# taz.de -- Kriegstote in der Ukraine: Leben mit dem Sterben | |
> Nahezu jeder in der Ukraine kennt im russischen Angriffskrieg Gefallene. | |
> Wie können Hinterbliebene und Gesellschaft mit dem Verlust weiterleben? | |
LWIW UND KYJIW taz | Eine junge Frau hockt neben einem mit Blumen bedeckten | |
Sandhügel im Staub. Sie hat ihre Knie an den Oberkörper gezogen und spricht | |
leise, ihren Blick auf das Foto eines jungen Mannes in Tarnuniform | |
gerichtet, das an einem dunklen Holzkreuz hängt. Ein Schnapsfläschchen | |
steht auf dem Sand, am zweiten nippt sie. Tränen rollen über ihr rotes | |
Gesicht. Um sie herum flattern im trockenen Sommerwind Hunderte gelb-blaue | |
Ukraineflaggen. | |
Ein Stück entfernt sitzen zwei ältere Frauen auf der Bank an einem | |
befestigten Grab. Sie haben Salat, belegte Brote und Hochprozentiges dabei. | |
Ein wenig von allem legen sie auf die Steinplatte. Dann essen und trinken | |
sie, erzählen und lachen laut. Am anderen Ende des Gräberfelds fahren Autos | |
vor. Anhalten, aussteigen, bekreuzigen, innehalten, weiterfahren. An vielen | |
Gräbern liegen frische Quarkkäulchen, Schokoriegel, Kaffeegläser oder eben | |
Schnapsflaschen. Die Toten werden häufig besucht. | |
Russland hat [1][mit seinem Angriffskrieg] ein großes Sterben in die | |
Ukraine gebracht. Wie hier auf dem Waldfriedhof in Kyjiw wachsen überall in | |
der Ukraine die Friedhöfe, um die vielen neuen Toten beerdigen zu können. | |
Zivilist*innen sterben durch Raketen und Drohnen, die Russland täglich | |
auf Orte im ganzen Land abfeuert. Soldat*innen fallen im Kampf an der | |
Front. [2][Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt], denn militärische | |
Verlustzahlen werden aus strategischen Gründen nicht veröffentlicht. Eine | |
offizielle Sterblichkeitsstatistik gibt es nicht, doch Soziolog*innen | |
und Mediziner*innen sagen, dass auch Sterbefälle durch Erkrankungen | |
zunehmen: Andauernder psychischer Stress und ein belastetes | |
Gesundheitssystem erschweren Behandlung und Heilung. | |
Auf den Friedhöfen gibt es neben zivilen Gräbern Kriegsabteilungen. Dort | |
liegen [3][seit 2014 im Donbas]s Gefallene, seit eineinhalb Jahren auch im | |
sogenannten großen Krieg getötete Soldat*innen. Zwischen den zivilen | |
Toten sind einige Menschen anonym beerdigt, die noch nicht identifiziert | |
sind. Über einen zentralen nationalen Heldenfriedhof in der Hauptstadt wird | |
emotional gestritten. | |
All diese Toten hinterlassen noch mehr Angehörige mit Trauer, Angst, | |
Schuldgefühlen und Wut. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) meldete auf | |
Grundlage von Statistiken anderer Kriegsgebiete, dass rund 22 Prozent der | |
Kriegsbetroffenen unter psychischer Belastung litten: in der Ukraine etwa | |
10 Millionen Menschen. Das Gesundheitsministerium rechnet laut einer | |
Bedarfsanalyse gar mit 15 Millionen, die schon jetzt psychologische | |
Betreuung benötigten. | |
Wie umgehen mit Verlust und Schmerz? Wie weiterleben mit dem omnipräsenten | |
Sterben und Töten, während der Krieg andauert? Die taz hat Betroffene auf | |
Friedhöfen und an Orten traumatischer Erlebnisse sowie eine | |
Traumapsychologin gesprochen. Sie sind sich einig: Dieser Schmerz wird | |
bleiben. Und die Gesellschaft verändern. | |
Im westukrainischen Lwiw sitzt Alla Tschajka an einem Julimontag am Grab | |
