| # taz.de -- Wiederaufbau in Butscha: Fast keine Ruinen | |
| > Butscha, ein Vorort von Kyjiw, wurde vor einem Jahr zum ersten Symbol für | |
| > grausame russische Kriegsverbrechen. Jetzt herrscht Aufbruchstimmung. | |
| Bild: Auf der Woksalna-Straße in Kyjiws Vorort Butscha | |
| Butscha taz | Die Woksalna-Straße in Kyjiws Vorort Butscha ist nur rund 30 | |
| Autominuten von der ukrainischen Hauptstadt entfernt. Fast nichts erinnert | |
| hier mehr die Bilder, die vor fast genau einem Jahr, kurz nach dem Abzug | |
| der russischen Truppen, um die Welt gingen. Verkohlte, zerstörte russische | |
| Panzer und andere Kriegsfahrzeuge – die Reste einer 30 Kilometer langen | |
| Kolonne, die bis nach Kyjiw vorstoßen sollte – reihten sich genauso | |
| aneinander wie Häuser, die bis auf die Grundmauern niedergebrannt waren. | |
| Heute wirkt es, als ob die Straße fast vollständig aus den Ruinen | |
| wiederauferstanden sei. Nur vor einigen Grundstücken türmen sich noch | |
| Schutt und Steine. Viele Gebäude sind instandgesetzt oder neu gebaut | |
| worden. Auch jetzt, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, wird allerorten | |
| gehämmert, verputzt und gestrichen. Auf einem Gerüst stehen mehrere Männer | |
| und arbeiten an einem Rohbau. Einer von ihnen kauert mit einer Zigarette am | |
| Boden. | |
| Er und seine Kollegen gehörten einem Bautrupp aus der Westukraine an, schon | |
| einen Monat seien sie hier, sagt er. Ein großes Plakat weist die | |
| nichtstaatliche Global Empowerment Mission (GEM), eine Organisation mit | |
| Hauptsitz in den USA, als Finanzier des Wiederaufbaus aus. Bis zum Ende des | |
| Frühjahrs sollen insgesamt 110 Häuser in der Woksalna bezugsfertig sein. | |
| Ein paar Minuten Fußweg entfernt kreuzt die Woksalna- die Jablunska-Straße. | |
| Auch diese erlangte traurige Berühmtheit: Hier lagen im März vorigen Jahres | |
| überall Leichen, einige mit auf dem Rücken gefesselten Händen, neben ihnen | |
| ihre Fahrräder und aufgerissenen Einkaufstüten – sie alle stumme Zeugen | |
| barbarischer Kriegsverbrechen. Im Hof eines mehrstöckigen Wohnhauses | |
| kündeten im April 2022, [1][wenige Tage nach der Befreiung Butschas,] | |
| Holzkreuze mit Heiligenbildern von zwei provisorischen Gräbern. Doch das | |
| ist jetzt Vergangenheit. Auch hier scheint es längst begonnen zu haben: das | |
| Leben danach. | |
| ## Opferzahlen und die Frage nach dem Warum | |
| Laut der Stadtverwaltung von Butscha sind 458 Menschen während der | |
| 33-tägigen russischen Besatzung zu Tode gekommen, darunter zwölf Kinder. | |
| Doch diese Zählung stammt aus dem vergangenen Sommer, die Daten verändern | |
| sich laufend, weil auch jetzt immer noch Leichen gefunden und geborgen | |
| werden. Die vorläufige Statistik des Grauens findet sich auch im kürzlich | |
| erschienen Buch „Die Heldenstädte [2][Butscha, Irpin und Hostomel]“ der | |
| ukrainischen Journalistin Yevhenia Podobna. Unter den fürchterlichen Zahlen | |
| steht dort der Satz: „Die wichtigste Frage, auf die wir wohl nie eine | |
| Antwort erhalten werden, lautet: Warum?“ | |
| Die Stadtverwaltung von Butscha befindet sich in der zentral gelegenen | |
| Energetikiw-Straße, Hausnummer 12. Das langgezogene, dreistöckige Gebäude | |
| hat die Besatzungszeit fast unbeschadet überstanden. An einem Vormittag | |
| Mitte März, zwei Wochen vor dem ersten Jahrestag der Befreiung, findet dort | |
