# taz.de -- NS-Geschichte und Appeasementpolitik: Hätte der Zweite Weltkrieg v… | |
> Der Siegeszug der Nazis in Europa war nicht unausweichlich. | |
> Großbritannien und Frankreich verstanden es nicht, ihn vorzeitig zu | |
> unterbinden. | |
Bild: Einmarsch ohne Vorankündigung in das entmilitarisierte Rheinland: Nazi-W… | |
„Idyllischer könnte die Lage kaum sein: Stresa – diese Stadt befindet sich | |
am Lago Maggiore an der Bucht, in der die wunderschönen Baromäischen Inseln | |
zu Hause sind. Welch ein Anblick.“ So wirbt eine norditalienische Kommune | |
heute um Touristen. Es wäre durchaus denkbar, dass Stresa nicht nur für | |
einen entspannten Urlaub stünde. Sondern auch für die Erhaltung des | |
Friedens in Europa in den 1930er Jahren, für einen Stopp von Hitlers | |
mörderischer Expansionspolitik, bevor diese so richtig begonnen hätte. | |
Dafür, dass der Zweite Weltkrieg nie stattgefunden hätte. | |
Hätte, hätte, hätte. | |
80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa stellt sich die | |
Frage, ob dieser tödlichste Krieg aller Zeiten, ob der Holocaust an den | |
Jüdinnen und Juden in Europa und all die anderen Abscheulichkeiten hätten | |
verhindert werden können. Angesichts der expansiven Gelüste von Wladimir | |
Putins Regime in Russland kommt dieser Frage eine gewisse Aktualität zu, | |
auch wenn es dem Autor fernliegt, das rassistisch und antisemitische | |
grundierte Hitler-Regime mit der heutigen Regierung in Moskau in einen Topf | |
zu werfen. | |
Mindestens in einem Punkt allerdings existieren Analogien: beim Unwillen, | |
das Völkerrecht und international anerkannte Grenzen zu achten. Deshalb hat | |
der Versuch einer Beantwortung der Frage nach einer Verhinderung des | |
Zweiten Weltkriegs durchaus etwas mit uns im Jahre 2025 zu tun. | |
## „Wisst Ihr, dass Deutschland jetzt rüstet?“ | |
Der linksliberale Journalist Leopold Schwarzschild, der im Pariser Exil Das | |
Neue Tagebuch herausbrachte, schrieb mitten im Krieg rückblickend: „Wisst | |
Ihr, dass Deutschland jetzt rüstet? Macht Ihr Euch klar, dass Ihr nur eine | |
ganz kurze Gnadenfrist habt? Begreift Ihr, dass die zügellose Brutalität, | |
mit der die Nazi ihre Macht im Innern verwenden, nur eine Ankündigung dafür | |
ist, was sie auch nach außen verwenden werden? Was gedenkt Ihr zu tun? Sie | |
gedachten, nichts zu tun.“ Schwarzschilds Kritik gilt bis weit in die | |
1930er Jahre. Erst kurz vor Kriegsbeginn realisierten die Westmächte, dass | |
ihre Bewaffnung unzureichend war. | |
Mindestens dreimal wäre es möglich gewesen, den aggressiven militärischen | |
Kurs des Nazi-Regimes aus dem Tritt zu bringen. Zuallererst denkt man dabei | |
an das Münchener Abkommen von 1938, als Großbritannien und Frankreich der | |
Annexion des tschechoslowakischen Sudetenlands durch das Deutsche Reich | |
zustimmten und damit die Zerschlagung eines demokratischen Staats in der | |
Mitte Europas billigten. Doch schon vorher hatten die Westmächte versagt. | |
Zum Beispiel nach Stresa. | |
Stresa war und ist nicht nur idyllischer Badeort. Die Kleinstadt galt in | |
den 1930er Jahren auch als international besonders gut angebundener Ort, | |
denn hier bestand ein Unterwegshalt für den berühmten | |
[1][Simplon-Orient-Express], der Paris – mit Anschluss aus Calais und | |
London – mit Venedig und Istanbul verband. Und so kam es, dass dort vom 11. | |
bis zum 14. April 1935 Staatsmänner aus drei Ländern tagten, um die | |
Expansionsgelüste Hitlers einzugrenzen: Frankreichs Premierminister Flandin | |
und Außenminister Laval, Premierminister McDonald und Außenminister Simon | |
aus dem Vereinigten Königreich und als Gastgeber der italienische Diktator | |
Mussolini, der damals noch nicht auf Hitlers Linie mitschwamm. | |
## Es bestand Grund zur Besorgnis | |
Der Stresa-Pakt, den die drei Mächte abschlossen, unterstrich, dass | |
Deutschland die Grenze zum Nachbarn Frankreich ebenso achten müsse wie die | |
Entmilitarisierung des Rheinlands. Es bestand Grund zur Besorgnis: Die | |
