| # taz.de -- Erinnerung an NS-Täter: Die Mörder von nebenan | |
| > Stolpersteine erinnern an das Schicksal der NS-Opfer. Über die Täter ist | |
| > wenig bekannt. Im sauerländischen Kierspe bricht nun ein Enkel das | |
| > Schweigen. | |
| Bild: Stolpersteinverlegung in Kierspe 2017 in Erinnerung an die 1942 deportier… | |
| Als Erich Hess am 28. April 1942 einen kleinen Koffer mit seinen | |
| Habseligkeiten packte und kurz darauf am Bahnhof seines Heimatortes in | |
| einen Sonderwagen der Reichsbahn stieg, war sein Schicksal besiegelt. | |
| Zusammen mit anderen Juden aus Südwestfalen wurde er nach Polen | |
| transportiert, wo sich nach seiner Ankunft in Zamość jede Spur verliert. Es | |
| gibt kein Todesdatum, kein Grab. Nur drei Stolpersteine vor einem Wohnhaus, | |
| die an ihn und zwei weitere Mitglieder seiner Familie erinnern. | |
| Als die kleinen Gedenktafeln aus Messing an einem sonnigen Spätvormittag im | |
| Juli 2017 im Rahmen einer Zeremonie verlegt werden, singt ein | |
| Grundschulchor, dessen Mitglieder Blumen mitgebracht haben und neben den | |
| Erinnerungsplaketten niederlegen. Ich bin an diesem Tag eher zufällig in | |
| [1][Kierspe], meinem Heimatort. Aber nicht so zufällig bei dieser | |
| Feierstunde. Mich hat der Umgang mit der deutschen Vergangenheit schon | |
| immer beschäftigt und deshalb auch die Frage, wie dieses Land zuerst die | |
| Massenmorde und dann die Täter verharmloste. Im Großen wie in dieser | |
| kleinen Stadt im Sauerland. | |
| In ihrer Ansprache findet die örtliche Volkshochschul-Direktorin passende | |
| Worte, die in solchen Augenblicken die Sprachlosigkeit überwinden sollen, | |
| die seit Jahrzehnten die konsequente Aufarbeitung der Nazi-Zeit behindert: | |
| „Wir alle wissen um unser historisches Erbe“, sagt sie. „Daran gibt es | |
| nichts zu deuteln und nichts zu verbergen und nichts zu verdrängen. Und es | |
| gibt nichts zu vergessen.“ Besonders nicht, wer die Opfer waren: „Nachbarn | |
| in unserer Stadt, Mitmenschen, Mitbürger. Eine, einer von uns. Mit einem | |
| Namen und einem Heim vielleicht gleich nebenan.“ | |
| Aber das ist nur die halbe Geschichte – die über die Anonymität der Opfer, | |
| die die Massenvernichtungsmaschine allerorten produzierte. Das betrifft | |
| nicht nur weitere ermordete Kiersper Juden wie die Angehörigen der Familie | |
| Sternberg. In Kierspe und Umgebung wurden Tausende von Zwangsarbeitern | |
| unter erbärmlichen Bedingungen und voller Verachtung von kleinen | |
| Industriebetrieben ausgebeutet. | |
| Eine Gegend, in der nach dem Krieg Mitglieder der Vereinigung der | |
| Verfolgten des Nazi-Regimes jahrelang für Wiedergutmachung kämpfen mussten. | |
| Aber Nachbarn waren nicht nur Opfer gewesen. Auffällig viele ehemalige | |
| Nationalsozialisten konnten nach 1945 in den örtlichen Behörden und | |
| politischen Gremien Karriere machen. Und der Kiersper Amtsdirektor konnte | |
| noch in den 1960ern in einem offiziellen Brief an die Kreisverwaltung | |
| schlichtweg leugnen, dass in seiner Gemeinde Juden gelebt hatten. | |
| Unter den so honorigen Bürgern des sauerländischen Provinzorts gab es | |
| allerdings nicht nur agile Mitläufer. Es gab auch Täter. Wie etwa den | |
| SS-Wachmann Wilhelm Heukelbach, der nur einen halben Kilometer von Erich | |
| Hess’ Haus entfernt lebte. Und der im Rang des Oberscharführers zwischen | |
| 1941 und 1943 im polnischen Chelmno als Teil des Sonderkommandos Kulmhof an | |
| der Massentötung von über 150.000 Menschen beteiligt war. Dort, wo zum | |
| ersten Mal im großen Stil Gas eingesetzt wurde – mit präparierten Lastwagen | |
| mit geschlossenem Kastenaufbau, in den Motorenabgase geleitet wurden. | |
| Dieser Kiersper hätte es ebenfalls verdient gehabt, nach so vielen Jahren | |
| endlich aus der Anonymität herausgerissen zu werden. Um unter anderem die | |
| fragwürdige Rolle des Bonner Berufungsgerichts zu beleuchten, das die gegen | |
| ihn verhängte Haftstrafe von 13 Monaten und zwei Wochen aus dem ersten | |
