# taz.de -- Schienenpartisanen in Belarus: Wenn der Krieg entgleist | |
> In Belarus werden Bahnstrecken lahmgelegt, um den Nachschub für russische | |
> Truppen zu behindern. Wer erwischt wird, riskiert drakonische Strafen. | |
Bild: Russischer Truppenzug mit militärischer Ausrüstung für das russisch-be… | |
Über den Schienenkrieg lesen belarussische Schulkinder normalerweise etwas | |
in ihren Geschichtsbüchern. Dort steht geschrieben, dass diese Aktion zur | |
massenhaften Zerstörung von Bahnstrecken ein Teil des belarussischen | |
Partisanenkampfes war, um so den Nachschubtransport der deutschen Wehrmacht | |
zu behindern. 80 Jahre später kann man den Ausdruck „Schienenkrieg“ nicht | |
nur im Geschichtsunterricht hören, sondern auch in den Nachrichten. | |
Bericht von der Front: mindestens 48 Festnahmen (viele wurden später wieder | |
freigelassen. Sie waren festgenommen worden, weil sie den Telegram-Kanal | |
der Eisenbahner abonniert hatten), zwei Schwerverletzte, vier deaktivierte | |
Automatisierungs- und Telemechanikgeräte, neun ausgebrannte Relaisschränke | |
an Bahnstrecken, sechs demontierte Signaltransformatoren, zwei | |
Cyberattacken auf das Intranet der Belarussischen Eisenbahngesellschaft. | |
Aber das ist nur eine kleine Auswahl. Wie viele Sabotageakte bislang | |
wirklich verübt wurden, weiß man nicht. | |
Im belarussischen Innenministerium spricht man auf jeden Fall von mehr als | |
80 Terrorakten: Als solche bezeichnen belarussische Sicherheitskräfte die | |
Deaktivierung von Signalanlagen und Relaisschränken, über Einzelheiten | |
wurde bislang nichts bekannt. | |
Die Kampfhandlungen begannen am 26. Februar. An diesem Tag wurde auf der | |
Bahnstrecke Talka–Vereitsi die Automatisierungs- und Telemechanikanlage des | |
Signal- und Sicherheitssystems außer Kraft gesetzt. | |
Gleich am nächsten Tag folgte eine heftige Cyberattacke auf das Intranet | |
der Belarussischen Eisenbahngesellschaft. Zur Erinnerung: An diesem Tag | |
fand in Belarus [1][das Referendum über eine Verfassungsänderung zugunsten | |
von Präsident Alexander Lukaschenko statt]. | |
## Cyberpartisanen bekennen sich zum Anschlag | |
Aber da schon wenige Tage zuvor der russische Angriff auf die Ukraine | |
begonnen hatte, interessierte sich niemand mehr besonders für dieses | |
Referendum – [2][außer den „Cyberpartisanen“], die sich zu diesem Anschl… | |
bekannten. Sie hatten ihn extra zum Referendum geplant. Aber das fiel | |
plötzlich mit dem Krieg zusammen, so dass diese Attacken Teil des | |
Schienenkriegs wurden und nicht mehr eine Anti-Referendum-Aktion. | |
Die erste Cyberattacke auf das Netz der Belarussischen Bahn hatten die | |
digitalen Partisanen bereits am 24. Januar verübt. Als Grund dafür gaben | |
sie an, dass das Lukaschenko-Regime zu jener Zeit „Besatzungstruppen in | |
unser Land gelassen hatte“. Es war sozusagen ein Probeangriff: Weder | |
Sicherheits- noch Automatisierungssysteme wurden angegriffen, nur ein | |
Großteil von Servern und Datenbanken verschlüsselt. Die Attacke vom Februar | |
war hingegen deutlich größer. | |
Die Cyberpartisanen schalteten das Intranet der Bahngesellschaft aus und | |
deaktivierten den Hard- und Software-Komplex „Neman“ zur Steuerung des | |
Fahrbetriebs. | |
Jetzt kann man ihn nur noch per Hand steuern. Auch Bahnfahrkarten können | |
