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# taz.de -- Kriegstote in der Ukraine: Leben mit dem Sterben
> Nahezu jeder in der Ukraine kennt im russischen Angriffskrieg Gefallene.
> Wie können Hinterbliebene und Gesellschaft mit dem Verlust weiterleben?
Lwiw und Kyjiw taz | Eine junge Frau hockt neben einem mit Blumen bedeckten
Sandhügel im Staub. Sie hat ihre Knie an den Oberkörper gezogen und spricht
leise, ihren Blick auf das Foto eines jungen Mannes in Tarnuniform
gerichtet, das an einem dunklen Holzkreuz hängt. Ein Schnapsfläschchen
steht auf dem Sand, am zweiten nippt sie. Tränen rollen über ihr rotes
Gesicht. Um sie herum flattern im trockenen Sommerwind Hunderte gelb-blaue
Ukraineflaggen.
Ein Stück entfernt sitzen zwei ältere Frauen auf der Bank an einem
befestigten Grab. Sie haben Salat, belegte Brote und Hochprozentiges dabei.
Ein wenig von allem legen sie auf die Steinplatte. Dann essen und trinken
sie, erzählen und lachen laut. Am anderen Ende des Gräberfelds fahren Autos
vor. Anhalten, aussteigen, bekreuzigen, innehalten, weiterfahren. An vielen
Gräbern liegen frische Quarkkäulchen, Schokoriegel, Kaffeegläser oder eben
Schnapsflaschen. Die Toten werden häufig besucht.
Russland hat [1][mit seinem Angriffskrieg] ein großes Sterben in die
Ukraine gebracht. Wie hier auf dem Waldfriedhof in Kyjiw wachsen überall in
der Ukraine die Friedhöfe, um die vielen neuen Toten beerdigen zu können.
Zivilist*innen sterben durch Raketen und Drohnen, die Russland täglich
auf Orte im ganzen Land abfeuert. Soldat*innen fallen im Kampf an der
Front. [2][Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt], denn militärische
Verlustzahlen werden aus strategischen Gründen nicht veröffentlicht. Eine
offizielle Sterblichkeitsstatistik gibt es nicht, doch Soziolog*innen
und Mediziner*innen sagen, dass auch Sterbefälle durch Erkrankungen
zunehmen: Andauernder psychischer Stress und ein belastetes
Gesundheitssystem erschweren Behandlung und Heilung.
Auf den Friedhöfen gibt es neben zivilen Gräbern Kriegsabteilungen. Dort
liegen [3][seit 2014 im Donbas]s Gefallene, seit eineinhalb Jahren auch im
sogenannten großen Krieg getötete Soldat*innen. Zwischen den zivilen
Toten sind einige Menschen anonym beerdigt, die noch nicht identifiziert
sind. Über einen zentralen nationalen Heldenfriedhof in der Hauptstadt wird
emotional gestritten.
All diese Toten hinterlassen noch mehr Angehörige mit Trauer, Angst,
Schuldgefühlen und Wut. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) meldete auf
Grundlage von Statistiken anderer Kriegsgebiete, dass rund 22 Prozent der
Kriegsbetroffenen unter psychischer Belastung litten: in der Ukraine etwa
10 Millionen Menschen. Das Gesundheitsministerium rechnet laut einer
Bedarfsanalyse gar mit 15 Millionen, die schon jetzt psychologische
Betreuung benötigten.
Wie umgehen mit Verlust und Schmerz? Wie weiterleben mit dem omnipräsenten
Sterben und Töten, während der Krieg andauert? Die taz hat Betroffene auf
Friedhöfen und an Orten traumatischer Erlebnisse sowie eine
Traumapsychologin gesprochen. Sie sind sich einig: Dieser Schmerz wird
bleiben. Und die Gesellschaft verändern.
Im westukrainischen Lwiw sitzt Alla Tschajka an einem Julimontag am Grab
ihres Sohns. Es ist eines von über 400 Heldengräbern auf dem sogenannten
Marsfeld, benannt nach den Militäraufmarschplätzen im alten Rom. Täglich
werden es mehr, neue Gruben sind bereits ausgehoben. Dieser Ehrenhain für
gefallene Soldat*innen grenzt direkt an den historischen
Lytschakiwskyj-Friedhof, bekannt für viele habsburgische, polnische,
ukrainische Grabstätten verschiedener Epochen.