| Prozess kassierte und ihn wie andere Angehörige des Sonderkommandos | |
| ungeschoren davonkommen ließ. | |
| Bis heute weiß kaum jemand im Ort etwas über die Beteiligung dieses Mannes | |
| an den Gräueltaten. Dabei hatte er sie bei seiner Vernehmung ausführlich | |
| und ohne Emotionen beschrieben. „Meistens gingen die jüdischen Menschen | |
| ruhig in das Innere des Gaswagens, da sie in dem Glauben waren, sie würden | |
| zum Baden gefahren. Es kam vor, dass die Menschen nicht weitergehen | |
| wollten. In diesen Fällen musste ich dann durch Drücken oder Stoßen mit den | |
| Händen nachhelfen.“ Die Leichen wurden zunächst in Massengräbern | |
| verscharrt, später verbrannt, um so wenige Spuren wie möglich zu | |
| hinterlassen. | |
| An dem selektiven Geschichtsbewusstsein, das Taten und Täter bagatellisiert | |
| und verdrängt, hat sich wenig geändert. Die Chronik auf der Website der | |
| Kiersper Stadtverwaltung enthält auch heute noch keine Hinweise auf die | |
| Nazi-Zeit und jenen ominösen NS-Bürgermeister Peter Friedrich Kuhbier, der | |
| mit Familie und Hitler-Büste von 1934 bis 1945 im Amtshaus residiert hatte | |
| und hinterher zwei Jahre in einem britischen Internierungslager saß. Die | |
| Notiz über die drei Stolpersteine von 2017 spart jeden Kontext aus und | |
| enthält keinerlei Informationen über das Schicksal dieser und anderer | |
| jüdischer Familien. | |
| Es fehlen erst recht die in Archiven schlummernden Bilder von den | |
| Aufmärschen von SA-Männern in Uniform und ihren einpeitschenden Hetzreden | |
| vor dem Kriegerdenkmal, bei denen die offizielle Kiersper | |
| Hakenkreuz-Standarte spazieren getragen wurde, die dieser Tage ein | |
| britischer Militaria-Händler im Internet für umgerechnet 1.500 Euro | |
| verkauft. Niemand will an die Umbenennung der Hauptstraße in | |
| Adolf-Hitler-Straße erinnert werden, an der eine Adolf-Hitler-Eiche | |
| gepflanzt worden war. Und natürlich auch nicht an das Schicksal von | |
| Kommunisten wie Johannes Metz, der Jahre im Zuchthaus und in den | |
| Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg mit viel Glück überlebte und | |
| nach seiner Rückkehr nach Kierspe von seinen Nachbarn wie ein Aussätziger | |
| behandelt wurde. | |
| Aus dem alten Grundgedanken der Stunde Null „Nie wieder“ ist ein neues | |
| Mantra herausgesprossen: „Nie wieder drüber reden.“ Etwas, was einer | |
| rechten Partei wie der AfD in Kierspe sehr zugute kommt. Bei der | |
| Bundestagswahl im Februar kam sie auf 26,68 Prozent der Zweitstimmen und | |
| lag nur knapp hinter der CDU auf dem zweiten Platz. Tendenz steigend. | |
| Umso bemerkenswerter, wenn 80 Jahre nach dem Ende der Schreckensherrschaft | |
| erstmals ein ganzes Buch wenigstens die Biografie eines jener Nazis aus der | |
| Mitte dieser kleinstädtischen Gesellschaft nachzeichnet. Der | |
| Tiefbauingenieur Ernst Hemicker scherte 1933 bei der SS ein und wurde im | |
| September 1941 zum Frontabschnitt „Russland-Süd“ geschickt. Dort arbeitete | |
| er fortan für Friedrich Jeckeln – „einen SS-Führer im Generalsrang, der zu | |
| einem der größten Massenmörder der Nazis in der Sowjetunion werden sollte“, | |
| wie Lorenz Hemicker schreibt, in Kierspe aufgewachsen, heute Redakteur der | |
| Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er hat zu diesem Stoff eine sehr | |
| persönliche Beziehung. Weshalb sein Buch auch den Titel trägt „[2][Mein | |
| Großvater, der Täter]“ (Rowohlt Berlin, 256 Seiten, 24 Euro). | |
| Vieles an dieser Arbeit ragt heraus. Nicht nur, dass sie als eindringlicher | |
| Beleg dafür dient, dass sich selbst zwei Generationen später bei | |
| aufwändigen Recherchen noch Belege für so vieles finden lassen, was seit | |
| 1945 möglichst ignoriert und verschwiegen wurde. Wenn man bereit ist, | |
| danach zu forschen. „Wir befinden uns in Zeiten, wo über Schlussstriche | |
| gesprochen wird“, sagte er neulich in einem Gespräch, „wo die Botschaft, | |
