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# taz.de -- Italienische Zeitschrift „MicroMega“: „Wir wollten nie gefall…
> Cinzia Sciuto ist Chefredakteurin der italienischen Zeitschrift
> „MicroMega“. Vor klaren Positionen zu umkämpften Themen scheut sie sich
> nicht.
Bild: „MicroMega“ verliert Leser wegen ihrer Haltung zum Ukrainekrieg, Demo…
taz: Frau Sciuto, herzlichen Glückwunsch, Sie sind seit Kurzem die neue
Chefredakteurin von MicroMega, als Nachfolgerin des Gründers Paolo Flores
d’ Arcais. Wie geht es Ihnen im neuen Job?
Cinzia Sciuto: Vielen Dank! In der Tat ist dieser Wechsel schon lange
vorbereitet. Vor zwei Jahren wurde ich schon Co-Chefin, bei MicroMega
arbeite ich seit zwanzig Jahren. Nur bin jetzt eben ich es, die vor Gericht
erscheint, wenn wir verklagt werden, also passt gut auf, was ihr schreibt –
das habe ich den Kollegen zum Einstand gesagt. (lacht) Und dann bin ich
einfach sehr stolz und enthusiastisch, diese Zeitschrift mit ihrer großen
Tradition weiterführen zu dürfen, möglichst noch mal 38 Jahre.
taz: In Deutschland haben zuletzt linke Titel [1][wie konkret oder Titanic]
um ihr Überleben kämpfen müssen. Was sind die Herausforderungen für eine
linke Zeitschrift in Italien heute?
Sciuto: Wir müssen ganz pragmatisch sein. Die wahre Herausforderung ist es,
das Geld aufzutreiben, um weiterzumachen. Bis vor drei Jahren waren wir
Teil einer großen Verlagsgruppe, die unter anderem auch die Tageszeitung la
Repubblica herausgibt. Das war für uns sehr bequem, denn wir konnten unsere
Linie verfolgen, ohne allzu sehr auf die Kosten achten zu müssen. Jetzt
sind wir auf uns allein gestellt, und das ist nicht einfach. Aber ich
hoffe, dass wir die Aufgabe zusammen mit unseren Lesern stemmen werden –
denn wir leben ausschließlich vom Verkauf und verzichten auf der Webseite
auf Werbung. Wir wollen auch im Internet auf der ästhetischen Ebene ein
hochwertiges Produkt anbieten. Wirklich gelohnt hat sich die Werbung auf
der Webseite eh nie. Stattdessen setzen wir darauf, dass unser
Nischenpublikum für höchste Qualität auch online zu zahlen bereit ist.
taz: Was bedeutet es heute, gegen „die herrschenden Konformismen“ zu sein
und das aufklärerische Element innerhalb der Linken zu betonen, wie es in
einer Selbstbeschreibung von MicroMega heißt?
Sciuto: Wir wollten nie gefallen, auch nicht unseren Lesern, im Gegenteil,
wir gehen den Leuten gern auf die Nerven. Wir verzichten nicht auf die
großen Ideen und verfolgen die philosophischen Debatten. Gegen Konformismen
zu sein bedeutet, sich nicht der intellektuellen Faulheit zu überlassen,
auch nicht der eigenen linken Nische. So haben wir zum Beispiel die
Tendenzen eines relativistischen, oberflächlichen Multikulturalismus immer
kritisiert, der nur die bunten Seiten des Zusammenlebens zur Kenntnis nimmt
und die Herausforderungen, die von patriarchalen, reaktionären Kulturen
ausgehen, ignoriert. Gerade in Deutschland ist das ein riesiges Problem.
taz: Welches?
Sciuto: Ich weiß nicht, ob ich hier auf die deutsche Regierung schimpfen
darf.
taz: Unbedingt!
Sciuto: Wer glaubt, man könne das Problem des islamistischen Terrors durch
Grenzschließungen bekämpfen, der hat nun wirklich nichts verstanden. Die
Grenzen schließen und gleichzeitig mit den radikalen islamischen Verbänden
kuscheln und ihnen zum Beispiel den Religionsunterricht in den Schulen zu
überlassen, das ist schizophren und rein symbolisch. Man hat das
radikal-islamische Milieu viel zu lange ignoriert und gewähren lassen.
Anstatt sich mit dem Phänomen zu beschäftigen, schiebt man Leute nach
Afghanistan ab und schränkt die Grundrechte ein. Diese Haltung haben wir
immer bekämpft und werden das auch weiter tun.
taz: Ihr Laizismus hat aber auch spezifisch italienische, antiklerikale
Wurzeln?
Sciuto: Absolut. Unser Hauptziel war immer die Kultur der katholischen
Kirche. Die katholische Bischofskonferenz etwa ist in Italien ein sehr
bedeutender politischer Machtfaktor, wenn auch inzwischen abgeschwächt.
Aber der Kampf gegen die Kirche war nie Selbstzweck. Wenn Imame, Rabbis,
Sikhs oder Hindus antiaufklärerische Werte vertreten, dann bekämpfen wir
die genauso; und zwar auch – und da gibt es oft Konflikte mit anderen
Linken –, wenn es sich um Religionen von Minderheiten handelt. Aber wir
kämpfen gegen die Ideen, nicht gegen die Menschen. Das ist der
grundsätzliche Unterschied zwischen Faschisten und Demokraten.
taz: Die Wahrnehmung der Dringlichkeit der multiplen Krisen der Gegenwart
ist in Italien und Deutschland innerhalb der Linken sehr unterschiedlich.
