# taz.de -- Flucht vor dem Endsieg 1945: Im Westen was Neues | |
> Als Vierzehnjähriger flüchtet unser Autor mit seinem Freund Gerd vor der | |
> Roten Armee und dem Volkssturm. Erinnerungen an sechs Wochen | |
> Ausnahmezustand. | |
Bild: Das linke Porträtfoto zeigt Gerd in jungen Jahren, das rechte den Autor … | |
Im Januar 1945 wurde es im Kinderlandverschickungslager sehr unangenehm. | |
Die Russen waren nur noch wenige Kilometer von Werblitz bei Soldin | |
entfernt, wo ich seit November 1943 mit anderen Schülern der | |
Zeppelin-Oberschule lebte, weil man uns vor den Bomben schützen wollte, die | |
auf unsere Heimatstadt Berlin fielen. Wenn der Wind aus dem Osten wehte, | |
hörten wir die Geräusche der Front, die wie ein entferntes Gewitter | |
klangen. Täglich trafen Flüchtlingstransporte ein – aus irgendwelchen | |
Gebieten, die schon von den Russen erobert waren. In Güterwaggons | |
zusammengepfercht, bei eisiger Kälte und ohne Heizung, trafen Menschen ein, | |
die vierzehn Tage und länger in diesen Zügen gelebt hatten. Viele sprachen | |
nur mühsam Deutsch. Sie konnten kaum zum Ausdruck bringen, wo es ihnen | |
wehtat. | |
Wir wurden schichtweise eingesetzt, Tag und Nacht, um die Güterwagen zu | |
entladen. Die Turnhalle und der Gemeindesaal des Städtchens waren mit Stroh | |
ausgelegt worden und dienten als Lagerstatt für die ankommenden | |
Flüchtlingsfamilien. Viele der alten Leute konnten nur noch als Leichen aus | |
den Güterwagen gehoben werden. Ich erinnere mich auch noch an eine | |
Holzkiste, in der sich eine Anzahl auf der Fahrt erfrorener Kleinkinder | |
befand. Selbst der Kot, den die Flüchtlinge auf der Fahrt in den Waggons | |
lassen mussten, war auf den hölzernen Planken angefroren. | |
Die Herren von der Partei, einschließlich unserer Lehrer, schienen zwar | |
ganz anderer Meinung zu sein, aber die meisten von uns Jungen glaubten | |
nicht mehr an einen bevorstehenden Endsieg des Großdeutschen Reiches. | |
Deshalb dachten wir sehr intensiv darüber nach, wie wir dem sich | |
abzeichnenden Inferno entgehen konnten. | |
Die Lagerleitung schien das Donnern der russischen Geschütze als | |
Selbstverständlichkeit zu empfinden. Jedenfalls zog sie aus den Ereignissen | |
keine Konsequenzen. Wenn einer der Schüler von Rückkehr nach Berlin redete, | |
dann nannten ihn die Lehrer einen Defätisten. Mein Mitschüler Gerd, der | |
damals schon 15 Jahre alt war, ein Jahr älter als ich, fuhr eines Morgens | |
kurzentschlossen mit seinem Fahrrad ab nach Berlin. Er bewies damit mehr | |
Intelligenz als die gesamte Pädagogenschaft. | |
Allerdings musste er, um bei den Lehrern keinen Verdacht zu erregen, einen | |
großen Teil seiner Habe, wozu auch das Bettzeug gehörte, im Lager | |
zurücklassen. Meine Absicht dagegen war es, Bett und Kleidung mitzunehmen. | |
Ich ging zum Arzt des Städtchens, klagte über einen Rückfall in die | |
Gelbsucht, an der ich ein Jahr zuvor einmal erkrankt gewesen war, konnte | |
als Beweis für meine Behauptung etwas Gelbliches in den Augenwinkeln | |
vorzeigen, und bekam ein Attest, das mir strengste Diät verordnete. Die | |
Krankenkost sei aber nur im Berliner Elternhaus herzustellen. Ein Telegramm | |
beorderte meine Mutter nach Werblitz. Sie kam per Eisenbahn, obwohl es zu | |
jener Zeit nicht leicht war, eine Fahrkarte zu bekommen, denn die Devise | |
lautete: „Erst siegen, dann reisen!“ | |
Als der Direktor erfuhr, dass Mutter mich wegen des ärztlichen Attestes und | |
der verordneten Diät nach Berlin mitnehmen wollte, wusste er natürlich | |
