| # taz.de -- Kriegstote in der Ukraine: Leben mit dem Sterben | |
| > Nahezu jeder in der Ukraine kennt im russischen Angriffskrieg Gefallene. | |
| > Wie können Hinterbliebene und Gesellschaft mit dem Verlust weiterleben? | |
| Lwiw und Kyjiw taz | Eine junge Frau hockt neben einem mit Blumen bedeckten | |
| Sandhügel im Staub. Sie hat ihre Knie an den Oberkörper gezogen und spricht | |
| leise, ihren Blick auf das Foto eines jungen Mannes in Tarnuniform | |
| gerichtet, das an einem dunklen Holzkreuz hängt. Ein Schnapsfläschchen | |
| steht auf dem Sand, am zweiten nippt sie. Tränen rollen über ihr rotes | |
| Gesicht. Um sie herum flattern im trockenen Sommerwind Hunderte gelb-blaue | |
| Ukraineflaggen. | |
| Ein Stück entfernt sitzen zwei ältere Frauen auf der Bank an einem | |
| befestigten Grab. Sie haben Salat, belegte Brote und Hochprozentiges dabei. | |
| Ein wenig von allem legen sie auf die Steinplatte. Dann essen und trinken | |
| sie, erzählen und lachen laut. Am anderen Ende des Gräberfelds fahren Autos | |
| vor. Anhalten, aussteigen, bekreuzigen, innehalten, weiterfahren. An vielen | |
| Gräbern liegen frische Quarkkäulchen, Schokoriegel, Kaffeegläser oder eben | |
| Schnapsflaschen. Die Toten werden häufig besucht. | |
| Russland hat [1][mit seinem Angriffskrieg] ein großes Sterben in die | |
| Ukraine gebracht. Wie hier auf dem Waldfriedhof in Kyjiw wachsen überall in | |
| der Ukraine die Friedhöfe, um die vielen neuen Toten beerdigen zu können. | |
| Zivilist*innen sterben durch Raketen und Drohnen, die Russland täglich | |
| auf Orte im ganzen Land abfeuert. Soldat*innen fallen im Kampf an der | |
| Front. [2][Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt], denn militärische | |
| Verlustzahlen werden aus strategischen Gründen nicht veröffentlicht. Eine | |
| offizielle Sterblichkeitsstatistik gibt es nicht, doch Soziolog*innen | |
| und Mediziner*innen sagen, dass auch Sterbefälle durch Erkrankungen | |
| zunehmen: Andauernder psychischer Stress und ein belastetes | |
| Gesundheitssystem erschweren Behandlung und Heilung. | |
| Auf den Friedhöfen gibt es neben zivilen Gräbern Kriegsabteilungen. Dort | |
| liegen [3][seit 2014 im Donbas]s Gefallene, seit eineinhalb Jahren auch im | |
| sogenannten großen Krieg getötete Soldat*innen. Zwischen den zivilen | |
| Toten sind einige Menschen anonym beerdigt, die noch nicht identifiziert | |
| sind. Über einen zentralen nationalen Heldenfriedhof in der Hauptstadt wird | |
| emotional gestritten. | |
| All diese Toten hinterlassen noch mehr Angehörige mit Trauer, Angst, | |
| Schuldgefühlen und Wut. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) meldete auf | |
| Grundlage von Statistiken anderer Kriegsgebiete, dass rund 22 Prozent der | |
| Kriegsbetroffenen unter psychischer Belastung litten: in der Ukraine etwa | |
| 10 Millionen Menschen. Das Gesundheitsministerium rechnet laut einer | |
| Bedarfsanalyse gar mit 15 Millionen, die schon jetzt psychologische | |
| Betreuung benötigten. | |
| Wie umgehen mit Verlust und Schmerz? Wie weiterleben mit dem omnipräsenten | |
| Sterben und Töten, während der Krieg andauert? Die taz hat Betroffene auf | |
| Friedhöfen und an Orten traumatischer Erlebnisse sowie eine | |
| Traumapsychologin gesprochen. Sie sind sich einig: Dieser Schmerz wird | |
| bleiben. Und die Gesellschaft verändern. | |
| Im westukrainischen Lwiw sitzt Alla Tschajka an einem Julimontag am Grab | |