ihres Sohns. Es ist eines von über 400 Heldengräbern auf dem sogenannten | |
Marsfeld, benannt nach den Militäraufmarschplätzen im alten Rom. Täglich | |
werden es mehr, neue Gruben sind bereits ausgehoben. Dieser Ehrenhain für | |
gefallene Soldat*innen grenzt direkt an den historischen | |
Lytschakiwskyj-Friedhof, bekannt für viele habsburgische, polnische, | |
ukrainische Grabstätten verschiedener Epochen. | |
Routiniert wischt Alla Tschajka den Staub von Holzrahmen, Kreuz und | |
Engellämpchen, pflegt die Blumen, legt Süßigkeiten auf die Steinchen. Das | |
Foto vor ihr zeigt Sohn Taras in Uniform. „Gestern vor einem Jahr habe ich | |
ihn zum letzten Mal persönlich gesehen“, sagt sie. „Danach nur noch per | |
Videocall.“ | |
Trotz einer Immunkrankheit hatte sich der 29-jährige Jurist im Februar 2022 | |
als Freiwilliger zum Militärdienst gemeldet, kam im Sommer zur Aufklärung | |
an die Front. Seine Mutter unterstützte die Entscheidung: „Er hätte sich | |
nicht melden müssen, aber hielt es für richtig. Ich war und bin stolz auf | |
ihn.“ | |
Am 2. November wurde Taras im Gebiet Donezk bei einer Evakuierung durch | |
russische Artilleriegeschosse getötet. Das sei an der Straße zwischen Lyman | |
und Kreminna gewesen, habe die Mutter später von seinen Kameraden erfahren. | |
Die Gegend gilt bis heute als einer der gefährlichsten Frontabschnitte. | |
Taras Tschajka hatte vor dem Krieg als Insolvenzverwalter gearbeitet. Seine | |
Einheit schreibt in einem Abschiedspost auf Facebook über ihn: „Er glaubte | |
daran, dass man sich bei allen Streitigkeiten einigen sollte und kann.“ | |
Eine Petition von Kolleg*innen und Verwandten fordert von Präsident | |
Wolodimir Selenski, Tschajka als Helden auszuzeichnen. Am 12. November | |
brachte ihn ein öffentlicher Trauerzug vom Gedenkgottesdienst in der | |
Garnisonskirche über den Markt zum Friedhof. | |
Alla Tschajka ist seitdem jeden Tag hier, bei jedem Wetter. Sie hat dafür | |
in ihrem Bürojob von Voll- auf Teilzeit gewechselt. Manchmal begleiten sie | |
Taras’ Witwe, seine fünfjährige Tochter oder der Zwillingsbruder Nasar. | |
Alla Tschajka spricht langsam, gefasst. „Er war schon Kommandeur, wollte an | |
jenem Tag unbedingt selbst fahren − im dritten Auto.“ Das mit dem dritten | |
Fahrzeug im Konvoi ist wichtig. Denn sobald feindliche Truppen das erste | |
Auto einer Kolonne entdecken, können sie ihre Feuerwaffen darauf | |
ausrichten. Das erste und zweite Auto schaffen sie dann meist noch nicht zu | |
treffen, aber weitere – dritte und vierte Fahrzeuge – schon. Ihr Sohn habe | |
sich für seine Kameraden geopfert, sagt die Mutter weinend. Dann lächelt | |
sie: „Manchmal, wenn ich allein zu Hause bin, höre ich noch immer seine | |
Schritte in der Wohnung. Ich träume von Gesprächen mit ihm. Ich weiß, dass | |
er da ist.“ | |
Ein paar Reihen hinter Alla wird eine Diskussion laut. Ein paar Frauen | |
diskutieren über Staatshilfen für Hinterbliebene. Eine Frau erzählt | |
aufgeregt: „Mein Sohn war Minenräumer, bekam einen Auftrag am Abend. Da | |
sprengte ihn eine Mine in die Luft.“ Dennoch habe sie keinerlei Finanzhilfe | |
bekommen, weil ihr Sohn nicht bei direkten Kampfhandlungen getötet wurde. | |
Die Frau weint, ihre Freundin umarmt sie fest. | |
Alla Tschajka hört kurz zu, zuckt mit den Schultern. „Freundschaften oder | |
Ehen können zerbrechen, aber das eigene Kind zu verlieren, das ist das | |