sofort, dass es sich dabei nur um einen Vorwand handelte. Er tat mehr als | |
seine Pflicht, bezeichnete mich als Aufrührer, meine Mutter als | |
verräterische Volksgenossin, und uns beide als feiges Ungeziefer. Gegen | |
unsere Abreise konnte er allerdings nichts unternehmen. | |
Meine Mutter und ich kamen wohlbehalten in Berlin-Schöneweide an. Unsere | |
Wohnung hatte keine Fensterscheiben mehr, die Türen waren mehrmals aus den | |
Angeln gefallen, weil sie den Luftdruck nicht vertragen hatten, der durch | |
die Bomben verursacht worden war. Die Wände zwischen den Zimmern hatten | |
handbreite Risse und expressionistische Ausbuchtungen. Durch eine | |
amerikanische Brandbombe war die obere Etage unseres Hauses zum größten | |
Teil ausgebrannt. | |
## Aus Angst vor den Russen nach Brandenburg | |
In den Monaten bis zum Frühjahr heulten jeden Tag und jede Nacht die | |
Alarmsirenen, amerikanische fliegende Festungen warfen ungehindert ihre | |
Bomben auf die Stadt. Die Familie ging bei Fliegeralarm in zahlreicher | |
nachbarlicher Begleitung zum zehn Minuten entfernten Bunker, denn gegen | |
Luftminen und Zehn-Zentner-Bomben waren die notdürftig hergerichteten | |
Schutzräume in Neubauhäusern nicht gefeit. Und die Rote Armee rückte näher | |
und näher. | |
„Können wir es verantworten“, so fragten sich meine Eltern, „die Kinder … | |
russische Hände fallen zu lassen, sodass sie vielleicht ins ferne Sibirien | |
abtransportiert werden?“ Gerds Eltern stellten sich die gleiche Frage. Und | |
beide Familien gaben die gleiche Antwort. „Schicken wir“, so sagten die | |
Eltern des Freundes, „die Kinder zu unseren Verwandten nach Brandenburg an | |
der Havel. Dort wohnt die gute Tante Minna im Haus der Bäckerei unseres | |
Onkels Fritz, der leider im Krieg gegen die Feinde kämpft.“ „Ja“, sagten | |
meine Eltern, „dort werden bald die Amerikaner sein, während es in Berlin | |
nicht mehr lange dauert, bis die Russen hier sind.“ | |
Am 19. April 1945 schnürten Gerd und ich unser Bündel – genauer gesagt, | |
zwei Koffer – und reisten gen Brandenburg. Gerd hatte mittlerweile einen | |
Musterungsbefehl bekommen, er stand vor seinem 16. Geburtstag. „Volkssturm“ | |
hieß die Truppe, zu der er gezogen werden sollte. Das letzte Aufgebot der | |
ältesten und jüngsten Wehrfähigen, die der Führer dazu aufrief, den | |
„Endsieg“ zu retten und sie, ausgestattet mit ein paar Panzerfäusten, ins | |
Feuer schickte. | |
Die zu jener Zeit stets überfüllte und oftmals durch Luftangriffe außer | |
Betrieb befindliche S-Bahn brachte uns nach Potsdam. Der Hauptbahnhof war | |
völlig zertrümmert. Lokomotiven standen herum wie tote, verwundete oder | |
gelähmte Riesentiere. Angesichts der Gleise, die teils zerrissen in den | |
Himmel ragten, stellte Gerd fest: „Hier kommen wir nicht weg.“ | |
Aber es gab einen eiligst errichteten Notbahnsteig außerhalb des Bahnhofes. | |
Hier saßen Leute auf Koffern und Säcken, um wie wir auf den Zug zu warten, | |
von dem niemand wusste, ob er kommen würde, und wenn ja, wann. „Alles | |
verloren“, „ausgebombt“, „dreimal ausgebombt“, „geflüchtet“, „… | |
war zu hören. Einige starrten nur stumpfsinnig vor sich hin. Wir packten | |
unsere Brote aus und frühstückten. | |
Zu den Wundern jener Zeit gehörte der Personenzug, der uns nach Brandenburg | |
brachte. Dort fanden wir den Bäckerladen der Tante außer Betrieb, aber das | |
Haus stand noch. Die etwa 40 Jahre alte Tante Minna staunte ihren Neffen | |
Gerd erkennend: „Wo kommt ihr denn her?“ Dabei traf mich als Fremdkörper | |
ein scheeler Seitenblick. | |
