aus dem städtischen Waldpark. Von Kiefern und Birken, die
vor einem halben Jahrhundert hier gepflanzt wurden. Jahrelang haben die
Einwohner von Tschernihiw mit dem Stadtrat um diesen Waldpark gerungen und
ihn vor einer Bebauung geschützt. Die Menschen wollten den Park, die Stadt
wollte ein Hotel und ein Café. Jetzt heben sie am Stadtrand, neben dem
alten Stadtfriedhof, der schon lange nicht mehr genutzt wird, langgezogene
Gräben aus.
## Wasser
Die Kinder ahmen eine Sirene nach und laden sich gegenseitig in den Keller
ein. Dabei verbringen sie sowieso die meiste Zeit dort. Vita und ich
bleiben im Haus. Es ist aus Holz. Wir haben beide Angst davor, dass es
Feuer fängt und einstürzt. Also beobachten wir den Himmel, damit jemand die
Kinder in Sicherheit bringen kann.
Solange es Wasser gab, hat Vita ständig Sachen gewaschen. Solange es hell
war, habe ich gesaugt und so den Sand entfernt, den wir tagsüber in unseren
Schuhen aus dem Keller mitbrachten. Fast übertönten der Staubsauger und die
Waschmaschine die Explosionen, die Einschläge auf den Dächern, selbst die
Flugzeuge.
Viele in der Stadt haben weder Wasser noch Licht, doch die städtischen
Arbeiter beheben unter Beschuss so viele Schäden, wie sie können. Diese
Menschen sterben, während sie versuchen, mir zumindest einen Hauch von
Normalität zu ermöglichen. Eines Nachts beschossen die Russen ein Pumpwerk.
Dabei wurden ein Wachmann, ein Werkarbeiter und mehrere seiner
Familienmitglieder getötet.
Man sagt, der Arbeiter hieß Anatoliy, Spitzname Tolik. Er war etwa fünfzig
Jahre alt. Einer der Bewohner Tschernihiws, die gerade die Stadt
verteidigen, sagte, er kenne ihn seit einigen Tagen. Bei seinem Weg zur
Arbeit im städtischen Wasserversorgungsunternehmen kam Anatoliy an dessen
Stellung vorbei und erklärte voller Stolz, dass er die Stadt mit Wasser
versorge.
Als wir noch Wasser hatten, hatte ich Angst, unter die Dusche zu steigen.
Ich schämte mich, möglicherweise nackt zu sterben. Meine Tante, die etwas
älter ist als ich, wusch sich, so gut es eben ging, den Kopf. Sie hatte
Angst vor Läusen – und davor, mit schmutzigen Haaren vor Gottes Gericht zu
treten.
## Flugzeuge
Alle haben Angst vor Flugzeugen. Meist kommen sie in der Nacht. [2][In der
Nacht zum 5. März rauschte ein russisches Flugzeug über uns hinweg und warf
irgendwo in der Nähe eine Bombe ab], kurz darauf schoss eine Feuersäule in
den Himmel. Wir haben die Sirenen nicht gehört und dachten zuerst, es wäre
einer von unseren Fliegern.
„Nicht unserer! Geh wieder ins Bett!“
Freunde von uns, die zwanzig Kilometer entfernt in einem Dorf leben,
beschrieben ein helles Leuchten über Tschernihiw. Die Leute dachten, die
Russen hätten die Stadt in Brand gesteckt. Als es ruhiger wurde, gingen wir
hinaus auf den Hof. Die Tür zum überdachten Anbau öffneten wir mit
zitternder Hand.
Die ganze Nacht über ging ich nach draußen, um nachzusehen, ob das Feuer
nicht bereits zu uns vorgedrungen war. Zu diesem Zeitpunkt brannten bereits
die Häuser in der Umgebung. Die letzten sechs Sirenen habe ich verschlafen.
Am Morgen wurde einer der Flieger abgeschossen, der Pilot gefangen
genommen, und der Tag verlief ruhig. Bei seiner Landung auf einem Hof
tötete der Pilot einen Einheimischen.