| ihres Sohns. Es ist eines von über 400 Heldengräbern auf dem sogenannten | |
| Marsfeld, benannt nach den Militäraufmarschplätzen im alten Rom. Täglich | |
| werden es mehr, neue Gruben sind bereits ausgehoben. Dieser Ehrenhain für | |
| gefallene Soldat*innen grenzt direkt an den historischen | |
| Lytschakiwskyj-Friedhof, bekannt für viele habsburgische, polnische, | |
| ukrainische Grabstätten verschiedener Epochen. | |
| Routiniert wischt Alla Tschajka den Staub von Holzrahmen, Kreuz und | |
| Engellämpchen, pflegt die Blumen, legt Süßigkeiten auf die Steinchen. Das | |
| Foto vor ihr zeigt Sohn Taras in Uniform. „Gestern vor einem Jahr habe ich | |
| ihn zum letzten Mal persönlich gesehen“, sagt sie. „Danach nur noch per | |
| Videocall.“ | |
| Trotz einer Immunkrankheit hatte sich der 29-jährige Jurist im Februar 2022 | |
| als Freiwilliger zum Militärdienst gemeldet, kam im Sommer zur Aufklärung | |
| an die Front. Seine Mutter unterstützte die Entscheidung: „Er hätte sich | |
| nicht melden müssen, aber hielt es für richtig. Ich war und bin stolz auf | |
| ihn.“ | |
| Am 2. November wurde Taras im Gebiet Donezk bei einer Evakuierung durch | |
| russische Artilleriegeschosse getötet. Das sei an der Straße zwischen Lyman | |
| und Kreminna gewesen, habe die Mutter später von seinen Kameraden erfahren. | |
| Die Gegend gilt bis heute als einer der gefährlichsten Frontabschnitte. | |
| Taras Tschajka hatte vor dem Krieg als Insolvenzverwalter gearbeitet. Seine | |
| Einheit schreibt in einem Abschiedspost auf Facebook über ihn: „Er glaubte | |
| daran, dass man sich bei allen Streitigkeiten einigen sollte und kann.“ | |
| Eine Petition von Kolleg*innen und Verwandten fordert von Präsident | |
| Wolodimir Selenski, Tschajka als Helden auszuzeichnen. Am 12. November | |
| brachte ihn ein öffentlicher Trauerzug vom Gedenkgottesdienst in der | |
| Garnisonskirche über den Markt zum Friedhof. | |
| Alla Tschajka ist seitdem jeden Tag hier, bei jedem Wetter. Sie hat dafür | |
| in ihrem Bürojob von Voll- auf Teilzeit gewechselt. Manchmal begleiten sie | |
| Taras’ Witwe, seine fünfjährige Tochter oder der Zwillingsbruder Nasar. | |
| Alla Tschajka spricht langsam, gefasst. „Er war schon Kommandeur, wollte an | |
| jenem Tag unbedingt selbst fahren − im dritten Auto.“ Das mit dem dritten | |
| Fahrzeug im Konvoi ist wichtig. Denn sobald feindliche Truppen das erste | |
| Auto einer Kolonne entdecken, können sie ihre Feuerwaffen darauf | |
| ausrichten. Das erste und zweite Auto schaffen sie dann meist noch nicht zu | |
| treffen, aber weitere – dritte und vierte Fahrzeuge – schon. Ihr Sohn habe | |
| sich für seine Kameraden geopfert, sagt die Mutter weinend. Dann lächelt | |
| sie: „Manchmal, wenn ich allein zu Hause bin, höre ich noch immer seine | |
| Schritte in der Wohnung. Ich träume von Gesprächen mit ihm. Ich weiß, dass | |
| er da ist.“ | |
| Ein paar Reihen hinter Alla wird eine Diskussion laut. Ein paar Frauen | |
| diskutieren über Staatshilfen für Hinterbliebene. Eine Frau erzählt | |
| aufgeregt: „Mein Sohn war Minenräumer, bekam einen Auftrag am Abend. Da | |
| sprengte ihn eine Mine in die Luft.“ Dennoch habe sie keinerlei Finanzhilfe | |
| bekommen, weil ihr Sohn nicht bei direkten Kampfhandlungen getötet wurde. | |
| Die Frau weint, ihre Freundin umarmt sie fest. | |
| Alla Tschajka hört kurz zu, zuckt mit den Schultern. „Freundschaften oder | |
| Ehen können zerbrechen, aber das eigene Kind zu verlieren, das ist das | |
