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# taz.de -- Wiederaufbau in Butscha: Nach dem Massaker
> Die Kleinstadt Butscha wurde im März 2022 zum Inbegriff russischer
> Kriegsverbrechen in der Ukraine. Wie tief sitzen die Wunden heute? Ein
> Besuch.
Bild: Zerstörtes Gebäude am Stadtrand von Butscha
Butscha taz | Wer heute die Vokzalna-Straße [1][Richtung Butscha]
entlangfährt, sieht die Narben der russischen Besatzung zunächst nicht.
Statt der Bilder von verkohltem Asphalt, ausgebrannten Panzern und
eingestürzten Familienhäusern, die im Frühjahr 2022 um die Welt gingen,
begegnet einem wieder der unscheinbare Kyjiwer Vorort, der Butscha einmal
war: grün, ruhig, man könnte sogar langweilig sagen und das positiv meinen.
Nur eine Werbetafel erinnert an die Verwüstung der Stadt vor zweieinhalb
Jahren durch die russischen Besatzer. Über Fotos vom Wiederaufbau der
Verkehrsader steht „Hope for Bucha“: Hoffnung für Butscha.
„Alles erinnert mich an das, was hier geschehen ist“, sagt Oksana Dzham.
Die Ärztin leitet das Butscha-Zentrum für medizinische Grundversorgung, sie
empfängt die taz in ihrem Praxisbüro. Auf der Fensterbank: ein blaugelbes
Porträt von Präsident Wolodymyr Selenskyj, das man als „Fan-Kunst“
beschreiben könnte.
Die 50-Jährige mit kastanienbraunem Haar und blaukariertem Anzug tritt
selbstbewusst und gefasst auf. Aber als sie beginnt, über „das, was hier
geschehen ist“, zu sprechen, über das Massaker von Butscha, das sie hautnah
erlebte, über die Folgen für die Community, werden ihre Augen rot.
Der Name Butscha ist inzwischen weltweit bekannt, er steht für
[2][russische Kriegsverbrechen] – für Folter, Vergewaltigungen und
Massengräber. Nachdem Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfallen
hatte, erreichten Kremltruppen drei Tage später Butscha – 25 Kilometer vom
Zentrum der ukrainischen Hauptstadt entfernt.
Erst als ukrainische Streitkräfte [3][Butscha] am 31. März befreiten, wurde
das Ausmaß des Horrors bekannt: Mindestens 458 Tote, darunter neun
Minderjährige; Verstümmelte und verbrannte Leichen mit Kopfschusswunden und
gefesselten Händen; ein blutgetränkter Folterkeller an einem Zeltlager für
Jugendliche; Berichte von Vergewaltigungen von ukrainischen Frauen zwischen
14 und 24 Jahren – und neun dadurch entstandene Schwangerschaften.
## Schwere Traumata
Diesen Horror erlebte Dzham selbst. Sie war eine von rund 5.000 Menschen,
die während der Besatzung in Butscha blieben. Mit Hilfe von lokalen
Freiwilligen brach sie in Apotheken ein, um Medikamente zu beschaffen.
Mobile Teams behandelten Patient*innen vor Ort, die sich nicht mehr
fortbewegen konnten. In einer Grundschule eröffneten Dzham und ihr Mann ein
provisorisches Militärkrankenhaus: In der Sporthalle wurde operiert, in den
Klassenzimmern geschlafen. Sie zeigt Fotos davon auf ihrem Handy davon.
„Ich sah es als meine Pflicht an, zu helfen“, sagt Dzham. Für ihr
Engagement wurden sie und ihre Kolleg*innen im Juli 2024 vom
ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal ausgezeichnet. „Erst als
mir klar wurde, dass ich niemandem mehr helfen konnte, bin ich selbst
geflohen.“
Das war am 17. März 2022, zwei Wochen, bevor ukrainische Streitkräfte die
Stadt zurückerobern konnten. Nur Tage nach der Befreiung kehrte Dzham mit
einer Mission zurück: die Gesundheitsinfrastruktur wieder aufzubauen.
