# taz.de -- 80 Jahre Befreiung: Ein Leben, zwei Mal Flucht | |
> Als Kind floh die Jüdin Switlana Petrowskaja vor den Nazis aus dem | |
> sowjetischen Kyjiw ins sichere Russland. Mit 86 muss sie wieder flüchten. | |
> Nach Deutschland. | |
Bild: 1941 floh Switlana Petrowskaja als sechsjähriges Mädchen vor der deutsc… | |
Da sind sie, diese Erinnerungsfetzen. Switlana ist knapp vier Jahre alt und | |
lebt mit ihrer Mutter Rosa, dem Vater Wassilij und der Schwester Lida in | |
einer Wohnung. Und da ist noch der Großvater Ozjel, der sich häufig um | |
Switlana kümmert, das „kleine Hühnchen“, wie sie genannt wird. „Ich wei… | |
noch, dass mein Großvater mich einmal ins Kinderkino mitnahm. Ich erinnere | |
mich, dass er mich bei der Hand nahm. Ich fühlte seine warme Hand in meiner | |
Hand“, sagt Switlana Petrowskaja mehr als 80 Jahre später. | |
„Eines Tages brach Großvater zusammen. Es war ein Sonntag. Mein Vater stand | |
an der Tür. Ich war neugierig, was passiert war. Mir schien es, als sei er | |
nur müde geworden.“ Der Großvater starb im Oktober 1939, zu Beginn des | |
Zweiten Weltkriegs. „Ich brachte die Besatzung Warschaus und den Tod | |
Großvaters zusammen“, sagt Switlana Petrowskaja. Die Familie lebt weit weg | |
im sowjetischen Kiew, doch der Überfall Deutschlands auf Polen berührt sie | |
mehr als andere. Mutter Rosa stammt aus Warschau, Verwandte leben noch | |
dort. Nachrichten von ihnen bleiben bald aus. | |
Petrowskajas Familie ist jüdisch. Doch das weiß das Mädchen nicht. „Von uns | |
ging niemand in die Synagoge. Vielleicht Großmutter und Großvater, das weiß | |
ich nicht. Aber meine Mutter nicht. Und Vater war Ukrainer“, erzählt die | |
Frau mit den schneeweißen Haaren über ihre Kindertage. | |
Switlana Petrowskaja, die 2025 90 Jahre alt wird, hat Borschtsch gekocht. | |
Dazu gibt es eingelegten Fisch, Gurken, Tomaten, Fleisch und Gemüse, | |
Teigtaschen und zum Nachtisch Eis. Dazu Wein und Wodka. Wer viel fragt, | |
muss ordentlich essen, sagt sie. Es ist ein kleines Stück Kyjiw, das so in | |
Berlin eingezogen ist. Petrowskaja will aus ihrem Leben erzählen, von ihrer | |
zweifachen Flucht, zuerst vor den Deutschen nach Russland und dann vor den | |
Russen nach Deutschland. Sie sagt: „Verrückte Welt! Ich hätte nie daran | |
gedacht, in Deutschland zu leben.“ Aber es ging nicht anders. Mit ihren | |
kaputten Hüften brauchte sie viel zu lange aus ihrer Wohnung in den Bunker, | |
wenn wieder einmal russische Raketen oder Drohnen über der ukrainischen | |
Hauptstadt auftauchten. | |
## Erinnerungen an Panzersperren und Lastwagen | |
Switlana ist noch keine sechs Jahre alt, da kommt der Krieg zum ersten Mal | |
in ihr Leben in der Ukraine. Den Truppen der Wehrmacht, die im Juni 1941 | |
die Sowjetunion überfallen, folgen die Todesschwadronen der Einsatzgruppen | |
von Polizei und SS. Menschen wie Switlana Petrowskajas Familie sollen nicht | |
am Leben bleiben. | |
Petrowskaja spricht über das Jahr 1941 in Kiew: „Die meisten Juden wollten | |
nicht weg“, sagt sie. Doch ihr Vater, der zur Roten Armee eingezogen war, | |
habe einen Lastwagen organisiert, der einige Familien nach Osten | |
transportierte. Mutter Rosa nimmt ihre beiden Töchter und steigt ein. | |
Switlana Petrowskaja weiß noch, dass da die ersten Bomben auf Kiew | |
niedergingen. Sie erinnert sich an die Panzersperren auf den Straßen. | |
Es geht mit dem Lastwagen nach Osten. „Später, ich weiß nicht wo, fuhren | |
wir mit einem Güterzug. Es gab keine Toilette im Waggon, nur ein Loch für | |
