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# taz.de -- 80 Jahre Kriegsende: Die vergessene Befreiung
> Eine Ausstellung widmet sich dem Kriegsende aus Sicht der 370.000
> Zwangsarbeiter in Berlin. Für sie war der 8. Mai 1945 tatsächlich eine
> Befreiung.
Bild: Rotarmisten mit befreiten sowjetischen Frauen unweit des Reichstags, 1945
Berlin taz | Martinus van Deutekom wird sehnsüchtig auf seine Befreiung
gehofft haben, so viel ist sicher. Der Niederländer war Zwangsarbeiter in
einer Fleischwarenfabrik in der Reichshauptstadt. Er hatte 1941 die
Berlinerin Hildegard Gromann geheiratet, mit der er gemeinsam in der
Neuköllner Schillerpromenade 39 wohnte. Doch vor der Befreiung kam der
Hunger. Die Deutschen sollten so wenig wie möglich unter der
Lebensmittelknappheit leiden, entschieden die Nationalsozialisten.
Umso mehr litten die Zwangsarbeiter, in Berlin 370.000 an der Zahl. Auch
der Eintritt in einen Bunker war den allermeisten von ihnen versperrt,
Splitterschutzgräben blieben für sie der einzige Schutz vor alliierten
Bomben. Jeder fünfte der insgesamt 30.000 Berliner Bombenopfer war ein
Zwangsarbeiter oder eine Zwangsarbeiterin, lauten Schätzungen.
Der 42-jährige van Deutekom griff gegen den Hunger zur Selbsthilfe. Am 24.
April 1945 befand er sich in einer Menge aus Deutschen und Ausländern, die
sich im Karstadt-Gebäude am Hermannplatz selbst bedienten. Entwendet wurden
Lebensmittel und Stoff. Bis zur Kapitulation der Nazis sollten nur noch
Tage vergehen.
Martinus van Deutekom hat seine Befreiung nicht mehr erlebt. Angetrunkene
SA-Männer um den stellvertretenden NSDAP-Ortsgruppenleiter von Neukölln
Franz Basner hielten ihn und andere in der Hermannstraße an. Die des
Diebstahls Verdächtigen wurden umstandslos erhängt oder erschossen- auch
Martinus van Deutekom. Basner ist niemals zur Rechenschaft gezogen worden.
## Radikalisierung in der Endphase des Krieges
Die Geschichte des Mordes an Martinus van Deutekom findet sich in einer
bemerkenswerten [1][Ausstellung im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in
Schöneweide]. Es geht um die Befreiung für diejenigen Menschen, die in
Deutschland die Niederlage der Nazis 1945 tatsächlich als eine solche
empfunden haben: die ausländischen Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und
Kriegsgefangenen, die zu Millionen im Reich festsaßen und bis zum Umfallen
schuften mussten.
Es ist eine vergessene Befreiung, die zum ersten Mal überhaupt in einer
Ausstellung gewürdigt wird. Für die meisten Deutschen hingegen war der 8.
Mai damals gleichbedeutend mit einer Niederlage, verbunden mit
Fremdherrschaft, Einquartierungen und Hunger.
Doch vor der Befreiung standen die Verbrechen in der Endphase des Krieges.
„Viele Deutsche radikalisierten sich“, sagt Co-Kuratorin Sarah von Holt.
Gerade Zwangsarbeiter litten unter den Gewaltausbrüchen fanatischer Nazis.
Andere Deutsche agierten nun auffällig freundlich gegenüber den
Verschleppten – sie wussten, dass der Krieg verloren war. Vielleicht hatten
einige von ihnen das Flugblatt der Alliierten gelesen, das aus Flugzeugen
abgeworfen worden war und in der Ausstellung zu sehen ist. „Deutsche!
Befolgt keine Befehle zur Schikanierung, Misshandlung und Unterdrückung
dieser Menschen“, hieß es da, und es wurde mit „schweren Strafen“ gedroh…
Untergebracht ist die Schau in einer der Baracken, die vor 80 Jahren
Zwangsarbeitern zur Unterkunft dienten. Das Schicksal von Martinus van
Deutekom findet sich im ersten Kapitel, in dem es um die letzte Kriegsphase
geht. Aber auch das zweite Kapitel, das sich der Befreiung selbst widmet,
zeigt nicht nur den Jubel der ehemaligen Sklaven, sondern erinnert auch an
diejenigen, die diesen Tag nicht erleben durften.
## „Sie haben uns befreit!“
Auf einer virtuellen Karte kann man sehen, wie Tag für Tag mehr Berliner
Stadtviertel unter die Kontrolle der Roten Armee gerieten. „Die Unseren
sind da! Die Rote Armee! Und wir haben uns fast auf sie gestürzt, um sie zu
umarmen – unsere Leute, die Sowjets, sind gekommen! Sie haben uns befreit!