Schlimmste. Diesen Schmerz kann nichts und niemand wiedergutmachen.“ Auch | |
kein Geld, keine Heldenehren. | |
Die Trauernden grüßen sich – man kennt sich auf dem Friedhof. „Wie geht�… | |
− „Ganz gut.“ Selten mehr. Alle hättenen mit dem eigenen Schmerz und der | |
eigenen Wut zu tun, sagt Alla. Sie beispielsweise sei wütend, dass sie | |
ihren Sohn verlor, während andere Familien [4][ihre „Männer versteckten“], | |
ihnen Krankheiten bescheinigten oder sie gar illegal ins Ausland gehen | |
ließen. | |
Ihr einziger Lichtblick: Direkte Verwandte Gefallener dürfen nicht | |
mobilisiert werden, Taras’ Zwillingsbruder − Allas verbleibender Sohn − | |
wird also bleiben. „Zum Glück. Ich will nicht noch einen Sohn hergeben, so | |
wichtig die Verteidigung unserer Ukraine auch ist.“ Dann holt sie ihr | |
Telefon aus der grauen Lederhandtasche und zeigt Selfies von ihrem toten | |
Sohn, Fotos von dessen Frau und Tochter. Schwere Tränen rollen über ihre | |
Sommersprossen. „Wenn ich hier bin, fühle ich, dass Taras noch da ist.“ | |
Bekannte rieten ihr schon, seltener zu kommen. Besser vergessen, sich nicht | |
jeden Tag an den Verlust ihres Sohnes erinnern. Vielleicht mal zum | |
Psychologen gehen. Aber Alla Tschajka ist skeptisch: „Andere hier sind | |
schon abhängig von Psychopharmaka, wie bei Junkies zittern ihre Hände. Ich | |
will Taras auch nicht vergessen, ich muss die Trauer leben. Nur hier bin | |
ich innerlich ruhig.“ | |
## Fotos von Misshandelten noch auf dem Handy | |
500 Kilometer östlich kann Elena Galaka mit innerer Ruhe nichts anfangen. | |
Wie Tschajka ist sie Mitte 40 und Mutter. Galaka lebt in Butscha, dem | |
Kyjiwer Vorort, nach dessen Befreiung im Frühjahr 2022 erstmals | |
[5][abscheulichste Gräueltaten russischer Truppen] ans Licht kamen: Folter, | |
Vergewaltigungen, willkürliches Verwunden und Töten. Galaka ist Polizistin | |
und hat jene Kriegsverbrechen mit dokumentiert als Beweise für künftige | |
Prozesse. Fotos und Videos von Misshandelten und Getöteten sind noch immer | |
auf ihrem Handy. | |
Ihre fünf Kinder hatte Galaka während der Kämpfe zu einer Freundin nach | |
England gebracht. Sie selbst blieb in Kyjiw. Mittlerweile sind alle zurück, | |
leben in einem ruhigen Einfamilienhaus am Wald. Der Blick übern Gartenzaun | |
fällt auf eine Ruine, zerschossen von einer russischen Rakete. Elena wuchs | |
in Butscha auf, damals gehörte es noch nicht zum Kyjiwer Speckgürtel. Unter | |
den Besatzungsopfern und Fronttoten aus Butscha sind ihre Nachbar*innen, | |
Freund*innen, Bekannte. | |
An einem Julisonntag besucht Elena Galaka nun zum ersten Mal die | |
„Heldenallee“ im Zentrum. Familien konnten Fotos und Kurzbiografien ihrer | |
Gefallenen dafür bei der Stadt einreichen. Auf etwa 20 Posterständern sind | |
insgesamt 800 Personen porträtiert. Galaka kennt fast jedes zweite Gesicht. | |
Da bleibt sie stehen, wischt sich mit dem Handrücken über das geschminkte | |
Gesicht. Schnieft und erzählt: Mit dem einen ging sie zur Schule, ein | |
anderer war der Sportlehrer ihrer Kinder, ein Dritter ein Polizeikollege. | |
Sie alle sind an der Front gefallen. | |
Sie unterdrückt Tränen, geht mit kräftigen Schritten weiter. „Ich war | |
bisher nie hier. Ich dachte immer, ich halte das nicht aus“, sagt sie, | |
„aber irgendwann muss ich das ja schaffen.“ Dann will sie noch zum | |
Stadtfriedhof. „Der ist jetzt dreimal so groß, so viele Tote gibt es bei | |