Man schimpfte im Haus Tante Minnas nicht offen auf Adolf Hitler. Wir | |
beschlossen also, nichts von dem Musterungsbefehl zu sagen, demzufolge Gerd | |
bereits russische Panzer zu knacken hätte. Die Tante vereinnahmte unsere | |
Lebensmittelkarten und wir wurden schließlich in ein Mansardenkämmerchen | |
hinter dem Mehlboden geleitet, das uns fortan zur Wohnstatt dienen sollte. | |
Zumindest so lange, bis die Amerikaner hier wären, die sich in rapidem | |
Vormarsch befanden. | |
Das war der 20. April – Führers Geburtstag. Die Sirupbrote zum Frühstück | |
verzehrten wir mit dem Gedanken an die hungernden Berliner, und damit an | |
die ungleichmäßige Verteilung irdischer Güter in Krisenzeiten. Ähnliche | |
Sorgen schienen auch Tante Minna zu bewegen, denn sie beobachtete unsere | |
Fresslust mit sichtlicher Beunruhigung. „Nun passt mal auf, Kinder, ich | |
weiß nicht, aber mir ist so, und vielleicht denken die Nachbarn, ihr seid | |
womöglich von der Wehrmacht desertiert. Wenn ihr also jemanden trefft, dann | |
sagt lieber gleich euer Alter. Am besten wäre es natürlich, wenn ihr gleich | |
zur Ortsgruppe der Partei geht und euch zum Volkssturm meldet.“ | |
## Mit dem Paddelboot elbabwärts zu den Amis | |
Unter vier Augen hielten wir Kriegsrat. Gerd hatte eine Idee: „Wir nehmen | |
das Paddelboot aus dem Schuppen, packen unsere Koffer rein, schaffen | |
Proviant an Bord und hauen ab. Immer die Havel runter bis zur Elbe – dann | |
sind wir genau bei den Amis.“ „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann | |
paddeln sie noch heute – mit dir spielen ’se wohl!“ „Na dann lies mal d… | |
Wehrmachtsbericht von gestern.“ Ich las: „Die Besatzung von Magdeburg | |
leistet, in einzelne Kampfgruppen aufgespalten, im Westen der Stadt noch | |
tapferen Widerstand. Im Kampfgebiet Dessau-Bitterfeld …“ | |
„Das ist unwichtig“, fiel mir Gerd ins Wort, „für uns ist das Stichwort: | |
Magdeburg. Der Wehrmachtsbericht ist von gestern, also ungefähr nach der | |
Kampflage von vorgestern. Bei dem Tempo der Amis haben sie die Elbe schon | |
überschritten. Wir brauchen also nur elbabwärts zu paddeln und kommen genau | |
hin.“ | |
Nun war der Gerd schon immer klüger gewesen als ich. Er hatte sogar in | |
Mathematik eine eins. Es war also kein Wunder, dass ich jetzt doch einige | |
Lust auf die Bootspartie bekam. | |
„Also schön“, sagte ich, „an mir solls nicht liegen. Aber wie bekommen w… | |
das Boot?“ | |
„Tante Minna wirds schon rausrücken – die ist doch froh, wenn sie uns damit | |
los ist.“ | |
So war es tatsächlich. Wir versprachen, das Boot später heil wieder | |
zurückzubringen und durften es nehmen. Natürlich gingen wir gleich daran, | |
klar Schiff zu machen. Zunächst schleppten wir heimlich große Mengen | |
Proviant aus Tante Minnas reichlich gefüllter Speisekammer zum Schuppen am | |
Ufer. Aber als wir alles in dem Boot verstaut hatten, versank es überladen | |
in der Havel. Wir mussten den Plan ändern. | |
Am 24. April 1945 packten wir einen gemeinsamen Koffer mit dem Nötigsten. | |
Wir wollten mit einem der Lastwagen fahren, die sich auf dem Weg nach | |
Norden befanden. Die Straßen waren voll von Flüchtlingstrecks aus den | |
östlichen Reichsgebieten. Mit unserem Koffer – eine Latte durch den Griff | |
gezogen – standen wir am Straßenrand, aber kein Auto hielt an. Viele, die | |
mit uns warteten, sprangen auf die fahrenden Lastwagen auf. Mit unserem | |
schweren Gepäck war das unmöglich. „Auf diese Weise kommen wir hier nie | |
weg!“ Also gaben wir auch diesen Plan auf. | |
Zurück bei Tante Minnas Haus ging der Fliegeralarm los. In der Mansarde | |
