| # taz.de -- Geflüchtete aus Tschetschenien: Nie wieder zu Hause, nirgends | |
| > Die Tschetschenin Salima musste im Krieg 1995 ihre Heimat verlassen. | |
| > Jetzt fühlt sie mit den Menschen in der Ukraine mit. | |
| Bild: Trümmern in Grosny nach Ende des ersten Tschetschenienkrieges, 22. Juni … | |
| Salima musste ihre [1][Heimatstadt Grosny] im April 1995 verlassen, nach | |
| dem Ausbruch des ersten Tschetschenienkrieges. Bei Kriegsbeginn war sie 20 | |
| Jahre, Studentin der Fachrichtung Frauenheilkunde und Geburtshilfe an der | |
| staatlichen tschetschenischen Universität. Von ihrem Zuhause erzählt sie | |
| liebevoll, erinnert sich an viele Details. An die Akazien- und | |
| Fliedersträucher im Hof, an die Farbe der Bänke, die dort standen, und an | |
| das Geräusch, mit dem sich das grüne Tor öffnete. | |
| „Das ist so merkwürdig: ich lebe schon 27 Jahre nicht mehr dort, bin | |
| mehrmals umgezogen, aber keinen dieser Orte habe ich als Zuhause | |
| betrachtet. Nicht an einen dieser Orte kann ich mich so detailliert | |
| erinnern wie an mein Zuhause in Grosny“, sagt die Frau. | |
| Salima ist das älteste von fünf Kindern, zu Kriegsbeginn waren die anderen | |
| noch nicht volljährig. Deswegen haben die Eltern nur mit ihr über ihre | |
| Pläne gesprochen: Sie wollten ihr Land nicht verlassen … Sie planten | |
| nichts, bis zum Tod des Vaters. | |
| „Papa ist an einem dieser Tage zu unseren Nachbarn gegangen, um ihnen zu | |
| helfen, ein Dach zu reparieren, das von einer Rakete getroffen wurde. Und | |
| dann ist wieder eine Rakete dort eingeschlagen … Ich war an diesem Tag bei | |
| Verwandten, und als man mir das erzählte, habe ich es einfach nicht | |
| geglaubt. Ich dachte, das sei irgendein blöder Witz. Denn wie ist so was | |
| möglich: Ein Mensch geht los, um ein Dach auszubessern, in das eine Rakete | |
| eingeschlagen ist, und [2][genau in diesem Augenblick folgt ein zweiter | |
| Raketeneinschlag]?“ Während sie darüber spricht, beginnt Salima zu weinen. | |
| ## Gemeinsam mit ihrer Mutter beschloss sie, zu flüchten | |
| Die Entscheidung, das Land zu verlassen, trafen sie zu zweit, Salima und | |
| ihre Mutter. Die einzige Möglichkeit war, zu Verwandten [3][ins benachbarte | |
| Inguschetien zu fahren]. Sieben Tage nach dem Tod des Vaters begann Salima | |
| zu packen. | |
| „Es war furchtbar schwer. Das Haus, das wir mit so viel Liebe gebaut | |
| hatten; das Haus, in dem unsere Großeltern, die die Deportation von 1944 | |
| überlebt hatten, sich zum ersten Mal sicher gefühlt hatten, das Haus, in | |
| dem alles an meinen Vater erinnerte, mussten wir völlig überstürzt | |
| verlassen. Ich habe nicht darüber nachgedacht, ob wir jemals zurückkommen | |
| oder nicht. Aber ich erinnere mich sehr gut daran, was ich damals gedacht | |
| habe: Verdammt, im Mai blüht der Flieder und ich werde das nicht sehen“, | |
| erinnert sich Salima. | |
| Bis heute bewahrt sie die Dinge auf, die sie damals aus Grosny mitgenommen | |
| hat: den Handspiegel ihrer Großmutter, ein Frotteekleid, das Hochzeitskleid | |
| ihrer Mutter und das Stoffkaninchen ihrer jüngsten Schwester. | |
| „Mama sagte: Salima, nimm nur das Wichtigste mit. Wie schon unsere | |
| Vorfahren hat sie Knoten ins Bettlaken gemacht und dort Mehl, Zucker, | |