Bei Gesprächen in Italien scheint mir die Klimakrise unterbewertet, ja
ausgeblendet. Kritische Solidarität mit Israel gibt es in der italienischen
Linken eigentlich überhaupt nicht und auch der Kampf der Ukraine gegen den
russischen Aggressor findet vergleichsweise wenig Sympathien. Stimmen Sie
dem zu und wenn ja: Woher kommen diese unterschiedlichen Sichtweisen?
Sciuto: Das sind in der Tat die drei Hauptthemen, die auch uns
beschäftigen. Die Klimakrise war bei MicroMega nie adäquat präsent, und
doch steht sie in perfektem Einklang mit unserer Einstellung zur
Wissenschaft (ein weiterer Aspekt, der uns in Konflikt mit einem gewissen
linken Flügel bringt, der oft augenzwinkernd antiwissenschaftliche
Positionen vertritt). Heute ist die Wissenschaft der beste Verbündete der
Umweltbewegungen. Die verstärkte Auseinandersetzung damit wird unseren
neuen Kurs charakterisieren. Das muss auch deswegen sein, weil die Ignoranz
und Vertuschung der derzeitigen italienischen Regierung und der von ihr
beherrschten Medien im Zusammenhang mit der Klimakrise kriminell genannt
werden muss.
taz: Und der Gazakonflikt?
Sciuto: Was die kritische Solidarität mit Israel angeht, möchte ich
betonen, dass es auch eine kritische Solidarität mit Palästina geben muss:
Ein Volk ohne Staat, das mindestens seit 1967 unter Besetzung lebt. Was
nicht gelingt, ist, sich kritisch mit den Formen auseinanderzusetzen, die
der berechtigte Widerstand des palästinensischen Volkes unter der Führung
der Hamas angenommen hat. Wir bei MicroMega verstehen nicht, wie man
Sympathien haben kann für eine reaktionäre, faschistische Bewegung wie die
Hamas. Da gibt es gar nichts, was Linke irgendwie faszinieren darf. Wir
haben keine Ansprechpartner in der Region, das ist das Drama. Entweder sind
die Leute in israelischen Gefängnissen oder sie sind von der Hamas
liquidiert worden. In Italien ist es heute sehr schwierig, diese Position
der rigorosen Opposition gegen die rechtsextreme Politik der Regierung
Netanyahu zu vertreten und gleichzeitig die barbarischen Methoden der Hamas
ohne Wenn und Aber zu verurteilen. Ich finde die Situation der öffentlichen
Debatte in Deutschland aber noch schlechter.
taz: Inwiefern?
Sciuto: Kritik an Israel wird hier immer wieder mit Antisemitismus
gleichgesetzt. Das ist brandgefährlich. Es ist nämlich nicht nur
berechtigt, die Regierung Netanjahu zu kritisieren. In einer freien
Gesellschaft muss das gesamte politische Handeln eines Staates kritisierbar
sein, das dieser seit 70 Jahren vorantreibt.
taz: Wenn wir über Meinungsfreiheit sprechen: „From the river to the sea“
wäre ein Satz, der bei MicroMega seinen Platz hätte?
Sciuto: Nein, das könnte nicht in einem unseren Artikel stehen. Ein Artikel
muss erklären, was beabsichtigt wird, das leistet ein Slogan von der Straße
nicht. Das Problem ist aber, dass [2][dieses „From the river to the sea“
als antisemitisch stigmatisiert wird], wenn es von propalästinensischer
Seite kommt; ausgeblendet wird, dass „From the river to the sea“ exakt das
Programm der israelischen Rechten ist, was die Vertreibung der
palästinensischen Bevölkerung angeht. Wir haben es mit zwei faschistischen
Rechten zu tun. Es gibt aber auch diejenigen, für die „From the river to
the sea“ für einen föderalen Staat steht, in dem alle Bevölkerungsgruppen
friedlich zusammenleben können, ein Staat, der dann wahrscheinlich weder
Israel noch Palästina heißen wird. Alles durch ein vereinfachtes Schema zu
verflachen, ist niemals ein Beitrag zu einer rationalen Debatte.
taz: Jetzt aber Richtung Ukraine!
Sciuto: Das war eine wirkliche Zäsur. Wir haben sehr viele Leser und
Autoren verloren, weil wir von Anfang an den Widerstand der Ukraine gegen
die russische Aggression unterstützt und mehr Hilfe eingefordert haben. Die
Überlegung dabei war, dass [3][der unbedingte, oft religiös fundierte
Pazifismus nicht zur Geschichte der Linken gehört]. Denn die Linke hat
immer zu den Waffen gegriffen, wenn es sich nicht vermeiden ließ, beginnend
mit dem antifaschistischen Widerstand in Italien, der ein bewaffneter
Widerstand war. Nach drei Jahren Krieg fragen wir uns natürlich, hätten wir
mehr tun können, müssen wir die Strategie überdenken? Wir werden jedenfalls
nicht nachlassen, die linken Kräfte in der Ukraine zu Wort kommen zu
lassen, die unsere aufklärerischen Werte unterstützen.
5 Oct 2024
## LINKS
[1] /Linke-Medien-in-der-Krise/!5956344
[2] /Verbot-von-from-the-river-to-the-sea/!6039211
[3] /Sahra-Wagenknecht-und-der-Pazifismus/!6036622
## AUTOREN
Ambros Waibel
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