steckten wir nun nur noch die allernötigsten Sachen in einen Rucksack und | |
einen englischen Militärtornister aus dem Ersten Weltkrieg. Gerd schaute | |
aus dem Fenster und winkte mir, näher zu kommen. Auf dem Acker am anderen | |
Havelufer fuhren munter russische Panzer hin und her. So weit war es also | |
schon. Wir starrten wie gebannt aus dem kleinen Fenster. | |
Plötzlich explodierte über dem Haus, für uns gerade noch sichtbar, ein | |
Schrapnell. Man hatte uns wohl für Beobachtungsposten gehalten. Wir rafften | |
unsere Gepäckstücke zusammen – und fielen im gleichen Augenblick rückwärts | |
ins Zimmer. | |
Es gibt Geräusche, die man als Knall beschreiben kann. Dieses Geräusch war | |
mehr als ein Knall. Ich hörte danach längere Zeit gar nichts. | |
In der Mansarde hatte sich in Sekundenschnelle dicker Staub ausgebreitet. | |
Gerd war nicht zu sehen. Ich rappelte mich auf und stieß an der Tür mit ihm | |
zusammen. Auf dem Mehlboden, den wir überqueren mussten, um nach unten zu | |
gelangen, brannte ein Mehlsack. Wir traten mit den Füßen dagegen und | |
löschten die Flammen. Gerd sah aus wie ein Clown, weiß gepudert, sicher | |
ging es mir nicht anders. Aber lachen konnten wir nicht. Mit Rucksack und | |
Tornister zogen wir los. Das Gehör kehrte nur zögernd wieder. Später | |
erfuhren wir, dass eine Granate, ohne zu explodieren, das Fachwerk und | |
zwischen uns beiden hindurch, noch zwei Schornsteinwände durchschlagen | |
hatte, um schließlich in dem Sack Mehl stecken zu bleiben. | |
## Häftlinge waren nur noch Gerippe mit Haut | |
Gerd und ich gehörten zu den letzten, die über eine Havelbrücke aus der | |
Stadt gelangten. Wir hatten das Glück, mit einem Gelände-Pkw der Wehrmacht | |
mitfahren zu können. Ein Feldwebel und ein Leutnant fuhren damit zu | |
irgendeinem Ziel, das es wahrscheinlich schon nicht mehr gab. Dazu ein | |
SS-Sturmführer und zwei Wehrmachtshelferinnen. Wir hatten das Gefühl, dass | |
sie alle auf dem Absprung aus dem Krieg waren, auch wenn das natürlich | |
niemand sagte. Gerd und ich saßen auf einem großen, angeschnallten | |
Holzkoffer hinter den Sitzen des Wagens. Wir krallten uns an den Riemen des | |
Koffers fest, um nicht herunterzufallen. Aber es ging langsam genug voran. | |
Auf der rechten Straßenseite die Flüchtlingswagen mit müden, abgemagerten | |
Gäulen davor. Links Kraftfahrzeuge, viele mit Holzgasgeneratoren, den | |
„Kochern“, wie die Soldaten sagten. Dann überholten wir eine Kolonne | |
elender Gestalten, bewacht von SS. Stumpf sahen die Männer und Frauen vor | |
sich hin. Unrasiert, hohlwangig, mit tief in den Höhlen liegenden Augen, | |
Gerippe mit Haut. In ihren Sträflingskleidern und nach oft jahrelanger Haft | |
sahen sie fast alle so aus, wie man uns die Feinde des Volkes, die | |
„Untermenschen“, geschildert hatte. Unsere Hirne gehörten zu den | |
gutwilligsten – aber sie waren verkleistert, wie andere auch. Heute weiß | |
ich, dass wir einem Todesmarsch aus einem KZ begegnet sind. | |
Irgendwo zwischen Brandenburg und Neustrelitz fanden wir Unterschlupf in | |
einem Gehöft. Es war damals üblich, dass die Bauern alle Gäste bewirteten, | |
solange der Vorrat reichte. In der riesigen Küche gab es Bratkartoffeln mit | |
Ei. Um weiter nach Nordwesten zu gelangen, bestiegen wir nach einem guten | |
Frühstück wieder das Auto. Wir wollten nun zu einer weiteren Tante von | |
Gerd, Tante Luise aus Neustrelitz. Ich weiß nicht, wo der Gerd seine vielen | |
Tanten her hatte. | |
Tante Luise schloss uns tränenreich in ihre Arme. Vielleicht dachte sie | |
