# taz.de -- Nach dem Massaker in Butscha: Die Überlebenden | |
> Irina und Evgeni haben ihre Nachbarn begraben. Bestatter Sergei hat | |
> zwanzig Leichen geborgen, deren Hände auf dem Rücken gefesselt waren. | |
BUTSCHA taz | Eine der Hauptstraßen von [1][Butscha], die Bahnhofsstraße, | |
sieht aus wie ein Friedhof für verbranntes Kriegsgerät. Auf der mindestens | |
zehn Meter breiten Straße stehen schachbrettartig angeordnet die Überreste | |
russischer Panzer. Genau an dieser Stelle begann der Überfall der | |
russischen Armee auf Butscha. Das war am 3. März, also vor ziemlich genau | |
einem Monat. | |
Jetzt gibt es hier praktisch kein einziges intaktes Haus mehr. Nahezu alle | |
Gebäude sind durch Granatbeschuss und Feuer zerstört worden. Die Bewohner, | |
größtenteils geflüchtet, haben es daher nicht eilig, zurückzukommen. | |
Derzeit wäre eine Rückkehr auch gar nicht möglich, denn Butscha wurde zur | |
Sperrzone erklärt, die niemand ohne eine besondere Genehmigung betreten | |
darf. Blindgänger und Minen stellen tödliche Gefahren dar. | |
Aber nur einhundert oder zweihundert Meter von hier entfernt leben | |
Menschen, die diesen ganzen Monat unter der russischen Besatzung in der | |
Stadt verbracht haben. | |
## Erschossen, weil er rauchen ging | |
Vor ihrem Haus stehen die 47-jährige Irina und ihr Nachbar Evgeni, 36 Jahre | |
alt. Sie warten auf die Freiwilligen, die bald mit humanitärer Hilfe kommen | |
sollen. Beide sehen sehr blass und abgemagert aus, besonders Evgeni. Er hat | |
aufgesprungene Lippen, die Muskeln in seinem Gesicht zucken und ihm laufen | |
die Tränen über das Gesicht, obwohl er nicht weint. | |
Seit dem 1. April ist die Kleinstadt Butscha, ganz in der Nähe von Kiew | |
gelegen, von den Okkupanten befreit. Hier lebten vor dem Krieg etwa 35.000 | |
Menschen. Die verbliebenen Einwohner haben den Schock des letzten Monats | |
noch lange nicht überwunden. | |
„Hier waren Kadyrowzy“, sagt Irina. Das ist die Bezeichnung für ein | |
Regiment der russischen Nationalgarde, das vom tschetschenischen | |
Präsidenten Ramsan Kadyrow geleitet wird und das für seine Brutalität | |
bekannt ist. Irina berichtet: „Sie haben ihre Panzer neben unserem Haus und | |
gegenüber abgestellt. Dann haben sie die ganze Zeit mit Maschinengewehren | |
geschossen, auch Scharfschützen waren da. Sie sind dann durch alle | |
Wohnungen gegangen und haben nach Männern gesucht. Wir haben uns vor ihnen | |
in den Kellern versteckt, aber sie sind heruntergekommen und haben uns | |
jeden Tag durchgezählt. Auf die Straße konnten wir nur, wenn sie es uns | |
erlaubt haben. Deshalb konnten wir zwei, drei Tage nichts essen, weil sie | |
verboten haben, herauszukommen und draußen zu kochen“, erinnert sie sich | |
mit Schrecken. | |
Dann, so erzählt sie weiter, seien plötzlich russische Soldaten gekommen, | |
nicht älter als 25 Jahre. „Hinter dem Haus sind drei Gräber. Wir haben dort | |
die Nachbarn begraben, die sie umgebracht haben“, berichtet Evgeni. Er geht | |
mit nach hinten, um die Stelle zu zeigen. Zwei Gräber liegen direkt | |
nebeneinander, das dritte ein bisschen entfernt. Die Nachbarn haben Stöcke | |
auf die frischen Grabhügel gesteckt und versucht, ein Kreuz mit einer | |
orthodoxen Ikone zu errichten. Es fällt Irina schwer zu erzählen, was | |
passiert ist, und Evgeni, der ihr schweigend zu hört, laufen wieder die | |
Tränen und seine Hände beginnen zu zittern. | |
„Es war gegen neun Uhr morgens. Mein Mann und ich saßen in der Wohnung, | |
aber wir hörten Leute sprechen. Unser Nachbar Lenja kam aus dem Keller, um | |
zu rauchen. Ein Russe hat ihn gefragt, wer er sei und was er hier mache. | |
