# taz.de -- Anzor Maskhadov über Wladimir Putin: „Das ist die Mafia“ | |
> Der Vorsitzende der Internationalen Befreiungsbewegung für Tschetschenien | |
> warnt die Ukrainer vor einem Sieg der russischen Besatzer. | |
Bild: Grosny im Jahr 2000: Frauen tragen Wasser durch die von Russen zerstörte… | |
taz am wochenende: Herr Maskhadov, was ging Ihnen am 24. Februar als erstes | |
durch den Kopf? | |
Anzor Maskhadov: Ich schaute mir die Bilder an und dachte nur: Diese | |
komplett veraltete technische Ausrüstung der Russen, die kenne ich, die | |
habe ich schon [1][damals] gesehen, als ich noch klein war und mein Vater | |
in der sowjetischen Armee gedient hat. Nichts hat sich verändert. | |
Sehen Sie weitere Parallelen zu den Kriegen in Tschetschenien? | |
Viele. Derselbe Wladimir Putin, dieselben Terrormethoden und dieselbe | |
Ideologie, die gegen die ganze Bevölkerung gerichtet ist. Die Ukrainer sind | |
Nazis, sie müssen getötet werden. Wir Tschetschenen, wir waren alle | |
Terroristen und mussten vernichtet werden. Diese riesigen | |
Truppenkontingente, die wir in der Ukraine sehen, sind auch in | |
Tschetschenien eingefallen. Alles wollten sie sofort erobern. | |
Das hat damals nicht geklappt, das klappt auch heute nicht. Sie haben große | |
Verluste erlitten und sich zurückgezogen. Dann haben sie angefangen, die | |
Orte zu bombardieren und sie in Schutt und Asche zu legen. Übrigens: Auch | |
die Fehler sind die gleichen, wie damals in Tschetschenien. | |
Welche Fehler meinen Sie genau? | |
Sie haben die Logistik nicht im Griff. Der Treibstoff für die Panzer reicht | |
nicht aus, auch die Technik nicht. Die Truppen sind schutzlos, es gibt | |
keine Strategie. Diese Generäle, die die Truppen befehligen und in den | |
Krieg schicken, waren und sind Dummköpfe. Deshalb wurde damals wie heute | |
ein Großteil der Truppen vernichtet. So haben sie zum Beispiel [2][Panzer] | |
nach Grosny rollen lassen. Wie kann man Panzer in eine Stadt schicken? Das | |
ist Wahnsinn. Wir haben allein in der Neujahrsnacht 1994/95 dreihundert | |
russische Panzer zerstört. Beim zweiten Tschetschenienkrieg haben sie das | |
anders gemacht und die Städte gleich mit Artillerie und Raketen | |
angegriffen, um sie kaputt zu bomben. So wie jetzt Mariupol. | |
Während der Tschetschenienkriege hat sich der Westen mit Reaktionen ja | |
vornehm zurückgehalten … | |
Wir haben das damals kritisiert und gefragt: Warum gibt es keine gemeinsame | |
Position gegen Boris Jelzin, gegen Putin und warum habt ihr, die | |
internationale Staatengemeinschaft, diesem Terror keinen Einhalt geboten? | |
Wenn das damals passiert wäre, hätte es keinen Krieg Russlands gegen | |
Georgien und heute gegen die Ukraine gegeben. | |
Was macht Sie da so sicher? | |
Wenn die internationale Staatengemeinschaft eine entschiedenere Position | |
eingenommen hätte, hätte das bedeutet, dieses Grauen nicht zuzulassen. Doch | |
da spielte wohl die Angst vor Atomwaffen genauso eine Rolle wie die | |
Verteidigung eigener Interessen. Das war ein großer Fehler. All unsere | |
tschetschenischen Präsidenten haben öffentlich gesagt: Wenn ihr das jetzt | |
in Tschetschenien geschehen lasst, wird es morgen woanders Krieg geben, | |
vielleicht in Litauen, in der Ukraine … | |
Sie haben recht behalten. 2014 wurde zunächst die Krim annektiert, dann | |
begann der Krieg in der Ostukraine … | |
Ich erinnere mich an ein Treffen in Oslo 2014. Dort habe ich den Ukrainern | |
gesagt: Lernt etwas aus unseren Kriegen, es wird für euch leichter werden. | |
Wir, die Tschetschenen, kennen die Russen besser als ihr. Und das sage ich | |
jetzt wieder. Und ich sage ihnen noch etwas: Ihr habt das wahre Gesicht der | |
russischen Besatzer noch nicht in Gänze gesehen. Denn erst wenn sich der | |
russische Besatzer als Sieger fühlt und die ganze Ukraine einnimmt, dann | |
wird es noch grauenhafter. Und zwar dann, wenn sich jemand wie Kadyrow für | |
die Ukraine findet. | |
Wie sieht es heute in Tschetschenien aus? | |
Das ist eine Diktatur. Meine Position gegenüber der Politik Russlands ist | |
eindeutig: Ich kann nicht vergeben und vergessen, was sie mit uns gemacht | |
haben. So viele Menschen wurden getötet. Diese Wahrheiten spreche ich offen | |