Die Russen versuchen, Tschernihiw einzukreisen, allmählich ist die Stadt
von Ruinen umgeben, die sich bis ins Stadtzentrum ausbreiten. Und selbst
dort, in den Ruinen, bleiben viele unserer Bekannten. Meist sind es ältere
Verwandte, die zum dritten Mal ein Fenster oder ihr Dach flicken.
Man redet darüber, dass man es vorziehen würde, wenn „es“ in der Nacht und
ohne Schmerzen passiert. Ich ebenfalls.
## Äpfel
Der 6. März war einer der ruhigsten Tage. Wir brachten die Ruhe mit dem
kürzlich abgeschossenen Flugzeug in Verbindung. Die Arbeiter der
städtischen Betriebe luden Müll auf ihre Fahrzeuge. Ich stieg auf mein
Fahrrad und fuhr durch die Stadt in ein benachbartes Viertel zu einer
Freundin. Ständig explodierte es irgendwo, doch die Leute schienen es nicht
zu hören.
Manche standen Schlange, manche waren – beladen mit Taschen – ebenfalls mit
dem Rad unterwegs. Obwohl andere Menschen vor einigen Tagen genau auf diese
Weise gestorben waren.
Unter Sirenengeheul kam ich an. Ich trat in die Wohnung. Meine Freundin hat
nicht einmal die Fenster abgeklebt. Sie geht immer noch zum Rauchen auf den
Balkon. Unser Leben ist zu einem täglichen Glücksspiel geworden.
Meine Freundin überreichte mir sechs Äpfel für die Kinder.
Ich machte mich auf den Weg, nachdem die Sirenen verstummt waren. Zu beiden
Seiten der Straße parkten Kleinbusse. Von dort aus begannen zwei Männer
damit, Kisten mit Gemüse und Obst herauszutragen. Von überall strömten
Menschen herbei, die man eine Minute zuvor noch nicht auf der Straße
gesehen hatte.
## Erneute Luftschläge
In der Nacht auf den 7. März saßen Vita und ich unter dem überdachten
Anbau. Zuerst hörten wir eine Maschinengewehrsalve, dann wurden Geschosse
abgefeuert. Aus irgendeinem Grund beschlossen wir, auf den Hof zu gehen, um
zu hören, wie nah die Geräusche waren. Dann pfiff etwas in großer
Entfernung über unsere Köpfe hinweg, vermutlich eine Mine. Das nächste
Geschoss flog direkt über uns und wir spürten die Einschläge hinter dem
Haus. Nach einer Minute gingen im Haus die Lichter aus. Nach einer weiteren
Minute war der Handyempfang weg. Irgendwas flog über das Haus, und erneut
krachte es ganz in der Nähe. Wieder pfiff es, gefolgt von einem Einschlag.
Die Haustür stand offen.
Wieder ein Einschlag. Ich wurde zu Boden geschleudert, als hätte mir jemand
mit dem Fuß in den Rücken getreten. Ich hörte das Geräusch von
zerbrechendem Glas – es hörte sich an, als käme es aus unserem Hof. Ich
konnte nur schreien: „Hinlegen!“ Auf Knien krochen wir zum Keller. Drei
Stunden wussten wir nichts, wir waren sicher, dass das Geschoss in unseren
Hof eingeschlagen war. Von Zeit zu Zeit hob ich die Luke, um zu prüfen, ob
unser Haus nicht brennt.
Währenddessen versuchten unsere Männer, uns telefonisch zu erreichen. Davon
bekamen wir aber nichts mit. Im Keller ohne Empfang sind wir gegen 1 Uhr
nachts sogar eingeschlafen. Ich weiß, dass Bekannte in dieser Nacht
vorbeigefahren sind und das Haus in Augenschein genommen haben. Die
Schlösser haben sie nicht aufgebrochen, als sie sahen, dass das Haus noch
steht. Am nächsten Morgen erfuhren wir, dass es das Haus von Vitas Bruder
auf der benachbarten Straße erwischt hatte.
Da beschlossen wir, dass wir wegfahren müssen. Wir wussten nur nicht, wie.