Routiniert wischt Alla Tschajka den Staub von Holzrahmen, Kreuz und
Engellämpchen, pflegt die Blumen, legt Süßigkeiten auf die Steinchen. Das
Foto vor ihr zeigt Sohn Taras in Uniform. „Gestern vor einem Jahr habe ich
ihn zum letzten Mal persönlich gesehen“, sagt sie. „Danach nur noch per
Videocall.“
Trotz einer Immunkrankheit hatte sich der 29-jährige Jurist im Februar 2022
als Freiwilliger zum Militärdienst gemeldet, kam im Sommer zur Aufklärung
an die Front. Seine Mutter unterstützte die Entscheidung: „Er hätte sich
nicht melden müssen, aber hielt es für richtig. Ich war und bin stolz auf
ihn.“
Am 2. November wurde Taras im Gebiet Donezk bei einer Evakuierung durch
russische Artilleriegeschosse getötet. Das sei an der Straße zwischen Lyman
und Kreminna gewesen, habe die Mutter später von seinen Kameraden erfahren.
Die Gegend gilt bis heute als einer der gefährlichsten Frontabschnitte.
Taras Tschajka hatte vor dem Krieg als Insolvenzverwalter gearbeitet. Seine
Einheit schreibt in einem Abschiedspost auf Facebook über ihn: „Er glaubte
daran, dass man sich bei allen Streitigkeiten einigen sollte und kann.“
Eine Petition von Kolleg*innen und Verwandten fordert von Präsident
Wolodimir Selenski, Tschajka als Helden auszuzeichnen. Am 12. November
brachte ihn ein öffentlicher Trauerzug vom Gedenkgottesdienst in der
Garnisonskirche über den Markt zum Friedhof.
Alla Tschajka ist seitdem jeden Tag hier, bei jedem Wetter. Sie hat dafür
in ihrem Bürojob von Voll- auf Teilzeit gewechselt. Manchmal begleiten sie
Taras’ Witwe, seine fünfjährige Tochter oder der Zwillingsbruder Nasar.
Alla Tschajka spricht langsam, gefasst. „Er war schon Kommandeur, wollte an
jenem Tag unbedingt selbst fahren − im dritten Auto.“ Das mit dem dritten
Fahrzeug im Konvoi ist wichtig. Denn sobald feindliche Truppen das erste
Auto einer Kolonne entdecken, können sie ihre Feuerwaffen darauf
ausrichten. Das erste und zweite Auto schaffen sie dann meist noch nicht zu
treffen, aber weitere – dritte und vierte Fahrzeuge – schon. Ihr Sohn habe
sich für seine Kameraden geopfert, sagt die Mutter weinend. Dann lächelt
sie: „Manchmal, wenn ich allein zu Hause bin, höre ich noch immer seine
Schritte in der Wohnung. Ich träume von Gesprächen mit ihm. Ich weiß, dass
er da ist.“
Ein paar Reihen hinter Alla wird eine Diskussion laut. Ein paar Frauen
diskutieren über Staatshilfen für Hinterbliebene. Eine Frau erzählt
aufgeregt: „Mein Sohn war Minenräumer, bekam einen Auftrag am Abend. Da
sprengte ihn eine Mine in die Luft.“ Dennoch habe sie keinerlei Finanzhilfe
bekommen, weil ihr Sohn nicht bei direkten Kampfhandlungen getötet wurde.
Die Frau weint, ihre Freundin umarmt sie fest.
Alla Tschajka hört kurz zu, zuckt mit den Schultern. „Freundschaften oder
Ehen können zerbrechen, aber das eigene Kind zu verlieren, das ist das
Schlimmste. Diesen Schmerz kann nichts und niemand wiedergutmachen.“ Auch
kein Geld, keine Heldenehren.