auch an ihren Sohn, der irgendwo gegen die Feinde kämpfte, als sie ihren | |
unerwarteten Besuch empfing – in der Hoffnung, ihrem Knaben würde im | |
Bedarfsfalle ähnliches zuteil. Sein Stübchen bezogen wir nun. Wir hatten | |
ein riesig breites Bett. Vom Fenster aus war der Bahnhof Neustrelitz zu | |
sehen. Er lag nur wenige Hundert Meter von uns entfernt, und wir freuten | |
uns, wie gesund er aussah. Im Gegensatz zu den Bahnhöfen, die wir gerade | |
erlebt hatten, Potsdam und dann Brandenburg. Früh gingen wir schlafen, und | |
nichts konnte uns in der Ruhe stören. Nichts. | |
Als wir aufwachten und aus dem Fenster sahen, war der Bahnhof weg. Es gibt | |
Eindrücke, denen man selbst nicht traut. Man sieht so etwas und grinst, | |
oder man lässt das Grinsen, aber man glaubt nichts von dem, was man sieht. | |
Wir glaubten es schließlich doch, denn es waren einige Trümmer | |
übriggeblieben, die uns beim Glauben halfen. Die Tante hatte den | |
Luftschutzkeller aufgesucht. Warum sie uns nicht geweckt hat, wusste sie | |
nicht mehr. Und unser Gehör war von der Granate in Tante Minnas Dachboden | |
noch so geschädigt, das wir einfach nichts gehört hatten. | |
Es war damals nicht leicht, per Anhalter zu reisen, denn erstens hielten | |
die Autos nicht gern, und zweitens gab es kaum welche. Schließlich fanden | |
wir einen Lastwagen, der uns bis zum Städtchen Waren brachte. Auf dem | |
dortigen Bahnhof stand ein Güterzug, beladen mit Grubenholz. | |
Wir konnten eine stabile Ecke des Waggons erwischen und fuhren über | |
Vollrathsruhe, Lalendorf, Laage nach Rostock. Dort bekamen wir noch am | |
gleichen Tag einen Personenzug. Der fuhr nur bis Bad Doberan, ein paar | |
Kilometer. Wir stiegen aus, und mit uns einige Hundert Deutsche, denen man | |
ansah, dass sie sich keinen Illusionen hingaben. Sie hatten den Krieg | |
verloren, und das Wirtschaftswunder der Jahre nach 1950 war im April 1945 | |
eine unvorstellbare Märchenwelt. | |
Gerd und ich sprachen bei der NSV vor, der „Nationalsozialistischen | |
Volkswohlfahrt“, dem gleichgeschalteten Wohlfahrtsverband des NS-Staates. | |
Ein Massenquartier mit Geschrei, Gestank und einer schwachen Chance auf ein | |
Bett im überfüllten Schlafsaal. Sollte es in dieser Gegend keine Scheunen | |
geben und Stroh? Wir marschierten ein Stückchen aus dem Ort. Da stand ein | |
Försterhaus. Spiegelei, Brot, Stroh auf der Tenne. Wir schliefen wunderbar. | |
Es dauerte noch einen Tag, bis wir in Hamburg ankamen. Bis dahin tippelten | |
wir am Rande der Landstraßen, fuhren zwischendurch auf einem Traktor, | |
pumpten uns ein Stück mit der Draisine auf einer Eisenbahnstrecke vorwärts, | |
holperten auf dem pferdegetriebenen Leiterwagen eines Bauern und benutzten | |
schließlich glückstrahlend in Hamburgs Außenbezirken die Hochbahn, die dort | |
S-Bahn heißt. | |
In Barmbek gab es wieder eine Tante, aber die beherbergte uns nicht. Sie | |
hatte Angst, die Aufnahme mutmaßlich fahnenflüchtiger Jugendlicher könnte | |
ihr Ärger mit der Polizei einbringen. Als der Krieg lange vorüber war, hat | |
sie sich entschuldigt. Wir gingen damals also wieder zur NSV. Das Heim war | |
in einer Schule untergebracht. | |
Wir gingen auch zu einem Friseur, der zwischen den Ruinen Hamburgs | |
übriggeblieben war. Als wir das Geschäft wieder verließen, sahen wir uns | |
um. Den Hamburger Hafen hatten wir uns ganz anders vorgestellt. Er sah sehr | |
traurig aus. Kein Schiff, nur einige Wracks. Die Anlagen waren zerstört. | |
Wir standen an den Landungsbrücken und träumten den ewigen Halbstarkentraum | |
