# taz.de -- Holocaust-Gedenken im Bundestag: „Sei ein Mensch“ | |
> Der Bundestag gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus. Die | |
> Holocaust-Überlebende Szepesi erinnert an die NS-Anfänge und wünscht sich | |
> zu handeln. | |
Bild: Die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi neben Bundespräsident Frank-Walte… | |
BERLIN taz | „Die Shoa hat nicht mit Auschwitz begonnen. Sie begann mit | |
Worten und dem Schweigen und Wegschauen der Gesellschaft“, sagt Eva | |
Szepesi. Eindringlich fordert die 92-Jährige, die das Vernichtungslager | |
Auschwitz-Birkenau überlebte, gegen Menschenfeindlichkeit aufzustehen. „Wer | |
schweigt, macht sich mitschuldig“, sagte sie in der Gedenkstunde im | |
Bundestag für die Opfer des Nationalsozialismus. | |
Es ist ein besonders Gedenken im Bundestag, anlässlich der Befreiung des | |
Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee vor 79 Jahren. Zwei | |
Zeitzeugen werden sprechen: Eva Szepesi und der Sportjournalist Marcel | |
Reif, dessen Vater den Holocaust überlebte und der in zweiter Generation | |
die Last der Vergangenheit spüren musste. Hat doch Antisemitismus, seit dem | |
brutalen Angriff der Terrormiliz Hamas auf Israel, und die Bedrohungslage | |
durch Rechtsextreme in den vergangenen Monaten massiv zugenommen. | |
Traditionell haben sich im Plenum neben den Abgeordneten und den Ministern | |
auch die Spitzen des Staates versammelt. Die Bundesratspräsidentin Manuela | |
Schwesig hatte Eva Szepesi zum Rednerpult geführt. In der vordersten Reihe | |
vor den Abgeordnetenbänken sitzen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, | |
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Schwesig und die stellvertretende | |
Verfassungsgerichtspräsidentin Doris König. | |
Nie sei es wichtiger gewesen, Zeugnis abzulegen, sagt Szepesi vor dem | |
Parlament, denn „Nie wieder ist jetzt!“ Sie erzählt von ihrer Mutter, die | |
sie – noch ein kleines Mädchen –, als die Nazis Ungarn einnahmen, mit ihrer | |
Tante wegschickte, in der Hoffnung, dass sie dem Grauen entkommen könne. | |
Ende 1944 wurde sie dennoch [1][nach Auschwitz-Birkenau deportiert], dort | |
wo ihre Mutter und ihr Bruder Jahre zuvor vergast worden waren. Am 27. | |
Januar 1945 wurde sie von den sowjetischen Truppen befreit. „Und ich | |
lebte“, sagte sie an diesem Mittwoch. | |
## Die Angst ist zurück | |
Als 1938 die „Rassengesetze“ der Nazis in Kraft traten, habe sich ihre | |
Kindheit schlagartig verändert, „nur weil ich Jüdin bin“. Und erneut habe | |
sich für die Lebensrealität von Jüd*innen seit dem 7. Oktober wieder | |
alles verändert. Seitdem spielt die Frage der eigenen Sicherheit für die | |
92-Jährige auch in Deutschland wieder eine größere Rolle. Dass Kinder heute | |
wieder Angst hätten, zur Schule zu gehen, „nur weil sie Juden sind“, | |
schmerze sie sehr. | |
Es sei großartig, dass zurzeit so viele Menschen auf die Straße gegen | |
Rechtsextremismus demonstrierten, betont Szepesi und erhält [2][von allen | |
Fraktionen bis auf die AfD Applaus]. „Ihr habt keine Schuld für das, was | |
passiert ist. Aber ihr habt die Verantwortung für das, was jetzt passiert“, | |
mahnt Szepesi in ihrer Gedenkrede im Bundestag. | |
Deutschland dürfe seine zweite Chance niemals verspielen, mahnt Reif, doch | |
„die großen Proteste der Aufrechten“, ließen ihn hoffen. Der bekannte | |
Sportjournalist erzählt, er sei in sorgenfreier Kindheit aufgewachsen, | |
gehüllt „im warmen kuscheligen Schweigen“, da sein Vater Leon Reif, der den | |
Holocaust überlebte, nie über das Erlebte sprach. „Er sagte nichts (…) Ich | |