In diesen Tagen wurde der sichere Korridor aus Tschernihiw immer enger und
lag ständig unter Beschuss. In diesen zwölf Tagen haben wir viele Fehler
gemacht. Die richtigen Entscheidungen lagen irgendwo dazwischen.
Die ständigen Luftangriffe und der Artilleriebeschuss wurden um den 9. März
herum wieder aufgenommen. Ich finde keine Wörter, um zu beschreiben, wie
das klingt, so ein Bomber über dir. Ich kann ihn immer noch spüren als
kaltes, konstantes Zittern in meinem Körper. Das schrille Quietschen des
Gebäudes, wie es schaukelt, als bestünde es aus Papier und Kleber.
Eine der Bomben fiel zehn Gehminuten von uns entfernt herab und zerstörte
das Stadion und das alte Bibliotheksgebäude, einen meiner liebsten Orte.
Doch größere Sorge bereiten mir die vielen Händler mit ihren Ständen rund
um das Stadion. Sind sie am Leben? Viele Tage später erfuhr ich, dass Pavlo
dort gestorben war. Ich kannte ihn vom Laientheater der Universität. Nach
Kriegsausbruch ging er zur Territorialverteidigung.
## Märchen
Die Kinder stellen viele Fragen, die nichts mit dem Krieg zu tun haben.
Mama, was ist ein „Urheber“, ein „Regisseur“, ein „Fremder“, eine
„Ambulanz“? Vita antwortet, während sie in einer Schüssel das Geschirr
spült.
Und was ist ein „russisches Volksmärchen?“
Das, was sich da vor unserem Fenster abspielt, antwortet sie leise, mehr an
uns denn an die Kinder gerichtet.
## Tulpen
Zusätzlich zu all den Warteschlangen in der Stadt bildet sich am 8. März
auf dem Markt von Tschernihiw eine lange Reihe für Blumen. Die
Straßenhändlerinnen und -händler haben die frischen Blumen in schmutzigen
Vasen entlang der leeren Bänke aufgestellt, auf denen sie früher
Reisigbesen, Gummi-Clogs, Möhren und Wollsocken verkauft haben. Es gibt
Rosen und Tulpen. Militärangehörige dürfen die Blumen mitnehmen, ohne dafür
anstehen zu müssen.
Ich habe nicht sofort verstanden, was die ganzen Blumen sollen. Das muss am
Krieg liegen, dachte ich. Wie auch immer, selbst mit etwas Geld in der
Tasche kann man in der Stadt gerade nichts kaufen. Dann lass es eben Blumen
sein.
Später wurde mir erklärt, dass die Blumen kostenlos verteilt werden. Nur
eine Kiste steht da, die Leute werfen rein, was sie erübrigen können –
„Arzneimittel für unsere Leute.“
Erst als auch ich eine Blume bekam und der dritte Soldat auf dem Posten mir
gratulierte, begriff ich, dass heute Weltfrauentag ist. Zum Teufel, das
liegt gar nicht am Krieg?
## Kriegsbrot
Eines Nachmittags besuchte uns Vitas Patenonkel. Er brachte
frischgebackenes Brot. Die Kinder brachen die Kruste ab und aßen zufrieden.
Wir haben noch genug zu essen und haben auch altes Brot getrocknet, aber
dieses frische Brot schmeckte besonders köstlich.
Eine Freundin ging selbst in den Laden, um Brot zu holen. Kriegsbrot – ein
Laib pro Person. Einige versuchten, zweimal zur Kasse zu gehen, wurden aber
sofort von den Verkäuferinnen bemerkt. Ein Freund, mit dem Vita sich auf
die Nahrungssuche begeben hatte, riet ihr, den Einkaufskorb nahe bei sich
zu halten. Denn kaum wendest du dich ab, kann das, was du in einem leeren
Supermarkt zusammentragen konntest, daraus verschwinden.
Eine andere Freundin fand im Laden in ihrer Nähe lediglich Garnelen. Nachts
brieten sie diese. Der Geruch machte die Katze rasend.