Nazis hatten im März 1935 zuerst die Wiedereinrichtung der Luftwaffe | |
verkündet und kurz darauf die allgemeine Wehrpflicht erklärt. Beides | |
verstieß gegen den [2][Versailler Friedensvertrag] von 1919. Doch von | |
lahmen Protesten abgesehen hatten London und Paris diese | |
Aufrüstungsschritte hingenommen. | |
Der Stresa-Pakt bekräftigte die Verträge von Locarno, in denen sich | |
Deutschland, Frankreich und Belgien 1925 dazu verpflichtet hatten, einander | |
nicht anzugreifen, die Grenzen zu respektieren und ein entmilitarisiertes | |
Rheinland zu garantieren. Damals war [3][Gustav Stresemann] | |
Reichsaußenminister gewesen, ein ehemaliger Monarchist und Konservativer | |
zwar, aber doch jemand, dessen Wort etwas galt. Jetzt bestimmte Adolf | |
Hitler die Politik im Deutschen Reich, der Verträge brach, wie er wollte. | |
Aber das wollte nicht jeder wahrhaben. | |
Die Rückkehr der deutschen Armee ins Rheinland war eines der | |
Herzensanliegen der Nazis. Lange genug hatten die Völkischen die Besatzung | |
durch alliierte Truppen dort gegeißelt und ein Bild von lüsternen schwarzen | |
Soldaten aus den französischen Kolonien fabriziert, die deutschen Frauen | |
nachstellen würden, die „schwarze Schmach“ genannt. Die Alliierten waren | |
1930 abgezogen, doch die Deutschen nicht nachgerückt. | |
Am 7. März 1936 ließ Hitler die Wehrmacht ohne Ankündigung ins Rheinland | |
einmarschieren. Das war zweifellos ein gleich dreifacher Vertragsbruch – | |
gegen Versailles, gegen Locarno, gegen Stresa. Die deutsche Armee war 1936 | |
noch schwach ausgerüstet, es wäre Frankreich leicht gefallen, sie zu | |
stoppen, sagen Militärexperten. Hitler fürchtete einen solchen Angriff, | |
Pläne für einen deutschen Rückzug lagen angeblich schon in der Schublade. | |
„Wären die Franzosen damals ins Rheinland eingerückt, hätten wir uns mit | |
Schimpf und Schande wieder zurückziehen müssen“, soll Hitler später gesagt | |
haben. | |
## Hitler pokert hoch und gewinnt | |
Doch nichts geschah, außer dem üblichen Protest. Frankreichs Regierung | |
fürchtete die Kosten einer Mobilmachung und schielte auf die kommenden | |
Wahlen. Die Konservativen in London waren schon gar nicht bereit für einen | |
Waffengang. Linke Demonstranten daheim plädierten für den Frieden. Und der | |
Stresa-Pakt war geplatzt, weil Mussolini die Seiten gewechselt hatte. | |
Hitler hatte hoch gepokert und gewonnen. | |
Der [4][britische Historiker Ian Kershaw] schreibt: „Hätten die Franzosen | |
die vorrückenden Truppen durch eine Demonstration militärischer Stärke zum | |
Halten gebracht, wäre Hitlers Ansehen bei den deutschen Militärs und in der | |
Öffentlichkeit bedeutend geschwächt worden. Welche Folgen das gehabt hätte, | |
kann man nicht wissen. Doch es ist vorstellbar, dass Hitler, wäre er mit | |
dem Versuch, das Rheinland 1936 zu remilitarisieren, schmählich | |
gescheitert, seine weiteren Schritte nicht hätte durchsetzen können.“ | |
Hätte, hätte, hätte. | |
Knapp zwei Jahre später, im November 1937. Lord Halifax, der bald | |
britischer Außenminister werden sollte, machte Hitler gegenüber bei einem | |
Treffen deutlich, dass sich das Vereinigte Königreich einen veränderten | |
Status von Österreich und der Tschechoslowakei vorstellen könnte, nur lege | |
man auf eine „friedliche Entwicklung“ Wert. Halifax zählte zu den | |
Protagonisten einer Appeasementpolitik, also einer Beschwichtigung | |
gegenüber den Nazis. Sie sollten in Verhandlungen besänftigt werden. Die | |
nahmen’s mit Kusshand zur Kenntnis. | |
[5][Im März 1938 annektierte Deutschland Österreich.] Die Proteste hielten | |
sich in Grenzen. Als Nächstes sollte die Tschechoslowakei an der Reihe | |
sein. | |
Großbritanniens Premier Neville Chamberlain war davon überzeugt, Hitler | |
würde es bei einer Grenzverschiebung der Tschechoslowakei bei der Annexion | |
des Sudentenlands belassen. Der Konservative besaß bei seinen Verhandlungen | |
mit Hitler auf dem Obersalzberg auch ein Mandat Frankreichs. Die | |
