# taz.de -- Russland und der Mai 1945: Seit 80 Jahren im Kriegszustand | |
> Während in Europa des Kriegsendes vor 80 Jahren gedacht wird, führt | |
> Russland kontinuierlich Krieg. Stalin hatte die Bevölkerung darauf | |
> eingeschworen. | |
Bild: Krieg ohne Ende: Moskau am Vorabend der Feiern zum 9. Mai 1945. „Der Si… | |
Berlin taz | Ist Russland zum ewigen Krieg verdammt? Das fragen diejenigen, | |
die das Land in den letzten Jahrzehnten verlassen haben, immer häufiger. | |
Jetzt bekommt die Zeile aus dem berühmtesten Lied des sowjetischen Dichters | |
Wladimir Charitonow „Der Tag des Sieges“ aus dem Jahr 1975 einen vielleicht | |
so noch nie dagewesenen neuen und starken Klang: „Es ist Freude mit Tränen | |
in meinen Augen.“ | |
Während für Deutschland der Mai 1945 zu einem Wendepunkt wurde, nachdem im | |
Land weitestgehend Frieden herrschte, ging für Russland das Blutvergießen | |
weiter – von den Stellvertreterkriegen des Kalten Kriegs bis zum aktuellen | |
Krieg in der Ukraine und dem bewaffneten Neokolonialismus in Afrika. | |
## 9. Mai unter Stalin kein Feiertag | |
Der Siegeskult wurde von zwei Staatschefs angeheizt, von Leonid Breschnew | |
und Wladimir Putin. Josef Stalin, der den 9. Mai zunächst zum Feiertag | |
erklärt hatte, machte ihn Ende 1947 wieder zu einem normalen Werktag, an | |
dem das Volk bis zur Erschöpfung Panzer, Granaten und Raketen produzieren | |
musste. Die Menschen sollten begreifen, dass dies nicht der endgültige und | |
wohl auch nicht der wichtigste Sieg war – und dass dieser vielmehr noch | |
bevorstehe. | |
Die Tauwetterperiode von Stalins Nachfolgern Georgi Malenkow und Nikita | |
Chruschtschow sowie auch die Perestroika Michail Gorbatschows und die | |
Regierungszeit Boris Jelzins gingen mit einer zumindest teilweisen | |
Demilitarisierung einher, während die Regierungszeiten von Breschnew und | |
Putin durch eine Verhärtung der innenpolitischen Linie und Expansionismus | |
gekennzeichnet waren. Trotzdem sollte man die anderthalb Jahrzehnte | |
relativer Freiheit in Russland zwischen 1985 und 2000 nicht zu rosarot | |
malen. | |
## „Patriotische Erziehung“ für russische Schulkinder | |
Ich erinnere mich noch an eine Stunde im Fach „Patriotische Erziehung“ in | |
der Grundschule Ende der 1980er Jahre. Da kam ein ehemaliger | |
Weltkriegskämpfer in unsere Klasse. Ein Mann in schäbiger Uniform, der sich | |
ständig auf die Lippen biss. Es war ein ungewöhnliches Ereignis, und wir | |
hörten ihm gebannt zu, konnten aber fast nichts von dem verstehen, was er | |
da vor sich hinmurmelte. Besser wäre wohl gewesen, er hätte den Text von | |
einem Blatt Papier abgelesen. | |
Ich weiß auch noch, wie ich Anfang der 1990er Jahre, schon nach dem | |
politischen Umbruch, im Ferienlager mit einer Gasmaske im Stadion laufen | |
musste. Das Atmen war damit ziemlich leicht, weil das Sichtfenster kaputt | |
war. Wir machten so ein Kriegsspiel, das fast so dumm und lächerlich war | |
wie die Russen jetzt schon das vierte Jahr in der Ukraine kämpfen. Die | |
Soldaten und Offiziere, die in gepanzerten Transportfahrzeugen zu uns | |
kamen, forderten uns auf, uns blaue und rote Papier-Epauletten auf die | |
Schultern zu nähen. Die mussten dann vom „Feind“ abgerissen werden. | |
Doch dann konnten die von der Armee der heranwachsenden Generation nichts | |
erklären: warum und in welcher Reihenfolge die Aktionen stattfinde, wohin | |
man zu laufen habe, zu welchem Zweck, wie man den „Angreifern“ diese | |
Epauletten abreißen müsse und wie man die „Verteidigung“ aufstelle. Das | |
Einzige, was uns Jungen die Kampfhandlungen irgendwie nahebrachte war, dass | |
die Soldaten einigen von uns erlaubten, mit Maschinengewehren zu schießen – | |
zum Glück mit Platzpatronen. | |
## Russische Kriegsbeteiligungen nach Zerfall der Sowjetunion | |
Während der 1990er Jahr gab es an den Schulen, die ich zweimal gewechselt | |
habe, überall solche Unterrichtseinheiten zu Sicherheit und Zivilschutz. | |
Dazu kamen pensionierte Offiziere in die Schule. Wir Schüler lachten über | |
ihre Ratschläge, wie man sich im Fall eines Atomschlags in Sicherheit zu | |