| Schlimmste. Diesen Schmerz kann nichts und niemand wiedergutmachen.“ Auch | |
| kein Geld, keine Heldenehren. | |
| Die Trauernden grüßen sich – man kennt sich auf dem Friedhof. „Wie geht�… | |
| − „Ganz gut.“ Selten mehr. Alle hättenen mit dem eigenen Schmerz und der | |
| eigenen Wut zu tun, sagt Alla. Sie beispielsweise sei wütend, dass sie | |
| ihren Sohn verlor, während andere Familien [4][ihre „Männer versteckten“], | |
| ihnen Krankheiten bescheinigten oder sie gar illegal ins Ausland gehen | |
| ließen. | |
| Ihr einziger Lichtblick: Direkte Verwandte Gefallener dürfen nicht | |
| mobilisiert werden, Taras’ Zwillingsbruder − Allas verbleibender Sohn − | |
| wird also bleiben. „Zum Glück. Ich will nicht noch einen Sohn hergeben, so | |
| wichtig die Verteidigung unserer Ukraine auch ist.“ Dann holt sie ihr | |
| Telefon aus der grauen Lederhandtasche und zeigt Selfies von ihrem toten | |
| Sohn, Fotos von dessen Frau und Tochter. Schwere Tränen rollen über ihre | |
| Sommersprossen. „Wenn ich hier bin, fühle ich, dass Taras noch da ist.“ | |
| Bekannte rieten ihr schon, seltener zu kommen. Besser vergessen, sich nicht | |
| jeden Tag an den Verlust ihres Sohnes erinnern. Vielleicht mal zum | |
| Psychologen gehen. Aber Alla Tschajka ist skeptisch: „Andere hier sind | |
| schon abhängig von Psychopharmaka, wie bei Junkies zittern ihre Hände. Ich | |
| will Taras auch nicht vergessen, ich muss die Trauer leben. Nur hier bin | |
| ich innerlich ruhig.“ | |
| ## Fotos von Misshandelten noch auf dem Handy | |
| 500 Kilometer östlich kann Elena Galaka mit innerer Ruhe nichts anfangen. | |
| Wie Tschajka ist sie Mitte 40 und Mutter. Galaka lebt in Butscha, dem | |
| Kyjiwer Vorort, nach dessen Befreiung im Frühjahr 2022 erstmals | |
| [5][abscheulichste Gräueltaten russischer Truppen] ans Licht kamen: Folter, | |
| Vergewaltigungen, willkürliches Verwunden und Töten. Galaka ist Polizistin | |
| und hat jene Kriegsverbrechen mit dokumentiert als Beweise für künftige | |
| Prozesse. Fotos und Videos von Misshandelten und Getöteten sind noch immer | |
| auf ihrem Handy. | |
| Ihre fünf Kinder hatte Galaka während der Kämpfe zu einer Freundin nach | |
| England gebracht. Sie selbst blieb in Kyjiw. Mittlerweile sind alle zurück, | |
| leben in einem ruhigen Einfamilienhaus am Wald. Der Blick übern Gartenzaun | |
| fällt auf eine Ruine, zerschossen von einer russischen Rakete. Elena wuchs | |
| in Butscha auf, damals gehörte es noch nicht zum Kyjiwer Speckgürtel. Unter | |
| den Besatzungsopfern und Fronttoten aus Butscha sind ihre Nachbar*innen, | |
| Freund*innen, Bekannte. | |
| An einem Julisonntag besucht Elena Galaka nun zum ersten Mal die | |
| „Heldenallee“ im Zentrum. Familien konnten Fotos und Kurzbiografien ihrer | |
| Gefallenen dafür bei der Stadt einreichen. Auf etwa 20 Posterständern sind | |
| insgesamt 800 Personen porträtiert. Galaka kennt fast jedes zweite Gesicht. | |
| Da bleibt sie stehen, wischt sich mit dem Handrücken über das geschminkte | |
| Gesicht. Schnieft und erzählt: Mit dem einen ging sie zur Schule, ein | |
| anderer war der Sportlehrer ihrer Kinder, ein Dritter ein Polizeikollege. | |
| Sie alle sind an der Front gefallen. | |
| Sie unterdrückt Tränen, geht mit kräftigen Schritten weiter. „Ich war | |
| bisher nie hier. Ich dachte immer, ich halte das nicht aus“, sagt sie, | |
| „aber irgendwann muss ich das ja schaffen.“ Dann will sie noch zum | |
| Stadtfriedhof. „Der ist jetzt dreimal so groß, so viele Tote gibt es bei | |