| ‚Opa war kein Nazi‘ immer lauter und mit mehr Selbstbewusstsein formuliert | |
| wird. Dabei ist das das Gefährliche. Es ist gefährlich zu glauben, dass die | |
| Nazis immer die anderen waren und irgendjemand einen Schalter umgelegt | |
| hat, dann sind alle in die gleiche blöde Richtung mitmarschiert.“ | |
| Sein Großvater, Sproß einer alten Kiersper Familie, war nicht nur | |
| mitmarschiert. Er hatte die Gruben konstruiert, in denen Ende 1941 im Wald | |
| von Rumbula bei Riga in Lettland von der SS über 27.000 Juden erschossen | |
| wurden. Verurteilt wurde er dafür nie. | |
| Er starb im Juni 1973, nachdem er ab 1965 immer mal wieder im Rahmen der | |
| sich dahinschleppenden Ermittlungen zum Massaker von Riga verhört wurde und | |
| 1969 ein Strafverfahren wegen Beihilfe zum Mord gegen ihn angelaufen war. | |
| In seinen Vernehmungen gab er nur das zu, was aufgrund anderer Beweise | |
| nicht mehr abzustreiten war. | |
| Er war am Ende des Krieges in Österreich in amerikanische | |
| Kriegsgefangenschaft geraten und erst 1947 gesundheitlich angeschlagen nach | |
| Kierspe zurückgekehrt, wo er in der Gesellschaft seines Heimatortes wieder | |
| Anschluss fand. Seine allgemein bekannte SS-Vergangenheit und sein | |
| politisches Engagement in der Vorkriegszeit waren in diesen Kreisen kein | |
| Makel. „Ernst war für sie einer von ihnen“, schreibt Lorenz Hemicker in | |
| seinem Buch. „Ernst saß in der ersten Reihe bei den Schützenfesten, auf | |
| Empfängen trank er Bier mit dem Stadtdirektor. In den Kneipen gesellten | |
| sich die Leute zu ihm.“ | |
| Vielleicht hätte Lorenz Hemicker aus den Mosaiksteinen dieser Vita allein | |
| nie die Inspiration gefunden, zunächst [3][eine längere Magazin-Geschichte | |
| zu schreiben], die 2021 sehr viel positives Echo auslöste. Und sicher nicht | |
| für ein solches Buch, in dem er seine jahrelange, ausgedehnte Spurensuche, | |
| Gespräche mit Zeitzeugen, Reisen nach Lettland, Recherchen in Archiven und | |
| ganz viel Selbstreflexion zusammenfügt hat. Der Großvater war bereits tot, | |
| als er geboren wurde. Beerdigt auf dem Kiersper Friedhof, auf dem auch | |
| Wilhelm Heukelbach begraben wurde und jener Johannes Metz, der Zuchthaus | |
| und KZ überlebt hatte. | |
| Der Auslöser für den Enkel war gewesen, auf welche Weise sein in den | |
| 1940ern geborener Vater von den Informationen über die Beteiligung seines | |
| Vaters an den Verbrechen von Rumbala traumatisiert wurde, nachdem die | |
| Behörden endlich damit begonnen hatten, sie strafrechtlich aufzuarbeiten. | |
| „Mein Vater ist der Verstärker, der für mich unter den Taten von Ernst | |
| gelitten hat.“ Den „Spuren des Großvaters nachzugehen, zu schauen, zu | |
| verstehen, was das mit meinem Vater und auch ein Stück weit mit mir gemacht | |
| hat“, stand als das persönliche Bedürfnis am Anfang eines Projekts, das in | |
| seiner schonungslosen Ehrlichkeit und Zielstrebigkeit zu den besten | |
| Arbeiten dieses Sujets gehören dürfte. | |
| Als Gunter Demnig, der Künstler, der inzwischen mehr als 100.000 dieser | |
| [4][kleinen metallenen Erinnerungsplaketten] in über 30 Länder verlegt hat, | |
| 2017 die drei Kiersper Stolpersteine anbrachte, nutzte ich die Gelegenheit, | |
| ihn zu fragen, was er von dem Vorschlag hält, nicht nur an die Opfer, | |
| sondern auf eine demonstrative Weise an die Täter zu erinnern. Daran, wer | |
| sie waren, aus welchen Verhältnissen sie kamen und welche Rolle sie dabei | |
| gespielt hatten, ein ganzes Land in den Abgrund zu reißen und zig Millionen | |
| von Menschen in den Tod. Demnig sah mich skeptisch an und warnte davor, | |
| dass Neonazis „das als Wallfahrtsort aufgreifen“ könnten. „Erinnerung, j… | |
| aber wie gesagt, da müsste man wirklich eine Form finden, dass das nicht in | |
| die falschen Hände gerät.“ | |
| Vielleicht die Form, wie sie Lorenz Hemicker gefunden hat. Für Kierspe ein | |
| Mahnmal ganz besonderer Art. Und für andere sicher auch. | |
| 6 May 2025 | |
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