aus. Dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow und seinen Leuten | |
gefällt das nicht, dass es Tschetschenen gibt, die das tun. Und was machen | |
sie dagegen? Sie schicken Killer, um diese Leute zu beseitigen. Nach Wien, | |
Berlin, nach Schweden … | |
Sind Sie ebenfalls bedroht? | |
Kadyrow setzt meine Verwandten unter Druck, die noch in Tschetschenien | |
leben. Erst sagen sie im Fernsehen, dass man mir den Kopf abschneiden | |
solle. Dann suchen sie meine Verwandten auf und fordern sie auf, mich zu | |
stoppen. Andernfalls bekämen sie große Probleme. | |
Haben sie schon Probleme bekommen? | |
Sie wurden mitgenommen, gefoltert … Jetzt setzen sie auch meine Mutter | |
psychisch unter Druck, die bei mir wohnt. Die Kadyrow-Leute drohen damit, | |
sie oder meine Schwester zu töten. Offensichtlich haben sie jetzt jemanden | |
gefunden, der bereit ist, mich umzubringen. Davon habe ich über Kontakte | |
erfahren, die ich noch nach Tschetschenien habe. Kürzlich wurden zwei | |
Millionen Dollar Belohnung ausgesetzt, wenn jemand meinen derzeitigen | |
Aufenthaltsort verrät. Das sind sie, diese typischen Terrormethoden. | |
In Tschetschenien gibt es eine spezielle Division, die Kadyrowzi. Was sind | |
das für Leute? | |
Sie unterstehen dem Präsidenten persönlich, setzen die Menschen unter | |
Druck, foltern und töten sie. Das Wichtigste für uns Tschetschenen, die im | |
Ausland leben, aber auch für Ausländer ist, dass die Kadyrowzi auch im | |
Westen ihr Unwesen treiben und das sind nicht wenige. Sie sind gefährlich – | |
für Europa, aber auch für tschetschenische Flüchtlinge, die hier leben. | |
Welche Informationen haben Sie über die Tschetschenen, die in der Ukraine | |
an der Seite Russlands kämpfen? | |
Für uns sind sie Verräter. Wie kann ein Tschetschene oder auch jemand, der | |
nicht Tschetschene ist, vergessen, was seinem Volk angetan wurde? Und dann | |
noch in dieser russischen Armee dienen? Ich könnte mir niemals vorstellen, | |
so etwas zu tun. Doch es gibt Leute, die nichts dabei finden, Putins Regime | |
zu Diensten zu sein. Für sie ist das eine ganz normale Arbeit. Ich habe | |
Informationen, wonach Kadyrows Leute systematisch Dörfer durchkämmen und | |
dort jeweils immer mindestens fünfzig Personen mit Gewalt rekrutieren, um | |
in der Ukraine zu kämpfen. Doch darüber redet niemand, die Menschen haben | |
Angst. | |
Hat der Westen mittlerweile etwas gelernt? | |
Er hat offensichtlich verstanden, wer Putin und was die heutige Politik | |
Russlands ist. Das ist eine Herrschaft der Mafia. Putin, das ist die Mafia. | |
Er setzt sich über das Leben von Menschen genauso hinweg wie über | |
internationales Recht, über internationale Gesetze oder Vereinbarungen. Ein | |
Bandit. | |
Wenn der Westen lernfähig ist, sind dann seine Reaktionen entschlossen | |
genug? | |
Nein. Vor allem die Sanktionen müssten noch verschärft werden. Für den | |
Frieden und um der Ukrainer willen, die den Russen heute zum Opfer fallen. | |
Und der Westen muss noch stärker mit Staaten in der Nachbarschaft | |
Russlands, wie Kasachstan, zusammenarbeiten und auf die Gefahr eines | |
möglichen russischen Angriffs hinweisen. Ramsan Kadyrow bedroht Warschau | |
schon jetzt mit den Worten: Ich werde bis nach Polen marschieren. | |
Sehen Sie Möglichkeiten, auf diplomatischem Weg eine Lösung zu erreichen? | |
An die russische Diplomatie, an die Diplomatie unter Putin, glaube ich | |
nicht. Die Geschichte unserer Beziehungen zu Russland beweist das. Wir | |
haben mit ihnen Abkommen, Friedensverträge unterschrieben und sie haben sie | |
nicht ein einziges Mal respektiert. Das gleiche passierte auch mit | |
Friedensverhandlungen, die wir während des Krieges geführt haben. Bei uns | |
gibt es ein altes Sprichwort: Die Gedanken eines Russen ändern sich neunmal | |
am Tag. Er setzt sich an einen Tisch, verspricht etwas und eine Stunde | |
später ist alles ganz anders. | |
Wie geht es weiter? | |
Wir hoffen, dass es Frieden gibt. Doch das hängt nicht von uns ab. Damit | |
dieser Fall eintritt, muss auf alle erdenkliche Art und Weise auf Russland | |
Druck ausgeübt werden. Putin hat alle Hände ausgeschlagen. Die Russen | |
werden jetzt versuchen, weitere Gebiete einzunehmen, eine Stadt, noch eine | |
