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# taz.de -- Tattoos im Ukrainekrieg: Hoffnungslos und für immer
> In der Ukraine lassen sich seit Kriegsbeginn immer mehr Menschen
> Tätowierungen zu Ehren der Soldaten stechen. Es gibt ihnen Kraft und
> macht sie stolz.
Bild: Ein Tatoo mit kyrillischer Schrift
Fünf Tage nach der Nachricht zog sie bei ihm ein. „Hoffnungslos und für
immer liebe ich dich“, schrieb Sergio vor zwei Jahren an Anna. Sie trägt
sein Parfüm, würzig und schwer, und sein schwarzes Karohemd, eines der
wenigen Dinge, die sie aus der gemeinsamen Wohnung in Kiew mitgenommen hat.
Seit ein paar Tagen trägt Anna Dovzhenko nun auch Sergios Liebesbotschaft
auf ihren Rippen. „Um seine warmen Worte näher an meinem Herzen zu tragen“,
wie sie sagt. Die zarten schwarzen Linien sind noch ein bisschen gerötet
unter dem transparenten Pflaster.
Sergio, 29, Ukrainer, ist im Krieg. Sein voller Name soll deshalb besser
nicht in der Zeitung erscheinen. „Mein Geliebter kämpft in Tschernihiw“,
sagt Anna. Er hat Psychologie studiert und verkaufte selbstdesignte
T-Shirts im Internet. Vom Kämpfen hat er keine Ahnung – und sich trotzdem
freiwillig zum Dienst gemeldet. „Er hatte keine Wahl, es war die einzige
Option für ihn“, sagt Anna. Wie hunderttausend Andere in der Ukraine wollte
Sergio sein Vaterland verteidigen.
Wo genau er ist, darf er Anna übers Telefon nicht sagen – falls die Russen
mithören. In regelmäßigen Abständen bricht die Kommunikation zwischen den
beiden ab. „Du weißt nicht, ob du noch lebst oder schon tot bist. Du fühlst
dich wie in der Zeit gefangen. Du wartest nur, dass alles endlich vorbei
ist“, beschreibt Anna den Zustand.
Acht Jahre lang war sie in Sergio verliebt, bis sie vor zwei Jahren endlich
zusammen kamen. Sie wollten ein Haus und Kinder. Der Krieg darf all das
nicht einfach kaputt machen. Das Tattoo gibt ihr die Kraft weiterzumachen.
Ihre Cousine in der westukrainischen Stadt Lwiw, zu der sie gefahren ist,
als sie es drei Wochen nach Kriegsbeginn in Kiew nicht mehr aushielt, hat
sich das National-Emblem tätowieren lassen, aus Solidarität mit den
Truppen.
Patriotische Tätowierungen sind in der Ukraine kein neuer Trend. Aber die
russische Invasion am 24. Februar hat zu einer neuen Welle der
Solidarisierung mit dem Vaterland und seiner Armee geführt. Im ganzen Land
stechen Tätowierer*innen patriotische Slogans, die Flagge der Ukraine,
den Landesumriss oder die Nationalfarben. Manch einer hat seit Kurzem auch
das Antlitz von Wladimir Putin auf seinem Oberschenkel, das zur Hälfte
aussieht wie Adolf Hitler.
Bogdan Krasnevych, Tätowierer in der westukrainischen Stadt Lwiw, hat
seit der russischen Invasion mindestens 50 patriotische Tattoos gestochen.
Das sind so viele wie zuvor in einem halben Jahr. Und dabei war das
Tattoostudio seiner Freundin in einem Außenbezirk von Lwiw die ersten
beiden Wochen nach Kriegsbeginn gar nicht geöffnet. „Die Menschen sind
jetzt besonders stolz, Ukrainer zu sein“, sagt er. Heute arbeitet er an
einem gelb-blauen Herz, das die Tochter eines Soldaten auf ihrem
Ohrläppchen verewigt haben möchte.
Als Bogdans Freundin ihn am 24. aufweckte und von der Invasion erzählte,
dachte er anfangs, es sei ein Scherz – trotz der heulenden Sirenen. Zuerst
wollte er noch ganz normal zur Arbeit gehen wie sonst auch. „Dann wurde
mir klar, dass Krieg ist und natürlich erst mal gar nichts mehr so sein
wird wie vorher.“
Die ersten beiden Tage habe das Paar in einer Schockstarre verbracht, bevor
sie wie fast jeder in der Ukraine, der irgendwie konnte, mit anpackten. Sie
kochten Suppe und verteilten sie am Bahnhof, wo wochenlang massenhaft
Ukrainer ankamen, die vor der nahenden Front flohen. Statt zu arbeiten,
beherbergte das Paar in seinem Tattoo-Studio eine Flüchtlingsfamilie aus
dem Osten der Ukraine, die 2014 bereits vor dem Krieg im Donbass fliehen
musste.
