# taz.de -- Studie zu deutscher Erinnerungskultur: 38 Prozent wollen „Schluss… | |
> Wissenslücken, verzerrte Erinnerung, veränderte Haltung zur | |
> NS-Vergangenheit. Die Memo-Studie offenbart eine besorgniserregende | |
> Entwicklung. | |
berlin taz | Das Wissen über die NS-Zeit in Deutschland nimmt ab. Das ist | |
ein zentrales Ergebnis der Studie [1][„Multidimensionaler | |
Erinnerungsmonitor“ (Memo)], die am Dienstag veröffentlicht wurde. „In | |
Deutschland zeigen sich besorgniserregende [2][Wissenslücken und eine | |
Verzerrung von Erinnerung], wenn es um den Nationalsozialismus geht“, sagt | |
Studienleiter und Professor für Politische Psychologie an der Universität | |
Bielefeld Jonas Rees der taz. | |
Seit 2017 erforscht die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ | |
(EVZ) zusammen mit dem Institut für interdisziplinäre Konflikt- und | |
Gewaltforschung (IKG) in der Memo-Studie kontinuierlich, was und wie die | |
Menschen in Deutschland die Zeit des Nationalsozialismus erinnern. Als | |
Lernorte für die [3][Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte] | |
spielen Gedenkstätten laut der Studie eine zentrale Rolle. | |
So gaben 72 Prozent der knapp 4.000 Befragten mit Wohnsitz in Deutschland | |
an, mindestens einmal eine Gedenkstätte besucht zu haben. Und, wie die | |
repräsentative Online-Befragung zeigt, gibt es einen Zusammenhang zwischen | |
Besuchen von Gedenkstätten, [4][Wissen über die NS-Zeit] und der | |
Bereitschaft, sich mit der deutschen Vergangenheit, aber auch gegenwärtigen | |
Entwicklung zu beschäftigen. | |
Dabei komme es vor allem auf die Freiwilligkeit an: „Je freiwilliger und je | |
selbstständiger der Besuch wahrgenommen wurde, desto eher empfanden die | |
Befragten ihn als emotional berührend und motivierend, sich mehr [5][mit | |
dem Thema NS] zu beschäftigen, desto mehr Faktenwissen konnte vermittelt | |
werden“, sagt Jonas Rees vom IKG. | |
Über die Hälfte der ersten [6][Gedenkstättenbesuche finden im Rahmen von | |
Schule] statt. Schulbesuche wurden jedoch im Vergleich zu Besuchen mit | |
Freund:innen oder der Familie als am wenigsten freiwillig und | |
selbstbestimmt bewertet. Wie von dem Aufsuchen einer Gedenkstätte besonders | |
profitiert werden könne, darüber lasse sich diskutieren, sagt Jonas Rees. | |
„Aber so gut wie alle Befragten geben an, etwas von so einem Besuch | |
mitgenommen zu haben.“ | |
Die Memo-Studie zeigt, Freiwilligkeit und Selbstbestimmtheit sind wichtige | |
Faktoren dafür, ob Menschen ihren [7][Besuch in einer Gedenkstätte] positiv | |
bewerten oder nicht. Das müssen Schulen bei der Planung mitdenken, findet | |
Andrea Riedle, Direktorin der Stiftung Topographie des Terrors: „Im | |
Idealfall werden Schülerinnen und Schüler in die Entscheidung, welche | |
konkrete Einrichtung besucht wird, miteinbezogen.“ | |
Wie wenig aus der Schulzeit hängen bleibt, belegt die Studie ebenfalls: | |
„Nur ein Drittel der Befragten konnte erklären, [8][was Euthanasie ist], | |
die anderen beantworteten die Frage falsch oder gar nicht“, sagte Jonas | |
Rees der taz. Nur wenige könnten zudem Schätzungen über [9][Opfergruppen | |