uns.“ Hinter Hunderten Gräbern steht eine Ukraineflagge einsam auf einer | |
ungemähten Wiese. „Dieser Platz ist für die kommenden Fronttoten | |
reserviert“, sagt Galaka. „Man erwartet wohl noch einige.“ Wieder schnieft | |
sie. Und stapft zu den Besatzungsopfern. Auf einem Grabtisch mit Tischdecke | |
steht ein frisch gebackener Kuchen. | |
Viele Kreuze tragen Nummern, die Toten sind noch nicht identifiziert. | |
Offiziell wird von 400 Opfern der russischen Besatzung in Butscha | |
gesprochen. Die Zahlen auf dem Friedhof reichen bis 681. Manche tragen | |
Namen, auch hier kennt die Polizistin einige. | |
Wenn Elena Galaka durch Butscha fährt, sieht sie überall den Tod, etwa | |
hinter der Sankt-Andreas-Kathedrale, wo Tote aus einem Massengrab geholt | |
wurden. In einer Eigenheimsiedlung zeigt sie: „Wenn vor den Häusern zwei | |
ausgebrannte Autos stehen, dann war zum Zeitpunkt des Einschlags die ganze | |
Familie zu Hause. Also jetzt alle tot.“ Am Bahndamm: „Hier lagen verminte | |
Leichen.“ | |
Das neu eröffnete Café in einem Waldstück ärgert sie besonders. Im Frühjahr | |
2022 wurden hier Menschen verbrannt. Galaka zeigt das leer stehende | |
Wohnhaus der Opfer in der Nähe: „Hier hat man die Familie erschlagen, dann | |
in das Wäldchen geschleift. Dort angezündet.“ Sie zeigt die Stelle, | |
vergleicht die Perspektive mit Fotos und Videos von damals: ein Haufen | |
gelb-braun-schwarzer Körper mit eitrig-weißen Augenhöhlen, geschmolzenen | |
Kleidungs- und Hautfetzen. Beine und Arme vom Feuer zerfressen. Hände und | |
Füße wie Krallen erstarrt. In offenen Rippen schimmert rotes Blut. | |
„Jetzt wird hier bis spät gefeiert. Dem Cafébetreiber ist egal, was hier | |
passiert ist.“ Sie habe ihn schon angesprochen, sei laut geworden. Wütend | |
fluchen − das kann sie gut. „Für viele hier ist der Krieg vorbei. Aber das | |
alles geht weiter, nur woanders.“ | |
Elenas Hände zittern, als sie wieder im Auto sitzt. „Puh“, sie atmet | |
schwer, „ich habe nicht erwartet, dass mich dieser Ort so belastet.“ Sie | |
trinkt hastig aus der Wasserflasche, raucht eine E-Zigarette. Wie sie das | |
Erlebte verarbeitet? „Gar nicht, keine Zeit.“ Wie viele andere | |
Fronthelfende und Soldat*innen sagt sie: „Wenn ich jetzt zur | |
Psychotherapie gehe, dann falle ich aus.“ Aber sie müsse einsatzfähig sein: | |
für ihre fünf Kinder, für ihre Polizeisondereinsätze an der Front, für ihre | |
Hilfsfahrten mit Lebensmitteln und Zusatztechnik für die Aufklärungseinheit | |
ihres Lebensgefährten. Diese habe gerade versucht, im Südosten die | |
russische Frontlinie zu durchbrechen. | |
Elena wartet nervös auf Lebenszeichen. „Ich bin so wütend darüber, was uns | |
diese Monster antun. Ich muss jetzt durchhalten, arbeiten, mithelfen, | |
mitkämpfen, damit wir endlich gewinnen“, sagt sie. „Alles andere dann nach | |
dem Sieg.“ | |
## Den richtigen Weg des Trauerns finden | |
Sich der Trauer ergeben oder den Schmerz verdrängen − was ist richtig? | |
Natürlich will Psychologin Susanna Anhelowa das so einfach nicht bewerten. | |
Sie sagt: „Wir müssen wegkommen von strengen Regeln hin zu einer | |
reflektierten Gedenkkultur. Wichtig ist, dass die Person den für sie | |
richtigen Weg des Trauerns findet.“ | |
Susanna Anhelowa sitzt am Dniprostrand im Kyjiwer Stadtteil Obolon. | |
Rundherum wird gebadet und gepicknickt. Anhelowa ist Psychologin, arbeitet | |