bringen habe. Sie brachten uns allerdings auch bei, was im Fall von Natur- | |
oder technischen Katastrophen zu tun sei. | |
Ich weiß nicht, ob sich irgendjemand meiner früheren Mitschüler noch daran | |
erinnert. Russlands damalige Teilnahme an den Kriegen in Transnistrien | |
(1992), Südossetien (1991/92), [1][Abchasien (1992/93)] sowie die Einsätze | |
im tadschikischen Bürgerkrieg (1991) und in Bergkarabach (1991) haben | |
Lehrer und Schüler wenig interessiert. Vielleicht lag das auch daran, dass | |
das im Vergleich zum gerade beendeten großen Krieg in Afghanistan eher wie | |
Polizei- als wie Kriegseinsätze wirkte. | |
Und die Geschichtsbücher waren immer noch Lehrbücher über russische | |
Militärgeschichte. Meine Klassenkameradin Christina Popowa jammerte in der | |
Pause darüber, dass sie eine der Klauseln des Friedensvertrags von Küçük | |
Kaynarca, der das Ende des Russisch-Türkischen Kriegs 1784 besiegelte, | |
vergessen habe. Dann begannen der [2][erste (1994–96), später der zweite | |
(1999–2009) Tschetschenienkrieg], und der Feldzug der christusliebenden | |
Armee Moskaus gegen die islamische Welt kehrte aus den Geschichtsbüchern in | |
die aktuellen Nachrichten zurück. | |
## Mangelhaftes Wissen in russischer Kulturgeschichte | |
Apropos Geschichtsunterricht: Bei den Aufnahmeprüfungen an der Uni, an der | |
ich 1997 begann, stellte man fest, dass die Abiturienten in einem Fach von | |
Jahr zu Jahr weniger wussten: in russischer Kulturgeschichte. Ich kann | |
nicht gerade behaupten, dass uns dieses Thema an der Universität | |
ausreichend vermittelt wurde, während politische, ökonomische und | |
Militärgeschichte des Landes vernünftig gelehrt wurden. | |
Dazu muss ich noch anmerken, dass alle jungen Männer, die wie ich auf | |
Lehramt studierten, die Möglichkeit hatten, einmal wöchentlich Kurse am | |
Militärlehrstuhl der Uni zu besuchen, um allgemeines Wissen über | |
militärische Angelegenheiten zu erwerben, im letzten Studienjahr eine | |
einmonatige Ausbildung in der Armee zu absolvieren und das Ganze dann mit | |
dem Rang eines Unterleutnants abzuschließen. In der Regel wurde dann einer | |
aus der Studiengruppe willkürlich und aus nicht nachvollziehbaren Gründen | |
für ein Jahr in die Armee beordert, wo er dann als unfreiwilliger Leutnant | |
dienen musste. | |
## Erneute Militarisierung unter Wladimir Putin | |
Dann begann [3][Putins schrittweise Militarisierung] – von Filmen und | |
Büchern bis hin zu Massenmedien und Bildungsprogrammen. Und nun hat dieses | |
Phänomen quasi die Fröste der Breschnew’schen Stagnation übertroffen. | |
Dennoch blickt der Verfasser dieser Zeilen nicht verzagt oder ängstlich in | |
Russlands ferne Zukunft. Nicht zufällig erwähnte ich zu Beginn dieses | |
Textes, dass in Deutschland seit Mai 1945 nur „weitestgehend“ Frieden | |
herrschte. Die DDR, auf deren ehemaligen Gebiet ich heute lebe, kämpfte | |
tapfer für die Weltrevolution, sowohl in der Bundesrepublik, zum Beispiel | |
durch Unterstützung der RAF-Mörder, als auch in der Dritten Welt, auch wenn | |
sie die dortigen Operationen ihrer Armeekommandos und der Staatssicherheit | |
nicht öffentlich machte. | |
In der benachbarten Tschechoslowakei halfen 1968 Dutzende von Soldaten der | |
NVA-Nachrichteneinheit, den Prager Frühling zu ersticken. Viele von ihnen | |
erlebten später die Wende und tauschten in dem endlich befreiten Land | |
Schwerter gegen Pflugscharen. | |
Alexander Gogun ist Militärhistoriker. 2024 erschien von ihm in russischer | |
Sprache im Leipziger ISIA Media Verlag [4][„Der durchdachte Weltuntergang. | |
Wie Stalin den Dritten Weltkrieg vorbereitete“]. | |
Aus dem Russischen [5][Gaby Coldewey] | |
8 May 2025 | |
## LINKS | |
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[2] /Gefluechtete-aus-Tschetschenien/!5851549 | |
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[4] https://bukinist.de/bookpod/ru/istoriya-vojn/402370-produmannoe-svetopresta… | |
[5] /Gaby-Coldewey/!a23976/ | |
## AUTOREN | |
Alexander Gogun | |
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