vom blinden Passagier nach Übersee. Selten war seine Erfüllung so unmöglich | |
wie zu jener Zeit. | |
Am Abend des 28. April gingen Gerd und ich sogar in ein Kino und sahen | |
Johannes Heesters in einer Revue. Es war eine völlig andere Welt. Doch am | |
nächsten Abend kamen Scharführer von der Hitlerjugend in das Asyl. Sie | |
bestellten uns zum folgenden Morgen in ihr Büro. Die anderen Asylbewohner | |
sagten, wir sollten von dort aus zum Volkssturm gebracht werden. | |
Die Nacht in Hamburg war still und friedlich, denn die Alliierten konnten | |
getrost darauf verzichten, ihre Bomben an diesen Trümmerhaufen zu | |
verschwenden. Aber genauso, wie wir es aus Berlin kannten, hatten auch hier | |
die Eisenbahnmonteure nach jedem Luftangriff Gleisanlagen und Stromkabel | |
der Hochbahn ausgebessert. Die Züge fuhren wie Geisterbahnen durch | |
Trümmerfelder. | |
Wir wollten auf keinen Fall das Büro der Hitlerjugend aufsuchen. | |
Schließlich hätten wir uns bereits im Kinderlandverschickungslager in den | |
Volkssturm schicken lassen können. Nach dem Krieg erfuhren wir, dass die | |
acht Schulkameraden, die das tatsächlich getan hatten, allesamt von den | |
Russen erschossen worden waren. Auch in Berlin hätten wir uns mit | |
Panzerfäusten für den Endsieg ausrüsten lassen können. Oder in Brandenburg. | |
Doch fürs Vaterland kämpfen und sterben, das wollten wir nun mal nicht. | |
Um fünf Uhr schlichen wir uns aus dem Haus und nahmen den ersten Zug in | |
Richtung Nordosten. Die Strecke endete in Hoisdorf bei Hamburg. Das lag | |
ungefähr in der Richtung, aus der wir gekommen waren. Aber es schien die | |
einzige vernünftige Möglichkeit zu sein, schnell in ein Gebiet zu kommen, | |
wo, so erzählte man uns, die deutschen Truppen kampflos vor den Briten | |
zurückwichen. Unser Entschluss stand jetzt fest: Wir wechseln über die | |
Kampffront in britisch besetztes Gebiet über, wo uns niemand mehr zum | |
Volkssturm schicken will. Ganz gleich, ob der Krieg dann schon beendet sein | |
würde oder nicht. | |
Von Hoisdorf aus mussten wir erstmalig ein größeres Stück zu Fuß laufen. | |
Auf dem Weg begegneten uns wie erwartet deutsche Truppen. Die Soldaten | |
sagten ganz offen, dass die Tommies nicht weit seien und es für die | |
Deutschen an dieser Front keinen Sinn mehr habe, sich zu verteidigen. Es | |
gab hier anscheinend weder Panzer noch andere schwere Waffen. | |
Um schneller rückwärts marschieren zu können, entledigten sich die Soldaten | |
manch eines Kommissbrotes, sodass wir wieder über genügend Proviant | |
verfügten, als wir frontwärts liefen. Hinter Trittau, wo wir eine Nacht in | |
einer Jugendherberge verbrachten, begegneten uns deutsche Soldaten nur noch | |
vereinzelt. In einem Dorfkrämerladen setzten wir unsere restlichen | |
Lebensmittelmarken um. In Schwarzenbek, so sagte man uns, seien schon die | |
Engländer. Nach halbstündigem Fußmarsch müssten wir sie erreichen. Schüsse | |
hörten wir nur ganz selten. Sie schienen in entlegenen Gebieten zu fallen. | |
Ich hatte mein weißes Halstuch in die Hand genommen und hielt es krampfhaft | |
fest, um es notfalls zum Zeichen der Kapitulation wie eine weiße Fahne zu | |
schwenken. Gerd hielt zum gleichen Zweck ein Taschentuch bereit, das | |
allerdings in seiner momentanen Farbgebung eher einer Piratenflagge glich. | |
Die Ruhe um uns war verdächtig. Wir erwarteten, jeden Augenblick ins | |
Schussfeld eines englischen MG-Nestes zu geraten oder gar das | |
Artilleriefeuer schwerer Haubitzen auf uns zu ziehen. Wir sprachen kein | |