Einige von ihnen bemerkten mürrisch: ‚Unsere Leute sind an der Front und
kämpfen, aber was macht ihr hier?‘“, erinnerte sich im Jahr 2000 der
ehemalige russische Zwangsarbeiter Mikhail Chernenko.
Das Zitat deutet an, was für die sowjetischen Bürger nach der Befreiung
folgte: das von Stalin genährte Misstrauen, sie seien in Wahrheit
Kollaborateure gewesen, sorgte für ihre Inhaftierung in Filtrationslagern.
Für viele unter ihnen war die Befreiung nur eine Episode von begrenzter
Dauer. Co-Kurator Simon Stöckle gibt beim Rundgang durch die Ausstellung
auch zu bedenken, dass viele der ikonografischen Siegerbilder in Berlin von
Fotografen gemacht wurden, die die sowjetische Propaganda bedienen sollten.
„Tatsächlich war die Befreiung oft Teil des Kriegsgeschehens“, sagt er.
Weibliche Zwangsarbeiter litten so wie deutsche Frauen unter sexuell
motivierter Gewalt von Rotarmisten.
Mariya Vitkevich aus der Region Leningrad, die von den Deutschen zur
Fabrikarbeit gezwungen worden war, wurde beschuldigt, den Deutschen sexuell
zu Diensten gewesen zu sein. Sie kam für zehn Jahre in ein sowjetisches
Straflager.
## Transitpunkt Berlin
Und doch war die Befreiung selbstverständlich eine solche. Der sowjetische
Kommandeur Ivan Stepanovich Konev schrieb am 24. April 1945 in sein
Tagebuch: „[Uns kamen] an diesem Tag überall aus der Gefangenschaft
befreite Menschen entgegen. Es war eine ganze Internationale – unsere,
französische, englische, amerikanische, italienische, norwegische
Kriegsgefangene. Sie hatten es eilig, wenn nicht direkt nach Hause, so doch
so schnell wie möglich aus der Kampfzone herauszukommen.“ Die Befreiung
hatte einen hohen Preis. Bei den Kämpfen um Berlin starben zwischen Mitte
April und dem 8. Mai mehr als 352.000 sowjetische und 100.000 deutsche
Soldaten.
Im dritten und letzten Kapitel der Ausstellung geht es um die unmittelbare
Nachkriegszeit, als sich die Millionen Verschleppten aus Lagern und KZ in
ihre Heimat aufmachten – soweit es eine solche noch gab. Denn
hunderttausende jüdische Holocaust-Überlebende besaßen weder ein Zuhause
noch Familienangehörige. Sie drängten in die Lager unter US-Kontrolle in
der Hoffnung auf einen Neuanfang in Palästina oder in die USA.
Berlin entwickelte sich zum Transitpunkt. „Gestern sind wir von Tegel
aufgebrochen und wollten in irgendein Lager gehen, das sich in der Nähe der
Seestraße befindet. Leider sind wir dort nicht geblieben; wir sind den
ganzen Nachmittag gelaufen und einen Teil der Nacht, bis 2 Uhr heute
Morgen. Als Lager ein offenes Feld: 15.000 [Menschen] angeblich, irgendwie,
irgendwo. Wir wissen nicht, wie es weitergeht“, trug der französische
Ex-Kriegsgefangene Jean-René Vidal am 8. Mai 1945 in sein Tagebuch ein.
„Hier kann man es ganz gut aushalten, es fehlt nur eine kleine Winzigkeit:
der Zug nach Hause“, schrieb am 28. Juli der Italiener Tiziano Di Leo. Er
konnte erst im September 1945 heimkehren. Es sind solche persönlichen
Geschichten, die die Ausstellung so beeindruckend machen.
Mindestens einer allerdings ist geblieben: Der Italiener Guido Greco
optierte für Berlin. 1947 eröffnete er sein erstes Lokal in der Stadt. Es
geht die Sage um, er habe die Pizza nach Berlin gebracht.
Die Ausstellung [2][„Vergessene Befreiung. Zwangsarbeiter:innen in
Berlin 1945]“ ist bis zum 2. November im Dokumentationszentrum
NS-Zwangsarbeit, Britzer Straße 5, zu sehen. Eintritt frei. Der Katalog
(223 Seiten) kostet 10 Euro.
6 May 2025
## LINKS
[1] https://www.ns-zwangsarbeit.de/de/ausstellungen/vergessene-befreiung/
[2] https://www.ns-zwangsarbeit.de/de/ausstellungen/vergessene-befreiung/
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
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8. Mai 1945
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