Bogdans Freundin ist inzwischen mit ihrem achtjährigen Sohn über die Grenze
nach Polen gegangen. Mit dem Kind war es ihr zu unsicher in der Ukraine. Er
wird jetzt in Polen eingeschult. Die Freundin will in Polen ein neues
Tattoo-Studio eröffnen. „Jetzt eben keine zweite Filiale in Iwano-Frankiwsk
(Stadt in der Westukraine; Anm. d. Red.), sondern in Polen“, sagt Bogdan
und lacht. Die Sonne scheint, er geht zur Arbeit, es sind keine Flüchtlinge
mehr im Laden, und auch die Situation in der Stadt hat sich inzwischen
wieder ein wenig entspannt. Ohne die Sirenen vergisst Bogdan manchmal, dass
Krieg ist in seinem Land. Bis er in den Nachrichten wieder Bilder von
blutverschmierten Kleinkindern sieht. „Dann wird mir klar: Nichts ist
vorbei.“
In Krankenhäusern in Lwiw behandeln Ärztinnen und Ärzte aus dem Osten
evakuierte Kinder, die nach Bomben- und Raketenangriffen um ihr Leben
kämpfen oder drohen ihre Beine zu verlieren. Regelmäßig ziehen
Beerdigungszüge für tote Soldaten durch die Stadt. Kirchenfenster sind
zugenagelt und Statuen mit Sandsäcken verbarrikadiert, falls der Feind auch
in den Westen der Ukraine kommen sollte.
Bogdan fühlt sich in der Westukraine dennoch sicher, die Front ist weit
entfernt. Doch als mitten im Gespräch die Sirene losheult, stellt er
trotzdem die Musik ab und bittet in den hinteren Bereich des Studios, dort
wo es keine Fensterscheiben gibt, für den Fall eines Raketenangriffs. Das
letzte Mal ist das vor ein paar Tagen passiert, als eine Rakete ein Öldepot
in Lwiw getroffen hat. Bei einem Freund, der in der Gegend einen
Telefonladen hat, sind die Fensterscheiben zerborsten.
Bogdans Vater, ein Bauingenieur, wurde in Moskau von Unbekannten ermordet,
als Bogdan acht war. Man hat ihm ein Messer ins Herz gerammt. Es dauerte
zwei Wochen, bis sein lebloser Körper gefunden wurde. Bogdan hat Russland
damals nicht dafür gehasst, sagt er. Aber jetzt denkt er wie viele in der
Ukraine anders und wirft den Russen vor, dass sie angesichts der
Regierungspropaganda nicht ihren Verstand einschalten. „Mein Vater baute
den Russen ihr Land, und jetzt zerstören sie hier unsere Häuser“, sagt er.
„Ich habe nie verstanden, warum irgendjemand Patriotismus brauchte“, sagt
Bogdan. „Ich habe mich zwar nie geschämt Ukrainer zu sein. Aber jetzt bin
ich richtig stolz. Stolz auf die Einheit, auf die Solidarität der Menschen
in unserem Land.“ Auch für Präsident Wolodimir Selenski hat er nicht
gestimmt und zu Politik allgemein kaum Bezug. „Jetzt respektiere ich ihn
sehr“, sagt er.
Aus gesundheitlichen Gründen glaubt Bogdan nicht, dass er eingezogen wird.
Freunde, die sich für die Freiwilligenbataillone gemeldet hatten, wurden
auch nicht aufgenommen, weil sich schon so viele vor ihnen gemeldet hatten.
Aber wenn man ihn denn wollte, dann würde er auch kämpfen. Wenn seine
Freundin zu Besuch kommt, will Bogdan, dass sie ihm ein patriotisches
Tattoo sticht. Wann das sein wird, ist unklar. Es ist momentan sowieso
schwer, irgendetwas zu planen in der Ukraine.
„Unsere Regierung sagt, wir können auch dann kämpfen, wenn wir nicht an der
Front sind“, sagt der Tätowierer. Alle helfen mit, wo sie nur können.
Frauen, Männer und Kinder knüpfen in Bibliotheken Camouflage-Netze für das
Militär. Großmütter produzieren Teigtaschen für die Front. Menschen
investieren jede freie Minute, um in Flüchtlingsunterkünften und am Bahnhof
auszuhelfen, der zum Drehkreuz für Menschen aus der schwer umkämpften
Ostukraine geworden ist. Straßenmusiker spenden Teile ihrer Gage. Auch
Bogdan gibt 20 Prozent seiner Einnahmen aus den patriotischen Tattoos an
das Militär weiter.
„Unsere Beschützer sollen wissen, dass wir an sie glauben“, sagt Anna über
die Tätowierungen. Sie würden den Kampfesgeist der Truppen unterstützen und
auch den der Zivilbevölkerung, die in der Ukraine die Infrastruktur
aufrechterhält. Ein paar Tage nachdem sie ihr Tattoo von Bogdan bekommen
hat, kam endlich wieder ein Lebenszeichen von Sergio. Sie hatte schon
länger mit dem Gedanken gespielt, sich die Nachricht von Sergio tätowieren
zu lassen. Der Krieg hat sie darin nur bestärkt. Die Tätowierung habe ihr
Kontrolle zurückgegeben über eine Situation, in der sie sich sonst so
hilflos fühlt.