Lenja sagte, dass er in diesem Haus lebe. Der Soldat fragte ihn nach seinen | |
Papieren, und er sagte, er würde sie von zu Hause holen. Als er sich | |
umdrehte, um loszugehen, schoss der Russe ihn in den Kopf“, sagt Irina und | |
kann die Tränen kaum zurückhalten. Dann ergänzt sie: „Lenja hatte nicht | |
einmal die Zeit, etwas zu sagen oder zu begreifen.“ | |
Die Frau berichtet weiter, dass die Leiche des Mannes noch eine Stunde | |
unter ihrem Fenster lag. Nachdem der Soldat endlich gegangen war, sei ihr | |
Mann gekommen, um eine Decke über den toten Nachbarn zu legen. „Ich bin | |
nicht näher herangegangen. Mein Mann hat gesagt, dass es schrecklich | |
aussieht, weil von dem Kopf nichts mehr übrig war“, sagt Irina und wischt | |
sich die Tränen aus dem Gesicht. Danach hätten sie den Mann neben einem | |
anderen Nachbarn begraben. „Das waren gute Menschen. Ich verstehe nicht, | |
wofür und warum man sie umgebracht hat“, ergänzt Evgeni, wobei er seine | |
blassen Lippen kaum bewegt. | |
„Nach diesem Vorfall hatten wir Angst, überhaupt noch das Haus zu | |
verlassen“, erinnert sich Irina. Ein russischer Soldat habe ihr gesagt, | |
dass er schon „einen Opa und eine Oma umgebracht habe, die auf der Straße | |
herumgingen“, und dass sie darum alle drinnen bleiben sollten. „Ich kann | |
nicht glauben, dass so etwas im 21. Jahrhundert geschieht. So etwas wünscht | |
man niemandem. Das, was sie getan haben, so viele Menschen umgebracht … | |
einfach so. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie nach so etwas | |
überhaupt weiterleben können.“ | |
Nach der Rückeroberung von Butscha haben ukrainische Soldaten und die | |
Polizei den Ort entdeckt, wo die russischen Besatzer ihre Zentrale | |
eingerichtet hatten. Die Besatzer hatten sich dafür einen sehr passenden | |
Ort ausgesucht – ein Kindersanatorium, auf dessen Schild sie ein V gemalt | |
hatten. Im angrenzenden Park haben sie Schützengräben ausgehoben, es gab | |
auch Gruben, um dort Fahrzeuge zu verbergen. | |
Überall in diesem Park verstreut liegen Pakete von Trockenverpflegung mit | |
der Aufschrift „Russische Armee“. Nicht weit entfernt davon hängen immer | |
noch Mosaikbilder an den Wänden, auf denen ukrainische Kinder mit Kränzen | |
und gelb-blauen Bändern im Haar zu sehen sind. | |
Gewiss waren hier noch im vergangenen Sommer Kinder zur Erholung | |
untergebracht. Aber in diesem Frühjahr sind schreckliche Dinge passiert. In | |
einem Keller des Sanatoriums haben ukrainische Polizisten die Leichen von | |
fünf Männern gefunden. Ihre Hände waren hinter ihren Rücken | |
zusammengebunden, einigen war in den Hinterkopf geschossen worden, anderen | |
ins Herz, sagen sie. Einem Mann hätten sie den Schädel mit dem Kolben eines | |
Maschinengewehrs zertrümmert. | |
Wer die Männer sind, konnte die inzwischen eingerückte ukrainische Polizei | |
bislang noch nicht herausfinden. Ihrer Kleidung nach zu urteilen waren sie | |
Zivilisten, einer trug Arbeitskleidung, ein Mann eine weiße Armbinde. | |
Wahrscheinlich wollte er sich so als Zivilist zu erkennen geben. In seiner | |
Tasche wurde ein Portemonnaie gefunden, aber außer Fotos von seiner Tochter | |
und seiner Enkelin war es leer. Nach Angaben der Polizei lagen die Leichen | |
schon etwa zwei Wochen in diesem Keller, worauf der Verwesungsgrad und der | |
Leichengeruch schließen ließen. Offenbar wurden sie an diesem Ort auch | |
umgebracht. Denn an den Wänden waren Blutspuren nach den Schüssen zu sehen. | |
## Leichen mit zusammengebundenen Händen | |
Sergei, der bei einem Bestattungsunternehmen arbeitet und mit der Bergung | |
der Leichen in Butscha befasst ist, erzählt, dass er schon menschliche | |