seit 2014 mit traumatisierten Menschen, betreut individuell | |
Patient*innen und seit 2022 auch vom Krieg betroffene Familien mit | |
Kindern in mehrwöchigen NGO-Erholungsprojekten, deren Programm sie mit | |
erarbeitet hat. | |
Jüngst träumte sie von ihrer Arbeit: Sie trat vor eine Gruppe aus rund 30 | |
Personen. „Darunter waren die Lebenden und auch die Toten.“ Alle stellten | |
sich vor, berichteten von ihren Erlebnissen. „Und ich konnte plötzlich die | |
Lebenden und Toten nicht mehr unterscheiden.“ Die Toten blieben Teil des | |
Lebens, sagt sie. | |
„Beziehungen enden nicht mit dem Tod, sie entwickeln sich auch danach | |
weiter. Und Trauer ist so ein Teil der Liebe.“ Dazu könne dann der | |
regelmäßige Besuch am Grab des Verstorbenen wie bei Alla Tschajka in Lwiw | |
ebenso gehören wie die Arbeitswut bei Elena Galaka in Butscha. | |
Hauptziel der Trauma-Arbeit sei dann emotionale Stabilität, auch durch | |
Legitimierung und Akzeptanz aller Gefühle. Traurigkeit, Wut, Angst, Hass, | |
Schuld: „Alle diese Emotionen sind normal.“ Leider, so die Psychologin, sei | |
das Trauern noch immer oft von religiösen Vorstellungen geprägt, deren | |
Einfluss in Kriegszeiten wieder zunehme. Viele Menschen suchten da Halt und | |
Orientierung. Doch gepredigt werde Vergebung ohne Raum für Gefühle wie Wut, | |
Hass und Rache. | |
Viel zu oft schämten sich Betroffene dann für ihre Gefühle. Eltern weinten | |
nur versteckt, damit Kinder es nicht sähen. Diese übernähmen das und | |
weinten auch nur noch heimlich. Das ist das Einzige, was Susanna Anhelowa | |
falsch findet: „Denn so verschließt der Schmerz den Menschen in einer | |
Kapsel, dann vereinzelt man in der Gemeinschaft, die Gesellschaft zerfällt | |
− daran arbeitet der Feind mit seinem Krieg. Das ist auch ein Krieg auf | |
psychologischer Ebene.“ Was sie ihren Patient*innen vermittelt: sich | |
das Weinen erlauben, neue Kontakte knüpfen, um auch Schmerz zu teilen. Dann | |
Kraftquellen und Sinn im eigenen Alltag finden. Dazu kämen Atem- und | |
Muskelübungen für Stresssituationen. | |
Es helfe, sich der eigenen Rolle als Mutter, Polizistin, Fronthelfende, | |
Soldat, Ehefrau, Journalistin und so weiter bewusst zu werden und darin | |
sinnvolle Aufgaben zu definieren. Zu lernen, in jedem Moment etwas | |
Positives zu entdecken. Viel mehr sei im Krieg auch kaum möglich. Denn der | |
wirke wie eine „Betäubung“, viele Verarbeitungsprozesse blieben | |
eingefroren. Durchhalten sei gefragt. Vor allem unter Soldat*innen, aber | |
auch unter der Zivilbevölkerung. | |
All das betrifft Susanna Anhelowa als Psychologin auch persönlich. Darum | |
beherzigt sie die Ratschläge, die sie anderen empfiehlt. Zum Beispiel in | |
einem seltenen Schockmoment in der ersten Gruppensitzung mit älteren Frauen | |
über 50 aus den Kriegsgebieten im Osten: „Sie sprachen sofort detailliert | |
darüber, in welchen Zuständen sie die Leichen ihrer Angehörigen gefunden | |
hatten. Wie weit Körperteile auseinanderlagen, wie sehr verkohlt sie waren. | |
Das waren für sie ganz normale Informationen, so zum Kennenlernen.“ | |
Sie spürte, wie sich ihr Magen vor Stress verkrampfte, zweifelte, ob sie | |
dieses Gespräch aushalten werde. „Wenn es schwer wird, frage ich mich: Wer | |
bin ich, was mache ich hier?“ Anhelowas professionelle Rolle fordert, „den | |
Schmerz der anderen nicht als eigenen Schmerz anzunehmen“. Ihre Kraftquelle | |