| Getreide und Kleidungsstücke hineingepackt. Ich war eine dumme 20-Jährige | |
| und dachte deshalb, ich sollte Erinnerungsstücke mitnehmen, und alles | |
| Wichtige, Erwachsene und Verantwortungsvolle habe ich einfach Mama | |
| überlassen. | |
| Ich habe Papas Notizheft, Mamas Hochzeitskleid, Omas Spiegel mitgenommen … | |
| Mir scheint, das ist ein sehr merkwürdiges Flüchtlingsgepäck. Aber heute | |
| ist mir Mama dankbar dafür. Sie lebt in Deutschland, ich habe ihr all diese | |
| Dinge gegeben und sie sind jetzt die einzige Verbindung zu unserem | |
| vergangenen guten und sorgenfreien Leben“, sagt Salima lächelnd. | |
| Einige Monate nachdem sie alles verlassen hatten, wurde Salimas Haus, so | |
| erzählt sie, zerbombt und dem Erdboden gleichgemacht. In ihre Heimat sind | |
| sie nie zurückgekehrt: zuerst, weil die Kampfhandlungen andauerten, später, | |
| weil sie mit der aktuellen Regierung der Republik nicht einverstanden | |
| waren. | |
| „Einmal habe ich Bekannte aus Tschetschenien gebeten, in unsere Straße zu | |
| gehen und Bilder für mich zu machen, aber das war keine gute Idee“, erzählt | |
| Salima. „Das ist schon nicht mehr meine Heimat. Dort stehen irgendwelchen | |
| pompösen Häuser, nicht mehr die kleinen, gemütlichen, die es früher gab. | |
| Ich habe mich einfach an den Gedanken gewöhnt, dass gerade diese Häuser im | |
| besten Sinne die sind, die ich nicht mehr haben werde. | |
| Jetzt ist es schmerzhaft zu sehen, dass die Ukrainer in genau der gleichen | |
| Situation sind. Wenn ich mir [4][die zerstörten Wohnblocks in Mariupol] | |
| ansehe, dann bin ich in Gedanken sofort wieder in meiner Heimatstadt, wo | |
| alles genauso aussah. All diese Millionen Menschen werden genau wie ich | |
| ihr ganzes Leben spüren, dass sie nie wieder irgendwo zu Hause sein | |
| werden.“ | |
| Aus dem Russischen Gaby Coldewey | |
| 8 May 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Osteuropa-Expertin-zu-Russlandpolitik/!5845124 | |
| [2] /Tschetschenien-und-der-Ukraine-Krieg/!5842003 | |
| [3] /Gedenken-an-Natalja-Estemirowa/!5612172 | |
| [4] /Zerstoerte-ukrainische-Stadt-Mariupol/!5841651 | |
| ## AUTOREN | |
| Farisa Dudarewa | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Kriegsende | |
| GNS | |
| Tschetschenien | |
| Novaya Gazeta Europe in der taz | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Partisanen | |
| Russland | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Anzor Maskhadov über Wladimir Putin: „Das ist die Mafia“ | |
| Der Vorsitzende der Internationalen Befreiungsbewegung für Tschetschenien | |
| warnt die Ukrainer vor einem Sieg der russischen Besatzer. | |
| Schienenpartisanen in Belarus: Wenn der Krieg entgleist | |
| In Belarus werden Bahnstrecken lahmgelegt, um den Nachschub für russische | |
| Truppen zu behindern. Wer erwischt wird, riskiert drakonische Strafen. | |
| Russland und der Ukrainekrieg: Vier Stunden bis zur Hölle | |
| Mit dem Schnellzug braucht man von Moskau nach Charkiw genauso lange wie | |
| nach St. Petersburg. Doch die Menschen in Russland verdrängen den Krieg. | |
| Vorwurf russischer Kriegsverbrechen: „Ohne Grund erschossen“ | |
| Russlands Armee gibt die Belagerung von Kiew auf – und hinterlässt Bilder | |
| des Grauens: verwüstete Städte voller Leichen. |