Die Trauernden grüßen sich – man kennt sich auf dem Friedhof. „Wie geht�…
− „Ganz gut.“ Selten mehr. Alle hättenen mit dem eigenen Schmerz und der
eigenen Wut zu tun, sagt Alla. Sie beispielsweise sei wütend, dass sie
ihren Sohn verlor, während andere Familien [4][ihre „Männer versteckten“],
ihnen Krankheiten bescheinigten oder sie gar illegal ins Ausland gehen
ließen.
Ihr einziger Lichtblick: Direkte Verwandte Gefallener dürfen nicht
mobilisiert werden, Taras’ Zwillingsbruder − Allas verbleibender Sohn −
wird also bleiben. „Zum Glück. Ich will nicht noch einen Sohn hergeben, so
wichtig die Verteidigung unserer Ukraine auch ist.“ Dann holt sie ihr
Telefon aus der grauen Lederhandtasche und zeigt Selfies von ihrem toten
Sohn, Fotos von dessen Frau und Tochter. Schwere Tränen rollen über ihre
Sommersprossen. „Wenn ich hier bin, fühle ich, dass Taras noch da ist.“
Bekannte rieten ihr schon, seltener zu kommen. Besser vergessen, sich nicht
jeden Tag an den Verlust ihres Sohnes erinnern. Vielleicht mal zum
Psychologen gehen. Aber Alla Tschajka ist skeptisch: „Andere hier sind
schon abhängig von Psychopharmaka, wie bei Junkies zittern ihre Hände. Ich
will Taras auch nicht vergessen, ich muss die Trauer leben. Nur hier bin
ich innerlich ruhig.“
## Fotos von Misshandelten noch auf dem Handy
500 Kilometer östlich kann Elena Galaka mit innerer Ruhe nichts anfangen.
Wie Tschajka ist sie Mitte 40 und Mutter. Galaka lebt in Butscha, dem
Kyjiwer Vorort, nach dessen Befreiung im Frühjahr 2022 erstmals
[5][abscheulichste Gräueltaten russischer Truppen] ans Licht kamen: Folter,
Vergewaltigungen, willkürliches Verwunden und Töten. Galaka ist Polizistin
und hat jene Kriegsverbrechen mit dokumentiert als Beweise für künftige
Prozesse. Fotos und Videos von Misshandelten und Getöteten sind noch immer
auf ihrem Handy.
Ihre fünf Kinder hatte Galaka während der Kämpfe zu einer Freundin nach
England gebracht. Sie selbst blieb in Kyjiw. Mittlerweile sind alle zurück,
leben in einem ruhigen Einfamilienhaus am Wald. Der Blick übern Gartenzaun
fällt auf eine Ruine, zerschossen von einer russischen Rakete. Elena wuchs
in Butscha auf, damals gehörte es noch nicht zum Kyjiwer Speckgürtel. Unter
den Besatzungsopfern und Fronttoten aus Butscha sind ihre Nachbar*innen,
Freund*innen, Bekannte.
An einem Julisonntag besucht Elena Galaka nun zum ersten Mal die
„Heldenallee“ im Zentrum. Familien konnten Fotos und Kurzbiografien ihrer
Gefallenen dafür bei der Stadt einreichen. Auf etwa 20 Posterständern sind
insgesamt 800 Personen porträtiert. Galaka kennt fast jedes zweite Gesicht.
Da bleibt sie stehen, wischt sich mit dem Handrücken über das geschminkte
Gesicht. Schnieft und erzählt: Mit dem einen ging sie zur Schule, ein
anderer war der Sportlehrer ihrer Kinder, ein Dritter ein Polizeikollege.
Sie alle sind an der Front gefallen.
Sie unterdrückt Tränen, geht mit kräftigen Schritten weiter. „Ich war
bisher nie hier. Ich dachte immer, ich halte das nicht aus“, sagt sie,
„aber irgendwann muss ich das ja schaffen.“ Dann will sie noch zum
Stadtfriedhof. „Der ist jetzt dreimal so groß, so viele Tote gibt es bei
uns.“ Hinter Hunderten Gräbern steht eine Ukraineflagge einsam auf einer
ungemähten Wiese. „Dieser Platz ist für die kommenden Fronttoten
reserviert“, sagt Galaka. „Man erwartet wohl noch einige.“ Wieder schnieft
sie. Und stapft zu den Besatzungsopfern. Auf einem Grabtisch mit Tischdecke
steht ein frisch gebackener Kuchen.