| eine Premiere statt. Die stellvertretende Bürgermeisterin Mychailyna | |
| Skorik-Schkariwska hat Vertreter*innen von | |
| Nichtregierungsorganisationen und Initiativen zu einem ersten | |
| Vernetzungstreffen gebeten. Der Sitzungssaal ist bis auf den letzten Platz | |
| gefüllt. Gut 40 Augenpaare blicken erwartungsvoll in Richtung der | |
| Vizebürgermeisterin. | |
| ## Wiederaufbau trotz Finanzschwierigkeiten | |
| Skorik-Schkariwska erhebt sich zur Begrüßung und bittet um Entschuldigung, | |
| dass das Treffen wegen Luftalarms mit 10 Minuten Verspätung beginnt. Sie | |
| fordert die Gäste auf, sich mit Heißgetränken und Häppchen zu versorgen, | |
| die auf einem Tisch in der Ecke bereitstehen. Dann beginnt die | |
| Präsentation. Ihr ist zu entnehmen, dass sich die Kriegsschäden auf | |
| umgerechnet rund 178,4 Millionen Euro belaufen. Dem steht für 2023 ein | |
| kommunales Budget von 35,5 Millionen Euro gegenüber. „Wir haben nicht | |
| genügend Geld, um alles wieder aufzubauen“, so fasst die 43-Jährige die | |
| Lage zusammen. | |
| Im vergangenen Jahr habe die Kommune vor allem von Hilfszahlungen aus dem | |
| Ausland gelebt. Mit ein Grund dafür: Durch die Zerstörung des 7 Kilometer | |
| von Butscha entfernten Militärflughafens Antonow in Hostomel hat die Region | |
| ihren größten Arbeitgeber verloren. Vor Kriegsbeginn lebten in der Stadt | |
| Butscha 53.000 Menschen, in der gesamten Kommune waren es 75.000. Seitdem | |
| haben sich die Einwohnerzahlen fast halbiert. Aber: Mindestens 5.220 | |
| Menschen sind seit dem Ende der russischen Besatzung auch wieder zugezogen, | |
| teils aus anderen Regionen, als ukrainische Binnengeflüchtete. | |
| Das Treffen geht in die nächste Runde, die Teilnehmer*innen werden | |
| gebeten, sich und ihre Organisationen kurz vorzustellen. | |
| Wissenschaftler*innen, Ärzt*innen, Psycholog*innen und Medien- | |
| und Kulturschaffende sind gekommen, aber auch Vertreter*innen von | |
| kleinen und mittelständischen Betrieben, Tourismusagenturen und | |
| Frauengruppen. Ein Mann sagt, er sei ein Geflüchteter aus Mariupol und habe | |
| dort in Digitalisierungsprojekten gearbeitet. Seine Erfahrung wolle er | |
| jetzt auch Butscha zugute kommen lassen. | |
| Russische Truppen hatten Mariupol, einst eine blühende Hafenmetropole am | |
| Asowschen Meer, im vorigen Jahr während monatelanger Kämpfe [3][in Schutt | |
| und Asche gebombt] – von 90 Prozent der Bauten ist so gut wie nichts mehr | |
| übriggeblieben. Vergangene Woche stattete Russlands Präsident Wladimir | |
| Putin dem besetzten Mariupol erstmals einen Besuch ab, nachts, in der | |
| Dunkelheit, um sich nach dem Fortgang der Wiederaufbauarbeiten zu | |
| erkundigen, wie russische Medien es formulierten. | |
| Im Sitzungsaal in Butscha haben sich die Anwesenden mittlerweile zu | |
| Kleingruppen zusammengetan, der informelle Teil der Veranstaltung beginnt – | |
| Zeit für ein kurzes Gespräch mit Mychailyna Skorik-Schkariwska. Sie ist | |
| studierte Journalistin und Mutter eines Sohns. Ihr Mann wurde 2014 bei | |
| einem Kampfeinsatz im Donbass getötet. | |
| ## Trotz allem optimistischer Blick in die Zukunft | |
| Sie sitzt als Abgeordnete im Stadtparlament von Irpin und hat seit Mai 2022 | |
| auch das Amt der stellvertretenden Bürgermeisterin von Butscha inne. | |
| Probleme gebe es viele, sagt sie. Von 3.000 zerstörten Objekten seien | |
| bislang 800 wieder aufgebaut worden. Besonders treibt sie um, dass viele | |