Nazi-Propaganda malte unterdessen ein Zerrbild von der furchtbaren | |
Unterdrückung der Sudetendeutschen. Hitler drohte mit einem Einmarsch und | |
war offenbar auch zu einem Krieg mit den Westmächten bereit. | |
Am 30. September 1938 unterzeichneten Hitler, Chamberlain, der französische | |
Premier Édouard Daladier und Benito Mussolini das Münchener Abkommen. | |
„Frieden für unsere Zeit“, nannte Chamberlain den Vertrag. Er sah im Kern | |
die Abtrennung des Sudetenlands an das Deutsche Reich vor. Das Land, das da | |
verstümmelt wurde, die Tschechoslowakei, war weder bei den Verhandlungen | |
noch bei der Unterzeichnung vertreten. Die Tschechoslowakische Republik | |
protestierte „vor der ganzen Welt gegen die Beschlüsse von München, die | |
einseitig und in Abwesenheit der Tschechoslowakei gefasst wurden“, hieß es | |
in einer Erklärung. Dann kapitulierte das Land vor der Übermacht des | |
NS-Regimes. | |
## Feier in London, Besetzung in Prag | |
Nach Abschluss des Münchner Abkommens feierte eine riesige Menschenmenge in | |
London ihren Premier, der den Ausbruch eines europäischen Kriegs vermieden | |
hatte. Chamberlain sah sich umjubelt und bestätigt. Doch anders als von ihm | |
erwartet, machten die Nazis nicht im Sudetenland halt. Im März 1939 | |
besetzte die Wehrmacht Prag. Es war das Ende einen selbstständigen Staates, | |
noch vor Ausbruch des Kriegs. Und es war das traurige Ende der | |
Appeasementpolitik. | |
Hätte eine härtere Haltung Großbritanniens und Frankreichs in der | |
Sudetenkrise den Ausbruch des Kriegs verhindern können? Darüber wird seit | |
Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Möglicherweise wäre der Krieg schon 1938 | |
ausgebrochen. Vielleicht hätten die Westmächte damals noch bessere | |
militärische Karten gehabt. | |
Hätte, hätte, hätte. | |
Als [6][der NS-Staat am 1. September 1939 Polen überfiel], lag die | |
militärische Übermacht eindeutig auf deutscher Seite. Aber Großbritannien | |
hatte nach dem Bruch des Münchner Abkommens vorgesorgt und eine | |
Garantieerklärung für Polen abgegeben, der sich Frankreich anschloss. | |
Sollte Polen angegriffen werden, versprach man militärische Hilfe. Damit | |
drohte Deutschland ein Zwei-Fronten-Krieg, so wie im Ersten Weltkrieg. Die | |
Wehrmacht hatte im Westen nur schwache Kräfte stationiert. Möglicherweise | |
hätten sie einem Eingreifen Frankreichs nicht standgehalten. Dazu hätte | |
Großbritannien das Deutsche Reich aus der Luft angreifen können. Ein Krieg | |
wäre nicht zu verhindern gewesen, aber dessen Ausgang hätte vielleicht ganz | |
anders ausgesehen. | |
Hätte, hätte, hätte. | |
Doch auch in diesem historischen Moment geschah – nichts. Die Royal Air | |
Force warf über Deutschland ein paar Flugblätter ab. Erst als Warschau | |
umzingelt und Polen vor der Kapitulation stand, drangen französische | |
Soldaten in einige deutsche Dörfer wie Bübingen im Saarland ein. Doch | |
dieser militärische Vorstoß besaß höchstens symbolische Bedeutung. | |
## Polen wurde alleingelassen | |
Noch während Franzosen und Briten über das weitere Vorgehen berieten, | |
überfiel auch die Sowjetunion Polen im Einvernehmen mit den Deutschen – | |
gemäß dem damals noch geheimen Pakt zur Aufteilung von Interessensphären in | |
Osteuropa, den die deutsche und die sowjetische Regierung am 24. August | |
geschlossen hatten, später „Hitler-Stalin-Pakt“ genannt. Polen wurde | |
alleingelassen, besetzt und aufgeteilt, der Zweifrontenkrieg fand nicht | |
statt. Im Folgejahr überfielen die Deutschen Frankreich, nachdem sie schon | |
Norwegen, Dänemark, Belgien, die Niederlande und Luxemburg erobert hatten. | |
Weitere Staaten folgten. Wir wissen, wie das Ganze endete. | |
Neville Chamberlain erklärte am 3. September 1939: „Alles, wofür ich | |
gearbeitet habe, alles, was ich erhofft habe, alles, woran ich in meinem | |
politischen Leben geglaubt habe, liegt in Trümmern.“ | |
7 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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