Viele Kreuze tragen Nummern, die Toten sind noch nicht identifiziert.
Offiziell wird von 400 Opfern der russischen Besatzung in Butscha
gesprochen. Die Zahlen auf dem Friedhof reichen bis 681. Manche tragen
Namen, auch hier kennt die Polizistin einige.
Wenn Elena Galaka durch Butscha fährt, sieht sie überall den Tod, etwa
hinter der Sankt-Andreas-Kathedrale, wo Tote aus einem Massengrab geholt
wurden. In einer Eigenheimsiedlung zeigt sie: „Wenn vor den Häusern zwei
ausgebrannte Autos stehen, dann war zum Zeitpunkt des Einschlags die ganze
Familie zu Hause. Also jetzt alle tot.“ Am Bahndamm: „Hier lagen verminte
Leichen.“
Das neu eröffnete Café in einem Waldstück ärgert sie besonders. Im Frühjahr
2022 wurden hier Menschen verbrannt. Galaka zeigt das leer stehende
Wohnhaus der Opfer in der Nähe: „Hier hat man die Familie erschlagen, dann
in das Wäldchen geschleift. Dort angezündet.“ Sie zeigt die Stelle,
vergleicht die Perspektive mit Fotos und Videos von damals: ein Haufen
gelb-braun-schwarzer Körper mit eitrig-weißen Augenhöhlen, geschmolzenen
Kleidungs- und Hautfetzen. Beine und Arme vom Feuer zerfressen. Hände und
Füße wie Krallen erstarrt. In offenen Rippen schimmert rotes Blut.
„Jetzt wird hier bis spät gefeiert. Dem Cafébetreiber ist egal, was hier
passiert ist.“ Sie habe ihn schon angesprochen, sei laut geworden. Wütend
fluchen − das kann sie gut. „Für viele hier ist der Krieg vorbei. Aber das
alles geht weiter, nur woanders.“
Elenas Hände zittern, als sie wieder im Auto sitzt. „Puh“, sie atmet
schwer, „ich habe nicht erwartet, dass mich dieser Ort so belastet.“ Sie
trinkt hastig aus der Wasserflasche, raucht eine E-Zigarette. Wie sie das
Erlebte verarbeitet? „Gar nicht, keine Zeit.“ Wie viele andere
Fronthelfende und Soldat*innen sagt sie: „Wenn ich jetzt zur
Psychotherapie gehe, dann falle ich aus.“ Aber sie müsse einsatzfähig sein:
für ihre fünf Kinder, für ihre Polizeisondereinsätze an der Front, für ihre
Hilfsfahrten mit Lebensmitteln und Zusatztechnik für die Aufklärungseinheit
ihres Lebensgefährten. Diese habe gerade versucht, im Südosten die
russische Frontlinie zu durchbrechen.
Elena wartet nervös auf Lebenszeichen. „Ich bin so wütend darüber, was uns
diese Monster antun. Ich muss jetzt durchhalten, arbeiten, mithelfen,
mitkämpfen, damit wir endlich gewinnen“, sagt sie. „Alles andere dann nach
dem Sieg.“
## Den richtigen Weg des Trauerns finden
Sich der Trauer ergeben oder den Schmerz verdrängen − was ist richtig?
Natürlich will Psychologin Susanna Anhelowa das so einfach nicht bewerten.
Sie sagt: „Wir müssen wegkommen von strengen Regeln hin zu einer
reflektierten Gedenkkultur. Wichtig ist, dass die Person den für sie
richtigen Weg des Trauerns findet.“
Susanna Anhelowa sitzt am Dniprostrand im Kyjiwer Stadtteil Obolon.
Rundherum wird gebadet und gepicknickt. Anhelowa ist Psychologin, arbeitet
seit 2014 mit traumatisierten Menschen, betreut individuell
Patient*innen und seit 2022 auch vom Krieg betroffene Familien mit
Kindern in mehrwöchigen NGO-Erholungsprojekten, deren Programm sie mit
erarbeitet hat.