Wort, passierten den Feldweg am Waldrand, ich voran, weil ich das große | |
weiße Tuch besaß. Vor uns sahen wir bereits die Dächer der Häuser von | |
Schwarzenbek. | |
Plötzlich erreichten wir wieder eine Straße und ehe wir uns auf das Hissen | |
der Kapitulationsfahne besinnen konnten, stand vor uns ein britischer | |
Schützenpanzer. Wir erstarrten und sahen mit offenem Mund auf das Panorama | |
vor unseren Augen. Das Kriegsfahrzeug war von den Schönen des Dorfes | |
umringt. Aus der Einstiegsöffnung des Panzerwagens ragten die Oberkörper | |
von zwei britischen Soldaten, zwischen den Lippen hielten sie Zigaretten, | |
ein friedliches Bild. Allerdings trauten wir uns nicht so nah heran wie die | |
Mädchen, die offenbar ihr Schulenglisch an den Siegern erprobten. | |
Wir wanderten ein Stück die Straße entlang und überlegten, was wir nun wohl | |
tun könnten. Gerd, dessen Verwandte die ganze Welt zu bevölkern schienen, | |
kramte einen Onkel in Celle aus dem Gedächtnis. Er sollte Ferdinand heißen | |
und eine Frau namens Helene haben. | |
Auf der Straße kam uns ein Lastauto entgegen, ein britisches | |
Militärfahrzeug. Ein Soldat sprang heraus, lief auf uns zu, sagte etwas, | |
was wir in der Schule nicht gelernt hatten, packte Gerd bei den | |
Handgelenken, fluchte, griff dann nach meinen Händen und hatte | |
offensichtlich gefunden, was er suchte: meine Armbanduhr. Ein billiges | |
Stück zwar, aber ich war ein bisschen stolz darauf, denn mein Vater hatte | |
es mir vor einem Jahr zum Geburtstag geschenkt. „Kaputt“, sagte ich, denn | |
vor Aufregung fiel mir kein englisches Wort ein. Aber der Brite legte die | |
Uhr nebst Arm an sein Ohr, vernahm das Ticken und riss mir das Armband vom | |
Handgelenk. | |
Auch die nächste Begegnung mit den Briten war unerfreulich. Nunmehr griff | |
man uns amtlich von der Straße und führte uns in eine Art Quartier, wo wir | |
sofort voneinander getrennt wurden. Ein Offizier sprach mich auf Deutsch | |
an: „Woher kommst du?“ „Aus Berlin.“ „Du lügst!“ „Nein, ich komm… | |
Berlin.“ „Welche Aufgabe hast du?“ „Gar keine.“ „Wohin willst du?�… | |
Celle.“ „Warum bist du fortgegangen aus Berlin?“ „Aus Angst vor den | |
Russen.“ „Die Russen tun niemandem etwas. Do you speak English?“ „Yes, a | |
little – I learned it at school.“ | |
Nun sprach der Offizier nur noch Englisch. Er fragte nach Sprengstoff. Ich | |
hatte keinen. Er fragte nach Gift. Ich hatte keins. Er fragte nach | |
Aufträgen vom Werwolf. Ich hatte keine. Der Werwolf sollte nach dem Willen | |
der Nazis eine Partisanenorganisation aller deutschen Jugendlichen | |
darstellen. Der Gerd und ich hätten zu diesem Zeitpunkt eher den britischen | |
Offizier als Verbündeten gegen den Werwolf angerufen, als für die | |
Hitlerpartei auch nur mit dem Auge zu blinzeln. Der Herr aus England | |
verhörte den Gerd in gleicher Weise. Er musste wohl die Übereinstimmung der | |
Aussagen festgestellt haben. Dann entließ er uns mit dem freundlichen | |
Ratschlag, für den weiteren Teil unserer Wanderung nur die Hauptstraßen zu | |
benutzen. | |
Als Gerd und ich schließlich in Lauenburg an der Elbe ankamen – wir konnten | |
in einem deutschen Militärlastauto mitfahren, dessen Insassen hier in die | |
Gefangenschaft marschierten – packte uns die Unruhe, denn wir wollten nun | |
zur anderen Seite des großen Flusses. Um die Wahrheit zu sagen: Mehr der | |
Gerd wollte. Ich hingegen plädierte für einen längeren Aufenthalt, | |
Lauenburg war wie ein Schlaraffenland. | |
Die Briten schoben alle alten deutschen Autos an den Straßenrand, in den | |