Körper aus ähnlichen Räumen bergen musste. „Von dreißig Körpern hatten um | |
die zwanzig auf dem Rücken zusammengebundene Hände. Das sind klare | |
Anzeichen für Folter und Hinrichtungen“, meint er. | |
Insgesamt, so sagt es Sergei, hätten sie schon um die dreihundert Leichen | |
von Zivilisten geborgen. Er schätzt, dass etwa 30 Prozent davon Frauen und | |
Kinder waren. „Am schwierigsten, aber auch am schrecklichsten war das | |
natürlich unter Beschuss. Wir haben die Leichen eingesammelt, aber konnten | |
sie nicht normal bestatten, darum haben wir sie in Massengräbern | |
beigesetzt“, erinnert sich der Totengräber. Er meint auch, dass nach den | |
Vorfällen in Butscha niemand von den Anwohnern mehr zulassen werde, dass | |
die russischen Soldaten noch einmal zurückkehren. | |
Gleichzeitig räumt er ein, dass noch viel Arbeit vor ihm liegt. „Wir kennen | |
schon die Orte, an denen wir suchen müssen. Wir werden noch sehr viele | |
Leichen finden.“ | |
Die Anwohner, die die Kriegsverbrechen in ihrer Stadt miterleben mussten, | |
verstehen nicht, warum und wozu ihnen all das geschehen ist. Aber viel | |
beängstigender ist die Vorstellung, dass es noch viele solcher Orte überall | |
in der Ukraine gibt, wo solche Dinge geschehen sind und noch geschehen. | |
## Präsident Selenski trifft Einwohner | |
Um sich ein Bild von den Folgen der russischen Okkupation zu machen, kommt | |
der ukrainische Präsident [2][Wolodimir Selenski] am Montag persönlich nach | |
Butscha. Er verlässt damit zum ersten Mal seit Beginn der russischen | |
Invasion die Hauptstadt Kiew. | |
Selenski läuft nicht nur durch die Straßen mit den zerstörten russischen | |
Militärfahrzeugen, sondern spricht an einem Verteilungspunkt für humanitäre | |
Hilfe auch mit Anwohnern. Die meisten derer, die die ganze Zeit über in der | |
Stadt verbracht haben, sind Rentnerinnen und Rentner. Von ihnen hatte wohl | |
niemand damit gerechnet, hier jetzt den Präsidenten ihres Landes persönlich | |
zu treffen. | |
„Wolodimr, danke, dass Sie an der Seite des Volkes stehen und das Land | |
nicht verlassen haben“, sagte eine der alten Frauen zum Präsidenten. „Ihnen | |
habe ich zu danken, dass Sie all dies hier durchgehalten haben“, erwidert | |
Selenski. Und er verspricht den Menschen, dass die Kommunikation bald | |
wiederhergestellt und das Leben in der Stadt sich wieder normalisieren | |
werde. Derzeit gibt es in Butscha weder Strom noch Gas oder funktionierende | |
Festnetztelefone. | |
Im Gespräch mit Reportern nimmt Selenski kein Blatt vor den Mund: „Das sind | |
Kriegsverbrechen, die international als Genozid anerkannt werden. Wir | |
wissen, dass Tausende Menschen umgebracht wurden. Einige wurden gefoltert, | |
Frauen wurden vergewaltigt und Kinder ermordet. Ich denke, das ist mehr … | |
als ein Genozid“, sagte der Präsident, um die richtige Wortwahl bemüht, auf | |
der Straße in Butscha zwischen zerstörten Häusern und ausgebrannten | |
Panzern. | |
Und obwohl der Beschuss und die Schießereien im Großraum Kiew vor einigen | |
Tagen aufgehört haben, ist der Krieg noch lange nicht vorbei. An diesen | |
Monat der russischen Okkupationen werden noch Generationen von Anwohnern | |
denken, und die Aufarbeitung der Folgen wird Jahre in Anspruch nehmen. | |
Aber die Hunderte von Ermordeten werden niemals erfahren, wie dieser Monat | |
zu Ende ging. | |
Unsere Reporterin Anastasia Magasowa besuchte Butscha im Rahmen einer von | |
der Polizei begleiteten Pressetour. Ihre Bewegungsfreiheit war dabei | |
eingeschränkt. | |
Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey] | |
5 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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