30 oder mehr Familien. Ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs waren, | |
vielleicht ein oder zwei Wochen. Einmal verließ meine Mutter den Waggon, um | |
Wasser zu holen. Da fuhr der Zug wieder an. Ich weinte. Meine Mutter rannte | |
hinter dem Zug her. Andere Passagiere versuchten ihr zu helfen. Der Zug | |
fuhr noch ziemlich langsam. Es gelang, die Mutter wieder an Bord zu holen.“ | |
Switlana Petrowskaja erkrankt während der Flucht an einer Lungenentzündung. | |
Eine russische Ärztin rettet sie. Die Familie hat die Wolga erreicht und | |
bleibt in dem kleinen Dorf Kinel-Tscherkassy hängen. Dort übernimmt die | |
Mutter, die als Lehrerin gearbeitet hat, ein Haus voller Kinder, die aus | |
dem von der Wehrmacht belagerten Leningrad evakuiert worden sind. | |
Sie haben nur wenige Informationen über das, was inzwischen in ihrer Heimat | |
geschieht. Kiew wird am [1][19. September 1941] von deutschen Truppen | |
erobert. Gut eine Woche später hängen Aufrufe in den Straßen. Darin heißt | |
es: „Sämtliche Juden haben sich am Montag, dem 29. September bis 8 Uhr, | |
Ecke der Melnik- und Dokteriwski-Strasse einzufinden. Mitzunehmen sind | |
Dokumente, Geld und Wertsachen, sowie warme Bekleidung, Wäsche, usw. Wer | |
dieser Aufforderung nicht nachkommt und anderweitig angetroffen wird, wird | |
erschossen.“ | |
## Großmutter und Tante in Babi Yar ermordet | |
Vor ihrer Flucht hat die Mutter ihre Verwandten angefleht, mit ihnen Kiew | |
zu verlassen. Doch Switlanas Großmutter Anna und Tante Ljolja wollen nicht | |
evakuiert werden. Sie werden in Babi Yar umgebracht, einer Schlucht am | |
Rande von Kiew, so wie mehr als 33.000 weitere Jüdinnen und Juden. | |
Erschossen von SS-Sonderkommandos. Viel später hat die Familie davon | |
erfahren. Petrowskaja erzählt: „Natasha, genannt Nastja, die Schwester | |
meines Vaters, ging damals mit ihnen und half, das Gepäck zu tragen. Es gab | |
drei Absperrlinien, zwei von Ukrainern und die letzte von Deutschen | |
besetzt. An der zweiten Linie hörten die Polizisten, dass Nastja Ukrainisch | |
sprach und erklärten, sie dürfe nicht länger mitgehen.“ Switlana | |
Petrowskaja holt ein Stück Pappe von ihrem Schreibtisch, darauf aufgeklebt | |
das Schwarz-Weiß-Foto einer Frau. „Das war meine Großmutter Anna“, sagt | |
sie. | |
1944 kehrt Switlana Petrowskaja mit Mutter und Schwester nach Kiew zurück. | |
Die Stadt ist wieder in der Hand der Sowjets, aber zerstört. Die Menschen | |
hungern. Sie berichtet: „Ich war gerade zehn Jahre alt geworden. Eines | |
Tages 1945 klopfte es an der Tür. Ich öffnete. Ein Mann stand da. Er war | |
sehr schmal. Ich fragte den Mann, was er wolle. Er sagte: ‚Mein kleines | |
Hühnchen‘. Ich habe meinen Vater nicht wiedererkannt. Er war nur ein paar | |
Minuten bei mir, dann musste er zurück zum Zug.“ | |
Der Vater ist als Soldat in deutsche Gefangenschaft geraten. Zuletzt wird | |
er ins KZ Mauthausen gebracht. Die Amerikaner befreien ihn am 5. Mai 1945. | |
Doch frei ist er danach nicht. Sowjetbürger, die der Feind festgenommen | |
hat, gelten Stalin als unsichere Kantonisten. Sie kommen zur Überprüfung in | |
Filtrationslager. | |
Das Leben in Kiew ist schwer. Die von Stalin verteufelten USA schicken | |
Spenden für die Bevölkerung. Switlana bekommt Zweifel: „Als ich zehn Jahre | |
alt war, bekam ich einen Mantel aus Amerika. Darin fanden wir eingenäht | |
einen Brief. ‚Lieber Freund, ich weiß, dass es bei euch sehr kalte Winter | |
gibt. Ich bin eine Mutter von zwei Kindern. Vielleicht kann dieser Mantel | |