Heute wirkt ihr Büro zunächst wie eine typische Arztpraxis in einer ruhigen
Kleinstadt. Eine Mutter parkt ihren Kinderwagen vor der weißen
Backsteinfassade des Wohnblocks, in dessen Erdgeschoss die Klinik liegt,
und geht mit ihrer kleinen Tochter hinein. Am Empfang plaudern
Assistentinnen auf Ukrainisch und trinken Kaffee.
Bis heute ist Dzham mit den Folgen der Wochen im März 2022 fast täglich
konfrontiert. Manche Bewohner*innen würden an körperlichen
Langzeitfolgen der Besatzung leiden:
„Sie hatten zum Beispiel Lungenentzündungen, weil sie in feuchten Kellern
ausharren mussten.“ Soldaten kehrten mit Verletzungen oder fehlenden
Gliedmaßen aus dem Krieg nach Butscha zurück. Hinzu kämen diverse Traumata:
Ihr Team habe sich weitergebildet, um Patient*innen auch psychologisch
besser behandeln zu können, sagt sie.
## Raketenalarm beim Interview
Und wie geht es ihr persönlich, zwei Jahre später? Dzham hält inne und
schaut nach oben. Ein paar Tränen laufen eine Wange herunter. Sie sagt
nichts und winkt mit einer Hand ab, weil die Worte einfach nicht
herauskommen. Die Frage ist auch so beantwortet.
Im Zentrum von Butscha stehen Tafeln mit den Fotos und Namen gefallener
ukrainischer Soldaten. Hinter der St.-Andreas-Kirche, wo ein Massengrab
gefunden wurde, liegt ein Denkmal mit den Namen der 116 Ermordeten –
darunter 30 Frauen und zwei Kinder. Die meisten wurden per Kopfschuss
hingerichtet. Die Fassade der Kirche ist immer noch mit Schusslöchern
übersät.
Iryna Levchenko hat die Gräueltaten der russischen Truppen journalistisch
mitverfolgt. Die 51-Jährige mit blonden Haaren und roten Lippen ist seit
fünf Jahren Redakteurin bei der Lokalzeitung Buchanski Novyny
(Butscha-Nachrichten).
Levchenko steht vor dem Redaktionsbüro und zeigt Fotos von dessen
Zerstörung auf ihrem Handy. Nach der russischen Besatzung war das Gebäude
nur noch eine bröckelnde Ruine. Inzwischen wurde es saniert, außer der
löchrigen Betontreppe am Eingang, die aussieht, als würde sie gleich
einstürzen.
Bevor das Interview beginnen kann, wird es von Raketenalarm unterbrochen.
Levchenko zuckt die Schultern, die Sirenen gehören für sie längst zum
Alltag. Ob man jetzt in den Luftschutzbunker müsste? „Wir behalten die
Situation im Blick“, sagt sie unbeeindruckt und redet weiter.
Levchenko kümmerte sich während der Besatzung um ihre Mutter, die sich
nicht evakuieren lassen wollte. „Wir harrten zu Hause ohne Strom und Gas
aus“, sagt sie. Ohne Internet konnte die Journalistin nicht mehr berichten.
Fotos und Videos von der Besatzung zu machen sei lebensgefährlich gewesen,
erklärt sie. „Sie haben Leute deswegen erschossen.“ Dass sie ihren Beruf
nicht ausüben konnte, habe zu „Entzugserscheinungen“ geführt.
## Brot statt Zeitung
„Stattdessen habe ich ehrenamtlich Brot ausgeliefert“, sagt Levchenko. „U…
Brot ist zwar gut, aber die Community braucht auch die Nachrichten.“ Manche
Geschichten kursierten trotzdem. Levchenko erzählt von dem Schicksal der
Freundin einer Freundin, die auf der Suche nach Medikamenten gewesen und
nie wieder gekommen sei. „Zwei Wochen später wurde sie in einem anderen
Stadtteil aufgefunden, tot, vergewaltigt und gefoltert.“
Vor der Besatzung hatte die kleine Zeitung große Pläne: „Wir hatten in neue
Computer investiert und das Büro ausgestattet.“ Levchenko kehrte zu einer
zerstörten, ausgebrannten Redaktion zurück. „Nur ein Rechner hat noch
funktioniert. Ich habe erst mal auf Facebook geschrieben, dass ich noch
lebe.“ Einer ihrer ersten Artikel ging um eine Frau, die Wasser holen
wollte und von russischen Truppen erschossen wurde.
