# taz.de -- Ende des Zweiten Weltkriegs in Russland: Im Zeichen roher Gewalt | |
> Das Gedenken an den 9. Mai 1945 ist im heutigen Russland längst zur | |
> überdrehten Siegesorgie verkommen. Krieg wird verklärt und alle machen | |
> mit. | |
Bild: Putins Prinzip des Allen-in-die-Fresse-Hauens sollen alle folgen – von … | |
Eine Pilotka, ja, die sollten die Eltern besorgen, diese typische | |
Soldatenmütze in Olivgrün. So hatten es die Lehrer*innen der Schule | |
Nummer 56 in Moskau, gleich neben dem Hotel Ukraina, gesagt. Die Ukraine | |
ist quasi überall in diesem Moskauer Stadtteil am westlichen Zentrumsrand | |
präsent: Der Kyjiwer Bahnhof ist hier und der Ukrainski Boulevard; das | |
Denkmal der Lessja Ukrajinka, dieser ukrainischen Dichterin und Feministin, | |
steht unweit der Schule. | |
Der Krieg in der Ukraine aber, er ist den meisten Russ*innen sehr fern. | |
Den eigenen Kindern eine Pilotka auf den Kopf setzen und sie Kriegslieder | |
singen lassen? Wo sei das Problem, fragen die Eltern, habe das Gedenken an | |
die Vorväter denn etwas mit der Gegenwart zu tun? Seit Jahren erzählt | |
Russlands Präsident Wladimir Putin, der 9. Mai sei heilig. | |
Dieser Tag des Gedenkens an den Sieg der Roten Armee über Nazideutschland – | |
den das Land nicht am 8. Mai feiert, weil die bedingungslose Kapitulation | |
in Berlin in der Nacht unterzeichnet wurde und in Moskau da bereits der 9. | |
Mai angefangen hatte – war jahrzehntelang ein Tag, der die Russ*innen | |
quer durch alle politischen Lager geeint hatte. Doch aus dem | |
identitätsstiftenden Tag ist längst eine überdrehte – militarisierte wie | |
politisierte – Siegeswahnfeier geworden. | |
Der Staat hat die Erinnerung an die Vorväter ausgebrannt. Er missbraucht | |
die entbehrungsreiche Zeit der Sowjets, mit unfassbaren 27 Millionen | |
Opfern, zur Legitimation von Putins „militärischer Spezialoperation“ in der | |
Ukraine. Am 9. Mai feiert der Kreml in fast orgiastischer Art seine | |
aggressive Macht. | |
## Leugnen als Beruhigungsspritze | |
Es ist das triumphierende Ich des Herrschers, der seit 25 Jahren – länger | |
als alle sowjetischen Parteiführer und russischen Zaren seit dem 18. | |
Jahrhundert – über Land und Leute bestimmt. Als durchaus raffinierter | |
Taktiker, doch als erbärmlicher Stratege hat Putin sein Land, das er 1999 | |
vom alkoholkranken, demokratisch gewählten Präsidenten Boris Jelzin mit den | |
Worten „Behüten Sie Russland!“ übernahm, in die Perspektivlosigkeit | |
geführt. Sein Volk geht den Irrweg größtenteils mit. Alle, die nicht | |
mitgehen, werden aus dem Weg geräumt, getötet, in die Strafkolonien | |
gesperrt, aus dem Land geworfen. | |
Der große Rest sagt verleugnend: Wir haben diesen Krieg ja nicht | |
angefangen! Es sind die Beruhigungsspritzen, stetig propagandistisch | |
aufgefüllt, die sich die Mehrheit der Russ*innen Tag für Tag seit mehr | |
als drei Jahren gibt. Die eigenen Kinder singen Kriegslieder, sie schreiben | |
Briefe an Soldaten und flechten Tarnnetze. | |
Die Zerstörung der Ukraine geht derweil weiter, Tag für Tag. Die einstige | |