wie Sinti:zze und Rom:nja], Menschen mit Behinderung oder | |
Zwangsarbeiter:innen abgeben, die dem realistischen Ausmaß nahekommen. | |
Auch über Erinnerungsorte in der eigenen Region sind die meisten nicht | |
informiert: 63 Prozent der Befragten gaben an, wenig bis gar nichts über | |
[10][Gedenkorte am eigenen Wohnort] zu wissen. 40 Prozent der Befragten | |
gaben an, viel bis sehr viel über den Nationalsozialismus in der Schule | |
gelernt zu haben – in den Jahren zuvor waren es noch bis zu sieben | |
Prozentpunkte mehr. | |
„Dass viele Befragte angeben, sich intensiv mit der Geschichte des | |
Nationalsozialismus beschäftigt zu haben und zugleich an Wissensfragen | |
scheitern, deutet unter anderem auf [11][Leerstellen in der schulischen und | |
außerschulischen Bildungsarbeit] hin“, sagte Stephanie Bohra, Leiterin für | |
Bildung der Stiftung Topographie des Terrors. | |
In vergangenen Memo-Studien habe sich gezeigt, dass neben Schulen und | |
Gedenkstätten auch Filme zum Thema Nationalsozialismus eine wichtige Rolle | |
in der Erinnerungsarbeit spielen. Diese würden als sehr prägend erlebt, | |
sagt Rees. | |
## Gedenken abseits von Täterschaft | |
Dass in der Memo-Studie von 2020 43 Prozent der Befragten – mit großem | |
Abstand die meisten – angaben, ihnen sei der [12][Film „Schindlers Liste“] | |
besonders lange im Gedächtnis geblieben, findet Rees bezeichnend: „Das | |
passt zur deutschen Erinnerungskultur, ein Film, in dem es ums Helfen geht | |
und weniger um die Täterschaft“. Die NS-Erinnerung werde zunehmend zu | |
Unpersönlichem, „etwas, [13][was man aus dem Fernsehen kennt], das | |
eventuell nach dem Tatort läuft“, kritisiert Rees. | |
Schon zwei Jahre zuvor gaben 54 Prozent der Befragten an, zu glauben, | |
[14][ihre Vorfahren seien Opfer des Nationalsozialismus gewesen]. Darauf | |
folgten Helfer:innen und Täter:innen mit jeweils 18 Prozent. | |
Auch in der aktuellen Studie zeigen sich ähnliche Ergebnisse: Der Aussage, | |
der [15][Wohlstand vieler Familien] basiere bis heute auf Verbrechen aus | |
der Zeit des NS, stimmten 19 Prozent der Befragten zu. Die gleiche Aussage | |
über die eigene Familie bejahten jedoch nur 2,8 Prozent. | |
Bei der Wirtschaft zeigen sich vergleichbare Zahlen: Fast ein Drittel | |
denkt, der [16][Wohlstand vieler deutscher Unternehmen basiere bis heute | |
auf NS-Verbrechen]. Beim eigenen Arbeitgeber denken das nur acht Prozent | |
der Befragten. In der kollektiven Erinnerung werden demnach systematisch | |
Dinge verzerrt, für Jonas Rees vom IKG Bielefeld gibt es eine Erklärung: | |
„Je näher es an die eigene Person geht, desto defensiver werden wir | |
Menschen. Die Nazis waren immer die anderen.“ | |
## Mehrheit wünscht sich einen „Schlussstrich“ | |
Diese systematische Verzerrung könne dort, wo Wissen verloren geht, auch | |
den Diskurs beeinflussen, sagt Rees. Das zeigt sich auch an einem weiteren | |
Ergebnis der Studie: Rund [17][jede:r zehnte Studienteilnehmer:in | |
stimmt antisemitischen Aussagen zu], zum Beispiel, dass jüdische Menschen | |
in Deutschland zu viel Einfluss hätten oder „üble Tricks“ nutzten. Rund e… | |