Für die erschütterte Community scheint das Lokalblatt eine wichtige Rolle
zu spielen. Die Zeitung behandelt nach wie vor die typischen Themen der
Lokalpresse: Schulkonzerte, Baupläne, Nachrufe. „Aber wir widmen uns auch
den starken Menschen, die Butscha nach dem Massaker wieder aufbauen“, sagt
Levchenko. Das mache Hoffnung.
Menschen wie Oleksandr Zaplatynskyy und Artem Franhulov: Die beiden haben
die NGO „Butscha Nezlamna“ gegründet – übersetzt „Butscha ist
unzerbrechlich“. „Butscha ist eine Stadt, die die russische Besatzung
überlebt hat. Unser Name steht deshalb für die Menschen, die daran
arbeiten, sie wiederaufzubauen“, erklärt Franhulov. Der kräftige 41-Jährige
mit Bart trägt ein T-Shirt der Organisation: Ihr Name prangt auf einer
blau-gelben Landkarte der Ukraine, als stünde die Resilienz Butschas für
die des ganzen Landes.
Zaplatynskyy, ein Jahr jünger, und der kleinere, ruhigere der beiden,
ergänzt: „Man hat seit dem russischen Überfall drei Optionen: arbeiten,
dienen oder sich ehrenamtlich engagieren“. Er und Franhulov entschieden
sich für Letzteres. Sie beliefern auch ukrainische Einheiten an der Front
mit Medikamenten, Schutzausrüstung und Fahrzeugen.
Die beiden Männer geben eine Führung durch die Erdgeschossräume der
Organisation in der Yablunska-Straße. „Wir nennen sie die Straße des Todes,
weil die Russen hier die meisten Menschen erschossen haben“, sagt
Franhulov. Auch Freunde gehören zu den Toten, sie selber konnten fliehen.
## Weg aus der Ohnmacht
Kartons voll mit Lebensmitteln, Windeln und Medikamenten ragen bis zur
Decke, an der Wand stehen Schuhregale und Kleiderstangen. Eine Mutter und
ihre Tochter suchen in einer Ecke nach Pullovern. Die Organisation führt
akribisch eine Excel-Tabelle mit einer Liste der Familien und Personen, die
noch Sachen benötigen. „Wir haben schon rund 40 Tonnen Sachspenden
verteilt“, sagt Zaplatynskyy stolz.
Seit der Befreiung ist Butscha auch ein Zufluchtsort für Geflohene aus dem
Osten des Landes. „Sie kommen an mit höchstens zwei Koffern und brauchen
alles von Kleidung bis Medikamente und Kindernahrung“, erzählt
Zaplatynskyy.
Das weiß er aus erster Hand: Aus seiner Heimatstadt Luhansk, heute von
russischen Separatisten mit Unterstützung des Kremls kontrolliert, mussten
er und seine Familie bereits 2014 fliehen. Inzwischen fühle sich Butscha an
wie zu Hause, sagt er. Er will Neuankömmlingen helfen, wie ihm selbst
damals geholfen wurde.
Auch wenn die ukrainische Offensive in der russischen Region Kursk derzeit
vielen im Land wieder Hoffnung macht, scheint ein Ende des Kriegs in weiter
Ferne zu sein.
Für Menschen wie Zaplatynskyy und Franhulov bedeutet
zivilgesellschaftliches Engagement, einen Weg aus der Ohnmacht zu bieten.
Sie sind angetrieben von den Gräueltaten der Besatzung: „Erst die
Generation, die das hier in Butscha nicht selbst erleben musste, wird frei
von diesem Horror sein“, sagt Zaplatynskyy. Die Heilung hat begonnen. Die
Narben bleiben.
21 Aug 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Nicholas Potter
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