ein wenig Wärme spenden und das Kind durch den Winter bringen‘, stand da. | |
Diese Hilfe hat mich davor bewahrt, Hassgefühle zu entwickeln. Ich glaubte | |
nicht, dass alle Amerikaner Teufel seien. Die Menschen, die solche Briefe | |
schrieben, konnten keine schlechten Menschen sein.“ | |
## Was ist mit mir? | |
Später beginnt Petrowskaja ein Studium. Sie will Geschichtslehrerin werden. | |
„Zum ersten Mal fühlte ich meine jüdische Identität in Stalins letzten | |
Tagen. Damals liefen die Prozesse. Jüdische Ärzte wurden beschuldigt, | |
Stalin vergiften zu wollen. Eines Tages, im Januar 1953, diskutierten | |
Studenten darüber, was geschehen solle. Einige riefen, alle Juden sollten | |
nach Sibirien deportiert werden. Ein anderer meinte, man müsste sie | |
umbringen. Mein bester Freund war unter denen, die jetzt alle Juden | |
umbringen wollten. Ich fragte: ‚Und was ist mit mir? Meiner Mutter? Meiner | |
Familie?‘ ‚Deine Mutter ist eine sehr nette Frau, niemand wird sie | |
angreifen‘, hieß es. Das waren Geschichtsstudenten!“, ruft Petrowskaja. | |
Auch 72 Jahre später ist ihre Empörung spürbar. | |
[2][Der Massenmord von Babi Yar soll vergessen werden], finden die | |
sowjetischen Machthaber – auch die nach Stalin. Petrowskaja sagt: „Die | |
Regierung erlaubte keine Erinnerung. Auf dem Platz entstand ein | |
Sportzentrum. Über jüdische Opfer durfte nicht gesprochen werden. Später | |
wurde ein Monument gebaut, aber wieder ohne Erwähnung von Juden. Ich war | |
Lehrerin. Ich ging mit meinen Schulkindern dort hin.“ | |
1991 endet die Geschichte der Sowjetunion. „Am 29. September 1991, einen | |
Monat nach der Unabhängigkeit der Ukraine, kamen Menschen aus der ganzen | |
Ukraine nach Babi Yar. Es war eine Demonstration, etwa Großartiges.“ | |
Petrowskaja holt ein Foto hervor. „Ich trug dieses Bild von Großmutter Anna | |
damals mit mir nach Babi Yar. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich, | |
dass wir, die Ukrainer, ein Volk sind. Wir gehören zusammen.“ | |
Geschichte wiederholt sich nicht. Doch 2022 fliegen wieder Bomben auf | |
Kyjiw, es werden Panzersperren errichtet. Tage vor dem russischen Angriff | |
hat Petrowskaja einen Appell an die russischen Mütter gerichtet, ihre Söhne | |
nicht in den Krieg ziehen zu lassen. „Sie müssen die Geschichte verstehen. | |
Aber sie glauben Putin oder sie haben Angst. Ich habe keine Angst. Es ist | |
Wahnsinn. Es muss aufhören“, sagt sie heute. | |
Switlana Petrowskaja verlässt im März 2022 Kyjiw in einem Bus und findet | |
Asyl in dem Land, vor dessen Soldaten sie 81 Jahre zuvor geflüchtet war: | |
Deutschland. Sie fühle sich hier sehr gut aufgenommen, sagt sie. [3][Aber | |
ihre Heimat bleibe die Ukraine,] sagt sie. Nur hassen, das kann sie bis | |
heute nicht. „Ich lebe mit der russischen Kultur. Ich liebe die ukrainische | |
Kultur, das Volk, die Freundschaft. Ich mag aber auch russische Musik und | |
russische Schriftsteller, die Dissidenten. Ich kann nicht alle Russen | |
hassen.“ | |
2024 ist sie nach Kyjiw gereist. „Ich sah die Gräber junger Menschen, die | |
im Krieg gefallen sind. Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht müssen die | |
Mütter dieser Gefallenen Russland hassen.“ Petrowskaja holt ein Foto, das | |
einen jungen Mann zeigt: Oleg Senigowsky. Sie sagt: „Das ist mein | |
Lieblingsschüler. Er wurde im letzten Sommer an der Front getötet.“ | |
7 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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8. Mai 1945 | |
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