Losung „Nie wieder Krieg“, mit der die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs | |
sich beim Zusammensein am 9. Mai mit Tränen in den Augen zuprosteten, ist | |
längst einem martialischen „Wir können den Krieg wiederholen“ gewichen. D… | |
Staat „wiederholt“ es und bringt bereits den Kleinsten bei, dass Krieg | |
Heroismus, Romantik und Siegesfreude sei, nicht Trauer und Schmerz. Die | |
Menschen haben sich in der Erzählung eingerichtet, dass sie in der Ukraine | |
lediglich den Kampf ihrer Vorväter gegen das absolute Böse, den Faschismus, | |
weiterführten, weil die westliche Welt sich gegen sie gewendet habe und sie | |
an ihren Grenzen bedrohe. | |
Wie jede staatliche Einrichtung beteiligt sich auch die Moskauer Schule | |
Nummer 56 am landesweiten „Siegesfestival“. Monat für Monat sind Aufgaben | |
zu erfüllen – solche wie Soldatenbilder malen, die Ausstellung des | |
Museums der Spezialoperation besuchen, Denkmäler des Großen Vaterländischen | |
Kriegs putzen. Die Schulleitung schickt brav Rechenschaftsberichte darüber | |
ans Bildungsministerium. | |
## Kinder werden zu Mitfläufern gemacht | |
Anfang Mai stehen die Klassen in ihrer Aula, alle Schüler*innen tragen | |
eine Pilotka, die Kadettenschüler*innen sind voll uniformiert. Sie | |
tanzen, führen einen „Kriegstango“ auf. Die Kleinsten singen: „Tödliches | |
Feuer erwartet uns. Die rote Rakete hebt an, das Maschinengewehr feuert | |
unermüdlich. Das bedeutet, wir brauchen den Sieg.“ Eine Achtjährige sagt | |
danach: „Die Mama hat den Auftritt auf Video gesehen, sie hat gesagt, dass | |
ich schön gesungen habe.“ | |
Was sie gesungen hat, hat das Mädchen nicht verstanden. Aber sie wird – | |
ganz bewusst – zur Mitläuferin gemacht und kann sich nicht dagegen wehren. | |
Die Eltern sind wie die meisten im Land Konformisten, die den Krieg in der | |
Ukraine mittragen und nichts mit ihm zu tun haben wollen. | |
Das Gedenken an den verlustreichen Zweiten Weltkrieg ist zu plakativen | |
Losungen verkommen, zu Parolen vom „einzigartigen und unbesiegbaren | |
Russland“. Moskau ist in diesen Tagen in Rot getaucht. An den Gebäuden der | |
zentralen Straßen flattern haushohe Fahnen. Nahezu jedes Geschäft im | |
Zentrum hat Plakate mit „Sieg. 80“ an den Schaufenstern kleben. „Wir denk… | |
daran“, „Wir werden siegen“, „Wir sind stolz auf den Sieg“, steht dar… | |
Die Internetverbindung ist noch gestörter als ohnehin schon, | |
Taxifahrer*innen verfahren sich ständig, E-Roller sind nicht dort | |
aufzufinden, wo die App sie anzeigt. Alles soll perfekt laufen bei der | |
[1][Parade zum 80. Jahrestag] diesen Freitag. Die Proben laufen seit Tagen. | |
Die Stadt steht noch länger im Stau. | |
## Persönliche Geschichten zählen nicht mehr | |
Höchster Gast auf der Tribüne des Roten Platzes wird Xi Jinping sein. Auf | |
vier Tage ist der Besuch des chinesischen Staatschefs angelegt. Die | |
demütigende Abhängigkeit von China wird in Russland gern überspielt. Man | |
sei „Freunde“, heißt es in Moskau. Die Regeln dieser Freundschaft diktiert | |
längst Peking. Gern hätte sich [2][Putin einmal mehr als Friedensstifter | |