| uns.“ Hinter Hunderten Gräbern steht eine Ukraineflagge einsam auf einer | |
| ungemähten Wiese. „Dieser Platz ist für die kommenden Fronttoten | |
| reserviert“, sagt Galaka. „Man erwartet wohl noch einige.“ Wieder schnieft | |
| sie. Und stapft zu den Besatzungsopfern. Auf einem Grabtisch mit Tischdecke | |
| steht ein frisch gebackener Kuchen. | |
| Viele Kreuze tragen Nummern, die Toten sind noch nicht identifiziert. | |
| Offiziell wird von 400 Opfern der russischen Besatzung in Butscha | |
| gesprochen. Die Zahlen auf dem Friedhof reichen bis 681. Manche tragen | |
| Namen, auch hier kennt die Polizistin einige. | |
| Wenn Elena Galaka durch Butscha fährt, sieht sie überall den Tod, etwa | |
| hinter der Sankt-Andreas-Kathedrale, wo Tote aus einem Massengrab geholt | |
| wurden. In einer Eigenheimsiedlung zeigt sie: „Wenn vor den Häusern zwei | |
| ausgebrannte Autos stehen, dann war zum Zeitpunkt des Einschlags die ganze | |
| Familie zu Hause. Also jetzt alle tot.“ Am Bahndamm: „Hier lagen verminte | |
| Leichen.“ | |
| Das neu eröffnete Café in einem Waldstück ärgert sie besonders. Im Frühjahr | |
| 2022 wurden hier Menschen verbrannt. Galaka zeigt das leer stehende | |
| Wohnhaus der Opfer in der Nähe: „Hier hat man die Familie erschlagen, dann | |
| in das Wäldchen geschleift. Dort angezündet.“ Sie zeigt die Stelle, | |
| vergleicht die Perspektive mit Fotos und Videos von damals: ein Haufen | |
| gelb-braun-schwarzer Körper mit eitrig-weißen Augenhöhlen, geschmolzenen | |
| Kleidungs- und Hautfetzen. Beine und Arme vom Feuer zerfressen. Hände und | |
| Füße wie Krallen erstarrt. In offenen Rippen schimmert rotes Blut. | |
| „Jetzt wird hier bis spät gefeiert. Dem Cafébetreiber ist egal, was hier | |
| passiert ist.“ Sie habe ihn schon angesprochen, sei laut geworden. Wütend | |
| fluchen − das kann sie gut. „Für viele hier ist der Krieg vorbei. Aber das | |
| alles geht weiter, nur woanders.“ | |
| Elenas Hände zittern, als sie wieder im Auto sitzt. „Puh“, sie atmet | |
| schwer, „ich habe nicht erwartet, dass mich dieser Ort so belastet.“ Sie | |
| trinkt hastig aus der Wasserflasche, raucht eine E-Zigarette. Wie sie das | |
| Erlebte verarbeitet? „Gar nicht, keine Zeit.“ Wie viele andere | |
| Fronthelfende und Soldat*innen sagt sie: „Wenn ich jetzt zur | |
| Psychotherapie gehe, dann falle ich aus.“ Aber sie müsse einsatzfähig sein: | |
| für ihre fünf Kinder, für ihre Polizeisondereinsätze an der Front, für ihre | |
| Hilfsfahrten mit Lebensmitteln und Zusatztechnik für die Aufklärungseinheit | |
| ihres Lebensgefährten. Diese habe gerade versucht, im Südosten die | |
| russische Frontlinie zu durchbrechen. | |
| Elena wartet nervös auf Lebenszeichen. „Ich bin so wütend darüber, was uns | |
| diese Monster antun. Ich muss jetzt durchhalten, arbeiten, mithelfen, | |
| mitkämpfen, damit wir endlich gewinnen“, sagt sie. „Alles andere dann nach | |
| dem Sieg.“ | |
| ## Den richtigen Weg des Trauerns finden | |
| Sich der Trauer ergeben oder den Schmerz verdrängen − was ist richtig? | |
| Natürlich will Psychologin Susanna Anhelowa das so einfach nicht bewerten. | |
| Sie sagt: „Wir müssen wegkommen von strengen Regeln hin zu einer | |
| reflektierten Gedenkkultur. Wichtig ist, dass die Person den für sie | |
| richtigen Weg des Trauerns findet.“ | |
| Susanna Anhelowa sitzt am Dniprostrand im Kyjiwer Stadtteil Obolon. | |
| Rundherum wird gebadet und gepicknickt. Anhelowa ist Psychologin, arbeitet | |