Wenn kleine Läden geöffnet haben, dann findet sich dort definitiv etwas zu
kaufen. Am Donnerstag etwa gab es unweit von uns Sprotten. Ein Päckchen pro
Person, doch gegen Abend standen kaum noch Leute in der Schlange, und es
war nun möglich, mehrere Päckchen mitzunehmen. Der Fisch wäre ohnehin
verdorben. Zwei Mädchen gingen zum Stand und fragten nach Süßigkeiten. Es
gab keine.
Sie gingen zu einem geschlossenen Café, in dessen Schaufensterregalen
Süßigkeiten auslagen. Ich hatte zwei kleine Bonbons in der Tasche, die gab
ich ihnen. Ich bedauerte, dass ich nicht mehr mitgenommen hatte. Dann fiel
mir ein, dass ich selbst nur noch diese hatte.
Ich durchkämmte die kleinen Geschäfte nach Zigaretten. Doch wo ich auch
hereinschaute, überall zuckten sie mit den Schultern. In der Tat gab es
Zigaretten, aber die Kunde machte schnell die Runde und die Leute kaufen
schnell alles, was sie kriegen können. Reis, Zucker, Öl – selbst das
bekommt man noch, aber Zigaretten, das ist höchster Schwierigkeitsgrad.
Selbst gegen frische Sprotten würde niemand ein Päckchen
„Pryluky“-Zigaretten tauschen.
Aus einem der Läden nehme ich eine Packung Brot mit und gebe sie einer
fremden Frau. Sie weinte so sehr, dass ich ebenfalls anfing zu weinen.
Die Stadt kommuniziert jetzt mithilfe von Warntönen. Ein Einschlag, eine
Explosion – und alles beginnt zu schreien. Einmal gehe ich eine der
Hauptstraßen entlang und stelle fest, dass meine Wohnung weniger als einen
Kilometer entfernt ist. Ich inspiziere einige Häuser und erkenne, dass Vita
und ich mitten in einer Seeschlacht leben. Unser Haus ein winziger Käfig,
der nach wie vor Glück hat.
Als ich noch einen halben Kilometer vor mir habe, schlägt in einem
nahegelegenen Hof eine Granate ein. Ein Mann wirft mich mit seinem ganzen
Gewicht zu Boden. Mit Erde im Mund und in den Augen stehe ich auf. Ich
fische die letzte Zigarette aus meiner Tasche. Niemand ist verwundet,
selbst die Fenster sind nicht aus den Häusern geflogen. Ein Pfeifen ist zu
hören, der Beschuss beginnt.
Nachts wieder Flugzeuge. Sie werfen eine Bombe über dem Stadtzentrum ab.
Dort, wo Menschen leben, die uns vor drei Tagen gesagt haben, dass sie
Angst hätten, Tschernihiw zu verlassen. Außerdem sei es ruhig bei ihnen im
Zentrum, haben sie gesagt.
Seit dieser Nacht beschränkt sich der Artilleriebeschuss nicht mehr auf den
Stadtrand. Überall schlagen Geschosse ein.
Da beschließen wir, diejenigen aufzusuchen, die aus der Stadt flüchten
wollen, sie alle in unser Auto zu quetschen und wegzufahren. Vor uns liegt
ein Haufen bereits zerschossener Fahrzeuge. Doch wir gehen das Risiko ein
und fahren daran vorbei. Der Weg führt über Felder, kleine Dörfer und
unbefestigte Straßen, die das Tauwetter in Schlammpisten verwandelt hat.
## Papa
Am letzten Posten hinter Tschernihiw bemerken die Kinder das Militär im
Fenster. Sie wissen, dass ihr Vater im Krieg ist. Der ältere Junge beginnt,
gegen das Fenster zu klopfen. Ist Papa auch da? Wo ist Papa? Vita sagt:
Papa kämpft gegen die „russischen Volksmärchen“.
*Name von der Redaktion geändert
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Johann Zajaczkowski.
Vira Kuryko, 25 Jahre alt, arbeitete freiberuflich als Journalistin in
Tschernihiw. Sie verließ die Stadt am 13. März 2022 und berichtet heute von
Lwiw aus.
1 Apr 2022
## LINKS
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[2] /Lebensmittelversorgung-in-der-Ukraine/!5844266
## AUTOREN
Vira Kuryko
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