Graben oder sonst wie ins Aus. Unglaublich, was man in den verlassenen | |
Kraftwagen finden konnte. Wolldecken in Mengen. Stiefel, Uniformstücke, die | |
wir allerdings nicht in unsere Unterkunft schleppten, denn die waren aus | |
der Mode. Das Unsinnigste, was wir mitnahmen, war ein Bügeleisen, nagelneu. | |
Aber die Lebensmittel! Kilobüchsen mit Schmelzkäse, mit Wurst. Dosen voller | |
Kunsthonig, Gemüsekonserven, ja eine Kiste voll Kartoffeln. Ich sah mich | |
hier bereits das Ende des Krieges, den Friedensvertrag und die gesamte | |
Schulzeit abwarten. | |
Wir blieben trotzdem nur eine Nacht, überquerten am nächsten Tag die Elbe | |
und reisten weiter nach Celle. | |
Dann kapitulierte Deutschland zweimal. Einmal im Westen und einmal, am 8. | |
Mai, in Berlin. Wir hörten Radio – auch den Berliner Rundfunk. Siehe da, es | |
waren noch Sprecher der Nazizeit zu hören – auch Musik von vorher. Das | |
überraschte uns, weil wir gedacht hatten, dass die Sowjets all diese Leute | |
umbringen, einsperren, im mildesten Fall nur absetzen würden. Und dann | |
kamen offizielle Aufrufe aus Berlin an die Adresse der geflüchteten | |
Berliner. Also auch an uns: Wir sollten zurückkommen und unsere Stadt | |
wiederaufbauen. Zunächst haben wir gelacht. Für wie dumm halten die uns | |
eigentlich? Aber dann kam das Heimweh. | |
Vier Wochen nach unserem Aufbruch aus Berlin packten wir unsere Sachen und | |
fuhren nach Osten. Es war Ende Mai 1945, als wir in Berlin-Schöneweide | |
unsere Familien wiedertrafen. | |
Gerd und ich blieben enge Freunde, gingen aber unterschiedliche Wege. Gerd | |
machte noch in der sowjetisch besetzten Zone Berlins Abitur und siedelte | |
1949 in den Westteil der Stadt über, um Philosophie und Publizistik zu | |
studieren. Ich blieb in Schöneweide im Ostteil, machte eine Maurerlehre, | |
wollte Schauspieler werden, begann aber 1949 beim Landessender Potsdam als | |
Jungredakteur für Landwirtschaft. Gerd arbeitete von West-Berlin aus | |
informell für die Organisation Gehlen, den Vorläufer des | |
Bundesnachrichtendienstes. Mich, seinen Freund in Ost-Berlin, warb er als | |
Agenten an. 1951 ging auch ich nach West-Berlin, wurde als Agent alsbald | |
„abgeschaltet“ und wurde nach einigen Zwischenstationen Redakteur der | |
Deutschen Welle, was ich bis zu meiner Pensionierung 1994 blieb. Mit Gerd | |
war ich bis zu seinem Tod 2004 eng befreundet. | |
Die sechs Wochen, die Gerd und ich rund um das Kriegsende unterwegs waren, | |
habe ich vor allem als großes Abenteuer in Erinnerung – auch wenn einiges | |
davon wirklich gefährlich war. Aber genau das hat uns auf einen Schlag sehr | |
selbstständig gemacht. | |
4 May 2025 | |
## AUTOREN | |
Hans-Jürgen Pickert | |
## TAGS | |
8. Mai 1945 | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Schwerpunkt Flucht | |
GNS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
8. Mai 1945 | |
wochentaz | |
8. Mai 1945 | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
Erinnerungskultur | |
Kolumne Grauzone | |
Kolumne Grauzone | |
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Entwicklung. | |
Gedenken an das Ende Nazideutschlands: Putins Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg i… | |
Russlands Regierung instrumentalisiert die Erinnerung an den | |
Nationalsozialismus. Auch die deutsche Erinnerungskultur hat blinde | |
Flecken. | |
Der Urgroßvater bei der Roten Armee: Ein Sieger, der alles verloren hat | |
Naftali ist einer von 500.000 Juden, der als Soldat in der Roten Armee | |
dient. Er hat nie die Anerkennung bekommen, die ihm zusteht. |