| seit 2014 mit traumatisierten Menschen, betreut individuell | |
| Patient*innen und seit 2022 auch vom Krieg betroffene Familien mit | |
| Kindern in mehrwöchigen NGO-Erholungsprojekten, deren Programm sie mit | |
| erarbeitet hat. | |
| Jüngst träumte sie von ihrer Arbeit: Sie trat vor eine Gruppe aus rund 30 | |
| Personen. „Darunter waren die Lebenden und auch die Toten.“ Alle stellten | |
| sich vor, berichteten von ihren Erlebnissen. „Und ich konnte plötzlich die | |
| Lebenden und Toten nicht mehr unterscheiden.“ Die Toten blieben Teil des | |
| Lebens, sagt sie. | |
| „Beziehungen enden nicht mit dem Tod, sie entwickeln sich auch danach | |
| weiter. Und Trauer ist so ein Teil der Liebe.“ Dazu könne dann der | |
| regelmäßige Besuch am Grab des Verstorbenen wie bei Alla Tschajka in Lwiw | |
| ebenso gehören wie die Arbeitswut bei Elena Galaka in Butscha. | |
| Hauptziel der Trauma-Arbeit sei dann emotionale Stabilität, auch durch | |
| Legitimierung und Akzeptanz aller Gefühle. Traurigkeit, Wut, Angst, Hass, | |
| Schuld: „Alle diese Emotionen sind normal.“ Leider, so die Psychologin, sei | |
| das Trauern noch immer oft von religiösen Vorstellungen geprägt, deren | |
| Einfluss in Kriegszeiten wieder zunehme. Viele Menschen suchten da Halt und | |
| Orientierung. Doch gepredigt werde Vergebung ohne Raum für Gefühle wie Wut, | |
| Hass und Rache. | |
| Viel zu oft schämten sich Betroffene dann für ihre Gefühle. Eltern weinten | |
| nur versteckt, damit Kinder es nicht sähen. Diese übernähmen das und | |
| weinten auch nur noch heimlich. Das ist das Einzige, was Susanna Anhelowa | |
| falsch findet: „Denn so verschließt der Schmerz den Menschen in einer | |
| Kapsel, dann vereinzelt man in der Gemeinschaft, die Gesellschaft zerfällt | |
| − daran arbeitet der Feind mit seinem Krieg. Das ist auch ein Krieg auf | |
| psychologischer Ebene.“ Was sie ihren Patient*innen vermittelt: sich | |
| das Weinen erlauben, neue Kontakte knüpfen, um auch Schmerz zu teilen. Dann | |
| Kraftquellen und Sinn im eigenen Alltag finden. Dazu kämen Atem- und | |
| Muskelübungen für Stresssituationen. | |
| Es helfe, sich der eigenen Rolle als Mutter, Polizistin, Fronthelfende, | |
| Soldat, Ehefrau, Journalistin und so weiter bewusst zu werden und darin | |
| sinnvolle Aufgaben zu definieren. Zu lernen, in jedem Moment etwas | |
| Positives zu entdecken. Viel mehr sei im Krieg auch kaum möglich. Denn der | |
| wirke wie eine „Betäubung“, viele Verarbeitungsprozesse blieben | |
| eingefroren. Durchhalten sei gefragt. Vor allem unter Soldat*innen, aber | |
| auch unter der Zivilbevölkerung. | |
| All das betrifft Susanna Anhelowa als Psychologin auch persönlich. Darum | |
| beherzigt sie die Ratschläge, die sie anderen empfiehlt. Zum Beispiel in | |
| einem seltenen Schockmoment in der ersten Gruppensitzung mit älteren Frauen | |
| über 50 aus den Kriegsgebieten im Osten: „Sie sprachen sofort detailliert | |
| darüber, in welchen Zuständen sie die Leichen ihrer Angehörigen gefunden | |
| hatten. Wie weit Körperteile auseinanderlagen, wie sehr verkohlt sie waren. | |
| Das waren für sie ganz normale Informationen, so zum Kennenlernen.“ | |
| Sie spürte, wie sich ihr Magen vor Stress verkrampfte, zweifelte, ob sie | |
| dieses Gespräch aushalten werde. „Wenn es schwer wird, frage ich mich: Wer | |
| bin ich, was mache ich hier?“ Anhelowas professionelle Rolle fordert, „den | |
