# taz.de -- Gedenken an die Befreiung: Geschichtsklitterung nach russischer Art | |
> Ukrainische Nationalisten kollaborierten im Zweiten Weltkrieg eine Zeit | |
> lang mit den Nazis. Das nutzt der Kreml bis heute für seine Propaganda. | |
Bild: Ein Veteran der ukrainischen UPA in Kyjiw | |
Luzk taz | Es war ein besonderer Moment für viele Ukrainer*innen, als am 9. | |
Mai 2005 an der Weltkriegs-Gedenkstätte in Luzk zwei sehr alte Männer | |
offiziell begrüßt wurden. Sie hielten Rosen in den Händen und auf ihren | |
Gesichtern lag der Schatten einer schweren Jugend. Im Alter von 20 Jahren | |
waren sie in den Krieg gezogen, allerdings in verschiedenen Armeen – der | |
eine in der sowjetischen und der andere in der Ukrainischen Aufständischen | |
Armee (UPA). Über den Mai 1945 hinaus kämpften diese Armeen bis Anfang der | |
1950er Jahre in der Westukraine gegeneinander. | |
Die beiden alten Männer waren die Einzigen, die bei der Gedenkfeier nicht | |
lächelten. Sie kannten den Preis des Sieges über die Nazis nur allzu genau. | |
Am Ende der Feierlichkeiten unterhielten sie sich, schüttelten sich die | |
Hand und gingen ihrer Wege. Alle Zeitungen haben damals über das gemeinsame | |
Gedenken der früheren Gegner geschrieben. Ein paar Jahre später waren sie | |
nicht mehr da; insgesamt gibt es immer weniger Zeugen der Ereignisse des | |
Zweiten Weltkriegs. Mythen dafür umso mehr. | |
Am 7. Mai 1945 kapitulierten die Deutschen, als Zeitpunkt für die | |
Einstellung aller Kampfhandlungen vereinbarten sie [1][im französischen | |
Reims] mit den Allierten den 8. Mai, 23.01 Uhr. Am späten Abend zeichneten | |
Oberbefehlshaber von Teilen der Wehrmacht im sowjetischen Hauptquartier in | |
Berlin-Karlshorst die Kapitulationserklärung gegen. Da in Moskau erst nach | |
Mitternacht die Kapitulation bekannt gegeben wurde, wurde in der | |
Sowjetunion der 9. Mai als „Tag des Sieges“ begangen. Doch die Sowjetunion | |
gibt es nicht mehr. | |
Die meisten Ukrainer*innen schauen schon lange kein russisches Fernsehen | |
mehr und lesen auch nicht mehr die Verlautbarungen des Kremls. Wer es aber | |
tut, kann den Eindruck gewinnen, dass der Zweite Weltkrieg für die Russen | |
noch nicht vorbei ist. In den russischen Nachrichten heißt es, die | |
Bedrohung einer faschistischen Aggression schwebe weiterhin über der Welt, | |
ihr Epizentrum befinde sich nun nicht mehr in Berlin, sondern in Kyjiw. | |
Moskau sei noch immer die „Säule des globalen Antifaschismus“, der | |
wichtigste Antifaschist sei heute Präsident Wladimir Putin. Als Faschisten | |
werden die Ukrainer*innen dargestellt, [2][trotz ihres jüdischen | |
Präsidenten]. | |
## Russisches Narrativ aus dem Zweiten Weltkrieg | |
„Die russische Propaganda nutzt sowohl die Formen als auch die | |
Versatzstücke der sowjetischen Militärpropaganda in vollem Umfang“, sagt | |
Wolodymyr Wjatrowitsch, Historiker und früherer Direktor des ukrainischen | |
Instituts für Nationales Gedenken. Die russische Regierung benutze Begriffe | |
aus dem Wörterbuch des Zweiten Weltkriegs. | |
Der Kreml monopolisierte den Sieg der Roten Armee über den | |
Nationalsozialismus, obwohl in deren Reihen Millionen Ukrainer und | |
Angehörige anderer Nationalitäten kämpften. Das Putin-Regime reklamiert | |
diesen Sieg für sich, die Botschaft an den Westen lautet: „Wir können keine | |
Aggressoren sein, denn wir haben die Welt von Hitler befreit.“ | |
Wjatrowitsch sagt: „Expert*innen und Journalist*innen, die mit der | |
ukrainischen Geschichte nicht sehr vertraut sind, glauben an die Bedrohung | |
durch den ukrainischen Faschismus, weil sie Stepan Banderas rot-schwarze | |
Flaggen auf dem Maidan oder in der ukrainischen Armee gesehen haben“. Die | |
Geschichte des Nationalisten Bandera sei so wenig bekannt wie die | |
[3][Geschichte der Bewegung, die er anführte]. Es sei die Geschichte eines | |
Häftlings in einem NS-Konzentrationslager und eines Opfers sowjetischer | |
Propaganda. 1959 wurde Bandera von einem KGB-Attentäter getötet. | |