sei auch dieser Dniprostrand hier, unweit ihrer Wohnung. „Ich schwimme hier | |
morgens und abends, wenn wenig los ist. Im Wasser habe ich das Gefühl, | |
wirklich loslassen zu können.“ | |
## Erinnerungskultur statt Heldenmythen | |
Gesamtgesellschaftlich wünscht sich die Psychologin statt der in den | |
sozialen Netzwerken und auf Straßenplakaten omnipräsenten Heldenmythen eine | |
Erinnerungskultur: „Überall heißt es, Helden sterben nie − aber doch, | |
unsere Helden hier sterben. Jeden Tag, sehr viele.“ Es habe ja schon früher | |
viel Schmerz in der ukrainischen Geschichte gegeben: [6][Holodomor], | |
Repressionen, Zweiter Weltkrieg, Annexion der Krim, Donbasskrieg − „aber | |
der Schmerz wurde in der Geschichte immer von Russland unterdrückt“. | |
Vor allem zu Sowjetzeiten habe es keine Möglichkeiten gegeben, ukrainischer | |
Opfer zu gedenken. „Dieser Schmerz jetzt wird uns endgültig von den Russen | |
trennen und auch die letzten Verbindungen einiger Sowjetnostalgiker | |
auflösen.“ | |
Und dann, nach dem ukrainischen Sieg, hofft sie, könnten aus dem Schmerz | |
Bewegungen entstehen. „Die gemeinsame Wut müsste man kanalisieren − erst | |
gegen den Feind, dann für die eigene Gesellschaft: für mehr soziale | |
Gerechtigkeit, neue Gesetze, besonders natürlich gegen Korruption.“ Die | |
Regierung von Präsident Selenski versucht tatsächlich, | |
Anstrengungsbereitschaft zu signalisieren: Anfang der Woche erst [7][musste | |
Verteidigungsminister Oleksij Resnikow gehen], nachdem Recherchen von | |
Journalisten nahelegten, dass in seinem Ministerium Gelder veruntreut | |
wurden. | |
## Bedeutung der psychischen Gesundheit erkannt | |
Der ukrainische Staat hat die Bedeutung der psychischen Gesundheit für die | |
Kriegsgesellschaft indes erkannt. Denn natürlich sind Auswirkungen auf | |
Kampfmoral, wirtschaftliche Entwicklung und Nachkriegsperspektiven zu | |
erwarten. Die First Lady Olena Selenska hat zu ihrem Anliegen gemacht, was | |
sie schon im Mai 2022 in einer Videobotschaft an die WHO erklärte: „Wir | |
kämpfen auch um die mentale Gesundheit unserer Leute. Nachdem sie | |
Besatzung, Front, Beschuss und die Zeit in Schutzbunkern oder in der Fremde | |
überlebt haben werden, brauchen sie Rehabilitation wie physisch | |
Verwundete.“ | |
Selenska initiierte zusammen mit WHO und Gesundheitsministerium das | |
Programm Ty jak? („Wie geht’s dir?“). Es soll psychische Erkrankungen und | |
Therapien von Stigmata befreien. Dazu gehört eine große Medienkampagne in | |
den sozialen Netzwerken und mit unzähligen Plakaten an Bahnhöfen, Straßen | |
und in Metrostationen. Außerdem werden Weiterbildungen von Fachpersonal | |
sowie 20 sogenannte Resilienzzentren für kostenlose und zertifizierte | |
psychologische Hilfe eingerichtet. Die ersten Pilotprojekte haben schon | |
begonnen. | |
Traumapsychologin Anhelowa kennt das Projekt natürlich, ist aber skeptisch: | |
Die Kampagne bringe mehr Sichtbarkeit und könne die Tabuisierung | |
abschwächen. Aber bisher sei das eher Symbolpolitik, langfristig würden da | |
noch viel mehr Investitionen nötig. Ob der Staat sich das leisten kann und | |
will, müsse sich zeigen. | |
Sicher ist nur: Der Krieg bringt weiter Tote und Belastung, der Schmerz | |
wird bleiben. | |
9 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Peggy Lohse | |
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