inszeniert], eine dreitägige Waffenruhe über den 9. Mai hatte er | |
angekündigt. | |
Doch Kyjiw spielt bei diesem „Zynismus“, wie es der ukrainische Präsident | |
Wolodymyr Selenskyj ausdrückte, nicht mit. Seit Tagen werden Moskauer | |
Flughäfen aufgrund von [3][Drohnenangriffen im Moskauer Umland] gesperrt. | |
Während der Jahrestagsinszenierung sollen sich die Menschen nicht sicher | |
fühlen, sie sollen spüren – so wohl das Ansinnen Kyjiws –, dass sie ein | |
Kriegsland sind, kein friedliches Völkchen, das lediglich ihrer Vorväter | |
gedenkt. Ohnehin hat es [4][Angriffe aus Russland] auch wieder gegeben. | |
Am 9. Mai zählt längst der Triumph. Die kleinen, persönlichen Geschichten | |
über Väter, Mütter, Onkel, Tanten, Großeltern, Urgroßeltern, voller Schmerz | |
und Gewalt und Tod, sie sind einem diffusen Kollektivmythos der siegreichen | |
Vergangenheit gewichen. | |
Selbst der einst als Graswurzelbewegung begonnene Gedenkmarsch unter dem | |
Namen „Das unsterbliche Regiment“, bei dem die Menschen mit Fotos und | |
Geschichten an ihre Vorfahren im Krieg erinnern wollten, ist eine | |
hochoffizielle Veranstaltung. Stalin wird reingewaschen und ist nicht mehr | |
der blutrünstige Diktator, sondern der Triumphator, der den Sieg gebracht | |
hatte. Wer ihn kritisiert, kritisiert den Sieg, und das ist nicht | |
vorgesehen im Land. | |
## Der Kult der Gewalt | |
Die Rolle der Alliierten wird gern vernachlässigt. „Wir hätten Erde | |
gefressen, aber wir hätten gesiegt“, erzählte der Kremlsprecher Dmitri | |
Peskow dieser Tage vor Jugendlichen auf einem Forum in Moskau. Der | |
Lend-Lease Act, behauptete er, ein US-Gesetz, durch das auch die Sowjets | |
von den Amerikanern während des Zweiten Weltkriegs eine milliardenschwere | |
Hilfe an Nahrung, Waffen und Fahrzeugen bekamen, sei eine teuer zu | |
erkaufende Leistung gewesen. | |
Es ist eine glatte Lüge des Kremls, der die Erinnerung gekapert hat und mit | |
vereinfachtem, plakativem Wissen über den Zweiten Weltkrieg seit Jahren | |
Politik macht. Putin ist der Haupthistoriker des Landes, der in länglichen | |
Ausführungen seine Sicht der Dinge zum Besten gibt: Russland sei immer von | |
Feinden umzingelt gewesen, Russland werde sich stets verteidigen, Russland | |
werde immer siegen. | |
Der Kult des Siegs ist ein Kult der Gewalt. Am 9. Mai feiert Moskau mit | |
Panzern und Soldaten seine Ideologie der Zerstörung. Es feiert letztlich | |
das, was Putin wichtig ist: „Jedem einfach in die Fresse hauen“, so | |
beschreibt er seinen Wunsch in einer Doku seines Hofberichterstatters Pawel | |
Sarubin zu „25 Jahre Putin“. | |
Dem Prinzip seiner Leningrader Hinterhofkindheit, wonach nur der Starke | |
etwas gelte und nur gewinne, wer als Erster zuschlage, war der 72-Jährige | |
stets gefolgt. Das Zuschlagen lehrt er nun jedes Kind im Land. „Jetzt | |
brauchen wir einen Sieg, wir werden um keinen Preis haltmachen“, grölen | |
Mädchen und Jungen von Kaliningrad bis Kamtschatka beim „Siegesevent“. | |
8 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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