fragte nicht“. | |
Sein Vater habe nicht gewollt, dass seine Kinder von den Schatten | |
heimgesucht werden, die seine Jugend erfüllt hatten. „Wir sollten nicht in | |
jedem Postboden, Bäcker, Straßenbahnfahrer einen möglichen Mörder unserer | |
Großeltern vermuten“. Und aus der Angst, „Unsagbares zu hören“ und | |
dessentwillen, was sein „so starker Vater erlebt“ hatte, habe Marcel Reif | |
nicht nachgefragt. Dennoch habe Leon Reif ihm zu seinen Lebzeiten das | |
Wichtigste mitgegeben. Immer wieder dieser eine Satz, den Reif nun auch zum | |
Ende seiner Gedenkrede im Bundestag lassen wolle: „Sei ein Mensch“. | |
Bundestagspräsidentin Bas verwies in ihrer Rede auf die mehr als 2.000 | |
antisemitischen Straftaten, die seit dem Angriff der Hamas in Deutschland | |
begangen wurden, und auch an die 130 Geiseln in den Händen der Terrormiliz. | |
Bas hoffe auf eine Perspektive für Nahost und dass die Angehörigen der | |
Geiseln ihre Liebsten bald wieder bei sich hätten. Eva Szepesi formuliert | |
es klarer: „Bringt sie nach Hause – jetzt“, ruft sie den Anwesenden zu. | |
## „Verantwortung verjährt nicht“ | |
Judenhass sei kein Problem der Vergangenheit. „Antisemitismus ist ein | |
Problem der Gegenwart“, sagt Bärbel Bas. ‚Nie wieder‘ sei eine Aufgabe d… | |
ganzen Gesellschaft, zu der jede und jeder beitragen müsse. „Diese | |
Verantwortung verjährt nicht“. | |
Umso wichtiger sei gerade jetzt die Notwendigkeit von mehr politischer | |
Bildung gegen Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit. Zum | |
Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus erklärten die | |
Beauftragten des Bundes für Minderheitenschutz und gegen Rassismus: „Wenn | |
wir heute der Millionen Opfer des Nationalsozialismus gedenken, dann tun | |
wir das in einer Zeit, in der Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder | |
Angst um ihre Sicherheit haben müssen. Wir tun es in einer Zeit, in der | |
sich unzählige Menschen durch rechtsextremistische Vertreibungspläne | |
existenziell bedroht fühlen.“ | |
Kein Mensch dürfe in Deutschland um seine Sicherheit fürchten, und sie | |
betonen, das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus sei eine | |
Verpflichtung, täglich gegen jede Form von Ausgrenzung und Diskriminierung | |
– „gegen Antisemitismus, Antiziganismus, jede Form von Rassismus, | |
Ableismus, Queerfeindlichkeit“ – einzutreten. Die Reden von Eva Szepesi und | |
Marcel Reif rühren so manche*n Bundestagsabgeordnete*n zu Tränen, | |
und sie erhalten beide minutenlangen Applaus. Eine Stunde später geht es im | |
Bundestag regulär weiter mit der Generaldebatte zum Haushalt, in der der | |
Rechtsruck Thema bleibt. | |
Seit 1996 wird der 27. Januar 1945, an dem die sowjetischen Truppen die | |
Überlebenden des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz im besetzten Polen | |
befreiten, in Deutschland als Holocaust-Gedenktag begangen. Nazis hatten | |
dort mehr als eine Million Menschen ermordet, überwiegend Juden. | |
Anlässlich dieses Datums erinnerte der Bundestag am Mittwoch an die vielen | |
sehr unterschiedlichen Opfer des Nationalsozialismus: [3][an die über 6 | |
Millionen ermordeten Jüd*innen Europas, an die Sinti*zze und Rom*nja, | |
queere Menschen, die Opfer der sogenannten Euthanasie und derer, die | |
Widerstand geleistet haben]. Der von Nazi-Deutschland entfesselte Weltkrieg | |
kostete weltweit mindestens 60 Millionen Menschen das Leben. | |
31 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Adefunmi Olanigan | |
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