## Sie darf nicht anrufen
„Sergio hat mir verboten, ihn anzurufen“, erzählt Anna. Der Ton und das
Lichtsignal auf dem Smartphone könnten ihn an den Feind verraten. Sie solle
auch nicht fragen, wo er sich aufhält, falls die Russen mithören. Wenn sie
doch sprechen können, will Anna vor allem wissen, ob Sergio genug Essen und
Ausrüstung hat. Sergio will wissen, wo Anna ist und ob sie sicher ist. In
dem Haus, in dem er schläft, sei es so kalt, dass er sogar drinnen seinen
warmen Atem sehen kann. Im Hintergrund der Gespräche hört sie manchmal
Bomben, sagt sie.
Anna will, so schnell es geht, zurück in den Osten, zu ihrer Tante nach
Dnipro, näher an Tschernihiw heran. Gestern haben die Russen dort das
Öldepot angegriffen. Aber immerhin keine Zivilisten. Das ist schon einmal
etwas in der Ukraine dieser Tage.
Bei ihrem letzten Telefongespräch hat Sergio ihr berichtet, dass seine
Truppe mehr Drohnen benötigt. Es kostete Anna nur ein paar Tage, um auf
Instagram Geld zu sammeln, die Gerätschaften zu beschaffen und an die Front
transportieren zu lassen. „Das ist ihm im Moment wahrscheinlich wichtiger
als meine Tätowierung“, sagt sie schmunzelnd. Auf einen der Kartons hat sie
einen pinken Webrahmen gelegt, der rot bestickt ist. „Russian Warship Go
Fuck Yourself“ steht darauf.
Der Spruch ist zu einem ikonischen Slogan geworden, der auf Bannern in den
Straßen, auf Tassen, Jutebeuteln, Cappuccino-Milchschaum und eben auch auf
der Haut von Ukrainern zu sehen ist. Es war der letzte Funkspruch von Roman
Gribov, einem Grenzschützer, der mit seinen Kollegen zum Zeitpunkt der
Invasion auf einer kleinen ukrainischen Insel stationiert war. Auf die
Aufforderung eines russischen Kriegsschiffs, sich zu ergeben, reagierte er
mit dem Funkspruch, der in den sozialen Netzwerken sofort viral ging.
Nachdem er in einem Gefangenenaustausch freikam, wurde Gribov kürzlich mit
einer Ehrenmedaille für seinen Mut ausgezeichnet. Geschichten wie diese
wirken in diesen schweren Zeiten wie ein Lebenselixir für die Ukrainer.
„Der Spruch zeigt sehr gut die Haltung unserer Nation: Wir haben keine
Angst“, sagt Sofiia Mashtalir. Die Jurastudentin sitzt in einem der
Hipster-Cafés in der Lwiwer Innenstadt, im Hintergrund trällert
Rebellionsmusik. Ein minimalistisches Boot mit dem Schriftzug „Go fuck
yourself“ thront seit Kurzem auf ihrem Unterschenkel. Die Alternative sei
das Emblem des Militärs gewesen, schließlich schulde man denen ja noch mehr
als dem Grenzschutz. Aber am Ende siegte doch die Ästhetik. Und irgendwie
gefällt Sofiia das Aufrührerische, das Trotzige an dem Spruch.
Sofiia arbeitete an der Theke in einer Bar, die jetzt Molotowcocktails
herstellt. Statt Bier auszuschenken, kümmert sie sich um die Kinder von
Flüchtenden oder sortiert Hilfsgüter. Manche ihrer Freunde finden, jetzt
sei nicht der richtige Zeitpunkt für neuen Körperschmuck. Aber für Sofiia
geht es um viel mehr als das. „Ich will mich für immer daran erinnern, was
unserem Land gerade angetan wird.“
Dass das Tattoo jetzt für den Rest ihres Lebens ein Teil von ihr ist?
„Super“ sei das. Sie glaubt eh nicht, dass die Russen irgendwann auch in
Lwiw auftauchen werden. Und nach Russland fahren wird sie sicher in ihrem
Leben nicht mehr, sagt sie. Anfangs hat sie noch versucht mit russischen
Kontakten in den sozialen Netzwerken über den Krieg zu diskutieren, aber
das gab sie schnell auf. „Irgendwann wird dir klar, dass alle Russen
Verantwortung tragen für diese Situation.“ Die Ukraine, ein viel kleineres
Land, hätte ihren Präsidenten 2014 in Folge der Maidan-Proteste ja auch
rausgeworfen, argumentiert Sofiia. „Wenn unser kleines Land das kann, dann
können die das doch auch.“
Das nächste Tattoo will Sofiia sich stechen lassen, „wenn der Krieg bald
gewonnen ist“. Yuliy Timchenko, ein ukrainischer Tätowierer, der in München
lebt, würde es ihr gratis machen. „Sobald der Krieg vorbei ist steche ich
ein Tattoo ganz bestimmt umsonst: ‚Fuck Putin.‘“
Mitarbeit: Diana Prots
8 Apr 2022
## AUTOREN
Verena Hölzl
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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