Stadt. Doch selbst wenn ihnen das gelingt, wird das nur vorübergehend sein. | |
Ihre Ressourcen reichen nicht. | |
Sie sind im zivilgesellschaftlichen Sektor aktiv. Was machen Sie genau? | |
Ich versuche alles, um Putins und Kadyrows Propaganda etwas | |
entgegenzusetzen und darüber zu berichten, was sie mit uns, den sogenannten | |
islamischen Terroristen, gemacht und wie sie uns umgebracht haben. Ich | |
versuche die tschetschenische Gesellschaft aufzurütteln, um die Menschen | |
auf den rechten Weg zu bringen. Es gab junge Tschetschenen, die nach Syrien | |
gegangen sind, um dort zu kämpfen. Wir versuchen Überzeugungsarbeit zu | |
leisten, dass sie das nicht tun. Heute rufe ich die Tschetschenen dazu auf, | |
die Ukrainer zu unterstützen, nicht nur militärisch. | |
Sie waren vor Kurzem in Kiew. Wie ist die Stimmung dort? | |
Kämpferisch. Dieser Geist ist überall zu spüren. Die Ukrainer sind | |
Patrioten. Ich habe mich viel mit der Bevölkerung unterhalten. In Butscha | |
zum Beispiel. Dabei fühlte ich mich in die Vergangenheit zurückversetzt. | |
Was ich damals erlebt habe, erleben sie heute. Wie die Russen Frauen | |
vergewaltigt und einen nach dem anderen, Alte, Frauen, Kinder, umgebracht | |
haben. Das alles haben auch wir durchlitten. | |
Es will mir einfach nicht in den Kopf, wie man es wagen kann, ein ganzes | |
Volk als Nazis zu bezeichnen und dann selbst solche grauenhaften Verbrechen | |
zu begehen. Viele glauben ja, Russland wolle die Sowjetunion wieder | |
erschaffen. Aber das wird ihnen niemand mehr durchgehen lassen. Russland | |
ist nicht die Sowjetunion. Die Sowjetunion war ein mächtiger Staat, der die | |
Welt noch beeindrucken konnte. Das kann Russland heute nicht mehr. Ich | |
spreche bei vielen Kundgebungen. Denn das ist unser Krieg. Wenn wir heute | |
dazu beitragen, das russische Regime zu Fall zu bringen, wird es für uns | |
alle zu Hause ebenfalls leichter werden. | |
Was ist Ihr größter Wunsch? | |
Natürlich sehne ich mich danach, in mein Land zurückzukehren. Und meine | |
Verwandten wiederzusehen, die ich sehr vermisse. Doch solange dieses Regime | |
an der Macht ist, wird das ein Traum bleiben. | |
11 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv-Suche/!1473100&s=Tschetschenien+Krieg+Grozny&SuchRahmen=Pri… | |
[2] /Archiv-Suche/!1255390&s=panzer+tschetschenien&SuchRahmen=Print/ | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Tschetschenien | |
Ramsan Kadyrow | |
GNS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Novaya Gazeta Europe in der taz | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Ramsan Kadyrow | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Russischer Vormasch in der Ostukraine: Heftige Kämpfe in Sjewjerodonezk | |
Laut ukrainischem Gouverneur ist die wichtige Stadt im Donbass zu 70 | |
Prozent in russischer Hand. Amnesty wirft Moskau Einsatz von Streumunition | |
vor. | |
Krankenversorgung in der Ostukraine: OPs hinter Sandsäcken | |
Das Krankenhaus Nr. 1 in Kramatorsk arbeitet schon jetzt unter Hochdruck. | |
Der russische Vormarsch dürfte die Lage weiter verschlimmern. Ein Besuch. | |
Ausländische Soldaten in der Ukraine: Im Einsatz für die zweite Heimat | |
Zwei Briten und ein Marokkaner sind jüngst wegen ihres Einsatzes im | |
Ukrainekrieg zum Tode verurteilt worden. Die Kritik daran wächst. | |
+++ Nachrichten zum Ukrainekrieg +++: Scholz plant Kiew-Reise | |
Laut einem Medienbericht will der Bundeskanzler noch vor dem G7-Gipfel Ende | |
Juni reisen. Präsident Selenskyi wirbt für den EU-Beitritt der Ukraine. | |
Geflüchtete aus Tschetschenien: Nie wieder zu Hause, nirgends | |
Die Tschetschenin Salima musste im Krieg 1995 ihre Heimat verlassen. Jetzt | |
fühlt sie mit den Menschen in der Ukraine mit. | |
Belagerte Stadt in der Ukraine: Der Diktator übernimmt | |
Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow ist angeblich seit Montag in | |
Mariupol. Doch ein Foto zeigt ihn in Russland. | |
Russland und der Nordkaukasus: Gefahr für die nationale Sicherheit | |
Der Oppositionelle Ilja Jaschin legt einen Bericht über den | |
tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow vor. Der kann schalten und | |
walten, wie er will. |