| Schmerz der anderen nicht als eigenen Schmerz anzunehmen“. Ihre Kraftquelle | |
| sei auch dieser Dniprostrand hier, unweit ihrer Wohnung. „Ich schwimme hier | |
| morgens und abends, wenn wenig los ist. Im Wasser habe ich das Gefühl, | |
| wirklich loslassen zu können.“ | |
| ## Erinnerungskultur statt Heldenmythen | |
| Gesamtgesellschaftlich wünscht sich die Psychologin statt der in den | |
| sozialen Netzwerken und auf Straßenplakaten omnipräsenten Heldenmythen eine | |
| Erinnerungskultur: „Überall heißt es, Helden sterben nie − aber doch, | |
| unsere Helden hier sterben. Jeden Tag, sehr viele.“ Es habe ja schon früher | |
| viel Schmerz in der ukrainischen Geschichte gegeben: [6][Holodomor], | |
| Repressionen, Zweiter Weltkrieg, Annexion der Krim, Donbasskrieg − „aber | |
| der Schmerz wurde in der Geschichte immer von Russland unterdrückt“. | |
| Vor allem zu Sowjetzeiten habe es keine Möglichkeiten gegeben, ukrainischer | |
| Opfer zu gedenken. „Dieser Schmerz jetzt wird uns endgültig von den Russen | |
| trennen und auch die letzten Verbindungen einiger Sowjetnostalgiker | |
| auflösen.“ | |
| Und dann, nach dem ukrainischen Sieg, hofft sie, könnten aus dem Schmerz | |
| Bewegungen entstehen. „Die gemeinsame Wut müsste man kanalisieren − erst | |
| gegen den Feind, dann für die eigene Gesellschaft: für mehr soziale | |
| Gerechtigkeit, neue Gesetze, besonders natürlich gegen Korruption.“ Die | |
| Regierung von Präsident Selenski versucht tatsächlich, | |
| Anstrengungsbereitschaft zu signalisieren: Anfang der Woche erst [7][musste | |
| Verteidigungsminister Oleksij Resnikow gehen], nachdem Recherchen von | |
| Journalisten nahelegten, dass in seinem Ministerium Gelder veruntreut | |
| wurden. | |
| ## Bedeutung der psychischen Gesundheit erkannt | |
| Der ukrainische Staat hat die Bedeutung der psychischen Gesundheit für die | |
| Kriegsgesellschaft indes erkannt. Denn natürlich sind Auswirkungen auf | |
| Kampfmoral, wirtschaftliche Entwicklung und Nachkriegsperspektiven zu | |
| erwarten. Die First Lady Olena Selenska hat zu ihrem Anliegen gemacht, was | |
| sie schon im Mai 2022 in einer Videobotschaft an die WHO erklärte: „Wir | |
| kämpfen auch um die mentale Gesundheit unserer Leute. Nachdem sie | |
| Besatzung, Front, Beschuss und die Zeit in Schutzbunkern oder in der Fremde | |
| überlebt haben werden, brauchen sie Rehabilitation wie physisch | |
| Verwundete.“ | |
| Selenska initiierte zusammen mit WHO und Gesundheitsministerium das | |
| Programm Ty jak? („Wie geht’s dir?“). Es soll psychische Erkrankungen und | |
| Therapien von Stigmata befreien. Dazu gehört eine große Medienkampagne in | |
| den sozialen Netzwerken und mit unzähligen Plakaten an Bahnhöfen, Straßen | |
| und in Metrostationen. Außerdem werden Weiterbildungen von Fachpersonal | |
| sowie 20 sogenannte Resilienzzentren für kostenlose und zertifizierte | |
| psychologische Hilfe eingerichtet. Die ersten Pilotprojekte haben schon | |
| begonnen. | |
| Traumapsychologin Anhelowa kennt das Projekt natürlich, ist aber skeptisch: | |
| Die Kampagne bringe mehr Sichtbarkeit und könne die Tabuisierung | |
| abschwächen. Aber bisher sei das eher Symbolpolitik, langfristig würden da | |
| noch viel mehr Investitionen nötig. Ob der Staat sich das leisten kann und | |
| will, müsse sich zeigen. | |
| Sicher ist nur: Der Krieg bringt weiter Tote und Belastung, der Schmerz | |
| wird bleiben. | |
| 9 Sep 2023 | |
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