Viertel der Befragten stimmte der Aussage zu, jüdische Menschen würden den | |
Holocaust zum eigenen Vorteil ausnutzen. | |
Erstmals seit Beginn der Memo-Studienreihe 2017 forderte mit 38 Prozent | |
eine Mehrheit der Teilnehmer:innen einen [18][„Schlussstrich“ unter die | |
NS-Zeit]. 37 Prozent lehnten dies zwar ab, jedoch waren sie zum ersten Mal | |
in der Minderheit. „Manchmal macht man Studien und erwartet schon, dass | |
bestimmte Dinge sich verschieben, aber wenn sich in der Haltung der | |
deutschen Bevölkerung zur NS-Vergangenheit etwas so deutlich verschiebt, | |
dann sollte uns das Sorgen machen“, so Studienleiter Rees. | |
Gleichzeitig [19][zeigen die Studienergebnisse] aber auch, dass eine | |
Mehrheit (42 Prozent) es wichtig findet, an die Verbrechen des NS zu | |
erinnern. Hier zeigt sich also auch ein Potenzial, Wissenslücken zu | |
schließen. Der Ort, an dem laut Studie angesetzt werden muss, um Menschen | |
zur Beschäftigung mit dem NS zu motivieren, ist die Schule. Freiwilligkeit | |
und Selbstbestimmtheit seien hier die Stellschrauben. | |
## Lehrkräften fehlt es an Fortbildung | |
Eine Idee, wie [20][Gedenkstättenbesuche gelingen könnten, sind | |
Schulprojekte]. „In solchen könnte man über längere Zeit spezifisch zu | |
bestimmten Opfergruppen arbeiten und die Schülerinnen und Schüler aktiv in | |
die Planung mit einbeziehen“, sagt Stefan Düll, Präsident des Deutschen | |
Lehrerverbandes. Im Anschluss an das Projekt stünde dann der Besuch einer | |
Gedenkstätte an. Dafür brauche man aber auch den zeitlichen Freiraum an der | |
Schule, der sei aber beschränkt: „Wir haben einen bestimmten Schulverlauf, | |
der unabänderlich ist“, so Düll. | |
Letztlich liege es einerseits an den zeitlichen Zwängen, andererseits auch | |
am Problem des Lehrkräftemangels, sagt Anja Bensinger-Stolze, | |
Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und | |
dort Verantwortliche für den Bereich Schule. „Wir haben einen akuten | |
Lehrkräftemangel und [21][es fehlt ebenfalls an entsprechender | |
Fortbildung].“ Eine intensive Projektarbeit mit ausreichend Freiraum für | |
Lehrer:innen ist aber möglich, sagt sie. „Viele Initiativen von | |
Jugendlichen, die für ihr Engagement ausgezeichnet werden, sind aus sehr | |
motivierenden Unterrichtssequenzen entstanden“, so Bensinger-Stolze. | |
Anmerkung der Redaktion: Der Titel wurde geändert, weil er irreführend war. | |
29 Apr 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Memo-Studie-zur-Erinnerungskultur/!5914133 | |
[2] /Jugendliche-und-Erinnerungskultur/!5914234 | |
[3] /Debatte-um-die-Gedenkkultur/!5751296 | |
[4] /Der-Vorwurf-Muslime-seien-antisemitisch-verschleiert-den-weissen-deutschen… | |
[5] /Als-Kind-im-Konzentrationslager/!6073161 | |
[6] /Marineschule-in-Flensburg-Muerwik/!6077314 | |
[7] /Gedenken-an-Opfer-des-Nationalsozialmus/!6074012 | |
[8] /NS-Euthanasie-aufarbeiten/!6019969 | |
[9] /Historiker-ueber-Deportationen-im-Norden/!5876226 | |
[10] /Erinnerung-an-der-Bernauer-Strasse/!5135779 | |
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Marco Fründt | |
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