| junge Familien mit Kindern noch nicht nach Butscha zurückgekehrt seien. | |
| Aber [4][die Menschen blickten trotz allem optimistisch in die Zukunft], | |
| betont sie. | |
| Bereits vor dem Krieg habe es in der Stadt und der Kommune eine engagierte | |
| Zivilgesellschaft gegeben. Derzeit seien rund 30 bis 50 | |
| Nichtregierungsorganisationen aktiv. Der Bedarf steige, vor allem an | |
| psychologischen Hilfsangeboten. [5][Viele begriffen erst nach und nach, was | |
| geschehen sei.] Doch Aufgeben sei keine Option. „Wer will schon an einem | |
| Ort der Tragödie wohnen, so wie Tschornobyl. Wir kämpfen dafür, hier wieder | |
| normal leben zu können, und wir wollen aus dem Projekt Butscha einen Erfolg | |
| machen. Dafür reicht ein repariertes Dach nicht“, sagt Skorik-Schkariwska. | |
| Was Bürgerengagement zu bewegen vermag, ist nur einen Katzensprung von der | |
| Stadtverwaltung entfernt in der Energetikiw-Straße Nummer 3 zu besichtigen. | |
| „Co-Working – Arbeitsplätze, Geschäftstreffen, Gespräche, Interviews“, | |
| verheißt ein Schild in einem Schaufenster. In einem hellen Raum mit einem | |
| Tresen für Getränkeausschank sitzen vier Mädchen an einem großen Tisch über | |
| Zeichenblöcke gebeugt, vor sich Stifte, Mal- und Tuschkästen. Eine ältere | |
| Dame sitzt als Unterstützerin dabei. An einer Wand hängen zwölf bunte | |
| Kinderzeichnungen – darunter kaum eine, auf der nicht Soldaten mit Waffen | |
| und Panzern abgebildet sind. Der Ort ist für viele zu einem zweiten | |
| Wohnzimmer geworden. Es gibt Kurse, Konzerte, Lesungen, aber auch Platz für | |
| individuelle Aktivitäten. | |
| Hier hat auch die Journalistin Irina Sadowa ihren Arbeitsplatz. Sie lebt | |
| seit 2012 in Butscha und betreibt das Webportal [6][Bucha.life], eine | |
| Plattform für Nachrichten und Informationen aller Art aus und über Butscha. | |
| Viele Blogger*innen sind dort aktiv. Jetzt möchte Sadowa das Portal | |
| optimieren, wenn möglich auch in Zusammenarbeit mit NGOs. „Wir wollen keine | |
| starke Vertikale wie in Russland, wo Informationen von oben nach unten | |
| durchgereicht werden, wir wollen die Horizontale ausbauen“, sagt die | |
| 58-Jährige bestimmt. | |
| Sie selbst hatte Butscha am 9. März 2022 verlassen und ist erst ein halbes | |
| Jahr später, im vergangenen September, zurückgekehrt. „Als das alles | |
| begann, war klar, dass die Erde brennen würde. Und dass wir die Ukraine | |
| verteidigen würden. Niemand würde sich unterordnen. Das hat Putin nicht | |
| verstanden“, sagt Sadowa. Und jetzt? Die Menschen hätten zu schätzen | |
| gelernt, was sie haben – aber eine Rückkehr zum Vorkriegszustand wolle | |
| niemand. Alle hätten jetzt den Wunsch, eine ganz neue Stadt aufzubauen. Ihr | |
| Sohn sei derzeit beim Militär, sagt die Journalistin noch und fügt hinzu: | |
| „Ich habe schreckliche Angst um ihn.“ | |
| Unweit des Gebäudes stehen in einigem Abstand hintereinander mehrere | |
| Plakate mit Sternen, einem Engel und einem Weihnachtsmann – beste Wünsche | |
| der Kommune Butscha für die Einwohner*innen zum Jahreswechsel 2021/22. | |
| Der Slogan in grüner Schrift lautet: „2022 – jetzt fängt alles erst an.“ | |
| 24 Mar 2023 | |
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| [6] https://bucha.life/ | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Oertel | |
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