Jüngst träumte sie von ihrer Arbeit: Sie trat vor eine Gruppe aus rund 30
Personen. „Darunter waren die Lebenden und auch die Toten.“ Alle stellten
sich vor, berichteten von ihren Erlebnissen. „Und ich konnte plötzlich die
Lebenden und Toten nicht mehr unterscheiden.“ Die Toten blieben Teil des
Lebens, sagt sie.
„Beziehungen enden nicht mit dem Tod, sie entwickeln sich auch danach
weiter. Und Trauer ist so ein Teil der Liebe.“ Dazu könne dann der
regelmäßige Besuch am Grab des Verstorbenen wie bei Alla Tschajka in Lwiw
ebenso gehören wie die Arbeitswut bei Elena Galaka in Butscha.
Hauptziel der Trauma-Arbeit sei dann emotionale Stabilität, auch durch
Legitimierung und Akzeptanz aller Gefühle. Traurigkeit, Wut, Angst, Hass,
Schuld: „Alle diese Emotionen sind normal.“ Leider, so die Psychologin, sei
das Trauern noch immer oft von religiösen Vorstellungen geprägt, deren
Einfluss in Kriegszeiten wieder zunehme. Viele Menschen suchten da Halt und
Orientierung. Doch gepredigt werde Vergebung ohne Raum für Gefühle wie Wut,
Hass und Rache.
Viel zu oft schämten sich Betroffene dann für ihre Gefühle. Eltern weinten
nur versteckt, damit Kinder es nicht sähen. Diese übernähmen das und
weinten auch nur noch heimlich. Das ist das Einzige, was Susanna Anhelowa
falsch findet: „Denn so verschließt der Schmerz den Menschen in einer
Kapsel, dann vereinzelt man in der Gemeinschaft, die Gesellschaft zerfällt
− daran arbeitet der Feind mit seinem Krieg. Das ist auch ein Krieg auf
psychologischer Ebene.“ Was sie ihren Patient*innen vermittelt: sich
das Weinen erlauben, neue Kontakte knüpfen, um auch Schmerz zu teilen. Dann
Kraftquellen und Sinn im eigenen Alltag finden. Dazu kämen Atem- und
Muskelübungen für Stresssituationen.
Es helfe, sich der eigenen Rolle als Mutter, Polizistin, Fronthelfende,
Soldat, Ehefrau, Journalistin und so weiter bewusst zu werden und darin
sinnvolle Aufgaben zu definieren. Zu lernen, in jedem Moment etwas
Positives zu entdecken. Viel mehr sei im Krieg auch kaum möglich. Denn der
wirke wie eine „Betäubung“, viele Verarbeitungsprozesse blieben
eingefroren. Durchhalten sei gefragt. Vor allem unter Soldat*innen, aber
auch unter der Zivilbevölkerung.
All das betrifft Susanna Anhelowa als Psychologin auch persönlich. Darum
beherzigt sie die Ratschläge, die sie anderen empfiehlt. Zum Beispiel in
einem seltenen Schockmoment in der ersten Gruppensitzung mit älteren Frauen
über 50 aus den Kriegsgebieten im Osten: „Sie sprachen sofort detailliert
darüber, in welchen Zuständen sie die Leichen ihrer Angehörigen gefunden
hatten. Wie weit Körperteile auseinanderlagen, wie sehr verkohlt sie waren.
Das waren für sie ganz normale Informationen, so zum Kennenlernen.“
Sie spürte, wie sich ihr Magen vor Stress verkrampfte, zweifelte, ob sie
dieses Gespräch aushalten werde. „Wenn es schwer wird, frage ich mich: Wer
bin ich, was mache ich hier?“ Anhelowas professionelle Rolle fordert, „den
Schmerz der anderen nicht als eigenen Schmerz anzunehmen“. Ihre Kraftquelle
sei auch dieser Dniprostrand hier, unweit ihrer Wohnung. „Ich schwimme hier
morgens und abends, wenn wenig los ist. Im Wasser habe ich das Gefühl,
wirklich loslassen zu können.“
## Erinnerungskultur statt Heldenmythen
Gesamtgesellschaftlich wünscht sich die Psychologin statt der in den
sozialen Netzwerken und auf Straßenplakaten omnipräsenten Heldenmythen eine
Erinnerungskultur: „Überall heißt es, Helden sterben nie − aber doch,
unsere Helden hier sterben. Jeden Tag, sehr viele.“ Es habe ja schon früher
viel Schmerz in der ukrainischen Geschichte gegeben: [6][Holodomor],
Repressionen, Zweiter Weltkrieg, Annexion der Krim, Donbasskrieg − „aber
der Schmerz wurde in der Geschichte immer von Russland unterdrückt“.