Nach einer Phase der Kollaboration mit dem Dritten Reich begann der | |
nationalistische ukrainische Untergrund ab Ende 1942 einen groß angelegten | |
antideutschen Kampf. Doch gerade die Kollaboration mit den Deutschen wurde | |
einst von der UdSSR und heute von den Propagandisten in Russland vehement | |
betont. | |
Der Historiker Witaliy Skalsky, der derzeit in der ukrainischen Armee | |
dient, erinnert daran, dass die Ukraine während des Weltkriegs kein | |
unabhängiger Staat und daher keine Konfliktpartei gewesen sei, wie die | |
russische Propaganda behauptet. „Die Ukraine stand weder auf der Seite der | |
Nazis noch auf der Seite der Alliierten, sie war auch nicht neutral. Denn | |
die Ukraine war kein Kriegssubjekt“, schreibt Skalsky. „Die Ukrainer saßen | |
jedoch nicht zu Hause und sahen dem Weltkrieg zu. Sie wurden mobilisiert | |
oder meldeten sich freiwillig zum Dienst in den Armeen Polens, der UdSSR, | |
Großbritanniens, Kanadas, der USA und Frankreichs.“ Und eine Minderheit | |
auch in der Nazi-Armee. „7,5 Millionen standen auf der Seite des Guten und | |
200.000 auf der Seite des Nationalsozialismus“, so Skalsky. | |
## Putins Mythos vom „Großen Sieg“ | |
Der Mythos vom „Großen Sieg“ lebte auch noch lange nach dem Fall der UdSSR | |
weiter. 2010 verkündete Putin, Russland tue alles, um die „heilige | |
Erinnerung an den Sieg“ zu schützen. Sieger ist in dieser Version der | |
Geschichte aber ausschließlich das russische Volk. | |
Doch auch in der Ukraine lebten Mythen fort. An der Gedenkstätte in Luzk, | |
wo sich die beiden alten Veteranen versöhnten, kam es etwa erst im Frühjahr | |
2022 zu Veränderungen. Nach dem Großangriff Russlands wurde das fiktive | |
Datum des Beginns des Zweiten Weltkriegs „1941“ dort durch das historisch | |
korrekte „1939“ ersetzt. Seit 2024 feiert die Ukraine nicht mehr am 9. Mai | |
den Sieg über die Nazis, sondern, wie die westlichen Länder, am 8. Mai. | |
Dieser Sieg wäre ohne die Ukrainer*innen unmöglich gewesen, sagt die | |
Historikerin Lesya Bondaruk aus Luzk. Das zeige sich an ihren enormen | |
Verlusten, der Beteiligung von Ukrainern an der Roten Armee und den Armeen | |
der Anti-Hitler-Koalition sowie in der UPA. | |
„Wenn ich diejenigen überzeugen müsste, die an der Rolle der Ukraine | |
zweifeln, würde ich sie daran erinnern, dass dieser Krieg fast drei Jahre | |
lang auf ukrainischem Territorium stattfand und Hitler sogar sein | |
Hauptquartier in Winnyzja errichtete“, sagt Bondaruk. „Der Beitrag der | |
Ukrainer, die damals keinen eigenen Staat hatten und deshalb in | |
verschiedenen Anti-Nazi-Armeen, vor allem aber in der sowjetischen, | |
kämpften, war erheblich. Und ich möchte auch daran erinnern, dass man nicht | |
weiß, ob Moskau ohne die Hilfe der USA überlebt hätte. Alleine wäre die | |
UdSSR mit dem Faschismus niemals fertig geworden.“ | |
Nach Angaben des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken belaufen | |
sich die Toten der Ukraine im Zweiten Weltkrieg auf 8 bis 9 Millionen | |
Menschen. Bei Recherchen für das Projekt „Buch der Erinnerung der Ukraine“ | |
wurde festgestellt, dass in der ersten Kriegsperiode, vor der vollständigen | |
Besetzung durch die Deutschen, 3,6 Millionen Bürger*innen aus dem Gebiet | |
der Ukrainischen SSR zur Roten Armee eingezogen wurden. Bis zum Kriegsende | |
weitere 3,5 Millionen. Das war etwa ein Fünftel der derjenigen, die in der | |
Roten Armee gekämpft haben. Jeder zweite von ihnen starb und jeder zweite | |
Überlebende kehrte als Invalide zurück. | |
Außer in der Roten Armee kämpften Ukrainer in den Armeen Polens (120.000), | |
der USA (80.000), Kanadas (45.000) und Frankreichs (5.000). Sieben Ukrainer | |
waren Kommandeure an verschiedenen Fronten, 200 waren Generäle. Auch der | |
Akt der Kapitulation Japans wurde am 2. September 1945 von dem ukrainischen | |
General Kuzma Derevyanko unterzeichnet. | |
Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
6 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Juri Konkewitsch | |
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