Vor allem zu Sowjetzeiten habe es keine Möglichkeiten gegeben, ukrainischer
Opfer zu gedenken. „Dieser Schmerz jetzt wird uns endgültig von den Russen
trennen und auch die letzten Verbindungen einiger Sowjetnostalgiker
auflösen.“
Und dann, nach dem ukrainischen Sieg, hofft sie, könnten aus dem Schmerz
Bewegungen entstehen. „Die gemeinsame Wut müsste man kanalisieren − erst
gegen den Feind, dann für die eigene Gesellschaft: für mehr soziale
Gerechtigkeit, neue Gesetze, besonders natürlich gegen Korruption.“ Die
Regierung von Präsident Selenski versucht tatsächlich,
Anstrengungsbereitschaft zu signalisieren: Anfang der Woche erst [7][musste
Verteidigungsminister Oleksij Resnikow gehen], nachdem Recherchen von
Journalisten nahelegten, dass in seinem Ministerium Gelder veruntreut
wurden.
## Bedeutung der psychischen Gesundheit erkannt
Der ukrainische Staat hat die Bedeutung der psychischen Gesundheit für die
Kriegsgesellschaft indes erkannt. Denn natürlich sind Auswirkungen auf
Kampfmoral, wirtschaftliche Entwicklung und Nachkriegsperspektiven zu
erwarten. Die First Lady Olena Selenska hat zu ihrem Anliegen gemacht, was
sie schon im Mai 2022 in einer Videobotschaft an die WHO erklärte: „Wir
kämpfen auch um die mentale Gesundheit unserer Leute. Nachdem sie
Besatzung, Front, Beschuss und die Zeit in Schutzbunkern oder in der Fremde
überlebt haben werden, brauchen sie Rehabilitation wie physisch
Verwundete.“
Selenska initiierte zusammen mit WHO und Gesundheitsministerium das
Programm Ty jak? („Wie geht’s dir?“). Es soll psychische Erkrankungen und
Therapien von Stigmata befreien. Dazu gehört eine große Medienkampagne in
den sozialen Netzwerken und mit unzähligen Plakaten an Bahnhöfen, Straßen
und in Metrostationen. Außerdem werden Weiterbildungen von Fachpersonal
sowie 20 sogenannte Resilienzzentren für kostenlose und zertifizierte
psychologische Hilfe eingerichtet. Die ersten Pilotprojekte haben schon
begonnen.
Traumapsychologin Anhelowa kennt das Projekt natürlich, ist aber skeptisch:
Die Kampagne bringe mehr Sichtbarkeit und könne die Tabuisierung
abschwächen. Aber bisher sei das eher Symbolpolitik, langfristig würden da
noch viel mehr Investitionen nötig. Ob der Staat sich das leisten kann und
will, müsse sich zeigen.
Sicher ist nur: Der Krieg bringt weiter Tote und Belastung, der Schmerz
wird bleiben.
9 Sep 2023
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[2] /Russische-Opfer-im-Ukraine-Krieg/!5945971
[3] /Ukrainische-Kriegsgeschichte/!5853155
[4] /Kriegsdienstverweigerer-in-der-Ukraine/!5881494
[5] /Wiederaufbau-in-Butscha/!5921387
[6] /Holodomor-die-Hungersnot-in-Kasachstan/!5939662
[7] /Verteidigungsminister-in-der-Ukraine/!5957668
## AUTOREN
Peggy Lohse
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8. Mai 1945
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