nur noch händisch ausgestellt werden – schon am 28. Februar bildeten sich | |
an den Ticketschaltern lange Schlangen, weil der Onlineverkauf nicht mehr | |
funktionierte. (Die Wiederherstellung des Systems hat übrigens zwei Wochen | |
gedauert.) | |
In der Nacht auf den 1. März wurden die Relaisschränke auf den Gomeler und | |
Baranowitschier Streckenabschnitten der Belarussischen Bahn in Brand | |
gesetzt. Das sind genau die Routen, auf denen die russischen Militärzüge | |
unterwegs waren. Und wenn Relaisschränke ausfallen, funktionieren die | |
elektronischen Signalanlagen nicht mehr. Die Abschnitte stellten auf | |
„Handbetrieb“ um, so dass die Züge nicht schneller als 20 Kilometer pro | |
Stunde fahren können. Solche Möglichkeiten hatten die Schienenpartisanen im | |
Zweiten Weltkrieg noch nicht. | |
## Festnahmen am 1. März | |
Am 1. März wurde in der belarussischen Kleinstadt Stoubzy das Ehepaar | |
Sergei und Ekaterina Glebko festgenommen. Sie hatten keine Relaisschränke | |
in Brand gesetzt. Aber sie hatten Holzscheite auf die Gleise gelegt und | |
diese angesteckt. Am Abend zeigte ein staatlich kontrollierter | |
Telegram-Kanal ein Video, in dem Sergei Glebko, durch Schläge stark | |
verletzt, sagte: „Ich habe zwei Holzscheite auf die Strecke gelegt, weil | |
ich mich in Telegram-Kanälen informiert hatte und nicht einverstanden war | |
mit dem, was da vor sich ging. Ich wollte irgendwie meine Unterstützung | |
bekunden und deshalb habe ich diese Scheite angezündet.“ Die Eheleuten | |
wurden nach Paragraf 289 des Strafgesetzbuches von Belarus angeklagt: | |
„Terrorismus“. | |
Es gab noch weitere Festnahmen: Alexei Schischkowez in Osipowitschi, Dmitri | |
und Natalja Rawitsch sowie Denis Dikun und Alisa Malanowa in Swetlogorsk, | |
in Witebsk Sergei Konowalow, in Bobruisk Ewgeni Minkewitsch, Wladimir | |
Abramzew und Dmitri Klimow. Über Schischkowitsch konnte man im | |
Telegram-Kanal des belarussischen Innenministeriums lesen, dass er „einer | |
extremistischen Vereinigung beigetreten sei, nachdem er sich bei einem | |
Mobilisierungs-Chatbot angemeldet hatte, um illegale Handlungen in Belarus | |
zu begehen“, und dass er am 1. März angewiesen wurde, Eisenbahnstrecken zu | |
blockieren und Molotowcocktails herzustellen. | |
Da sich die Anklage darauf stützte, dass er angeblich „wollte, aber keine | |
Zeit hatte“, geht es hier nicht um Terrorismus, sondern um Beteiligung an | |
einer extremistischen Vereinigung. Das heißt, Schischkowez drohen drei bis | |
sieben Jahre Gefängnis, dem Ehepaar Glebko acht bis zwanzig. Es sind teuer | |
bezahlte Holzscheite. | |
Denis Dikun aus Swetlogorsk war auch in dem Video zu sehen, das | |
belarussische Sicherheitskräfte auf ihrem Telegram-Kanal gepostet hatten. | |
Wie auch Sergei Glebko war er geschlagen worden. Das linke Auge war so | |
geschwollen, dass es fast nicht mehr zu erkennen war. Die Methoden, mit | |
denen diese demonstrative Reue vor der Kamera zustande kommt, sind | |
offensichtlich: Man sieht sie auf den Gesichtern der Menschen, [3][zusammen | |
mit den Hämatomen]. Aber Dikun war zumindest bei Bewusstsein und konnte | |
sprechen. Andere Verhaftete wurden im belarussischen Fernsehen gezeigt, wie | |
sie bewusstlos und blutüberströmt dalagen, nachdem man scharf auf sie | |
geschossen hatte. | |
Das war Ende März. Die staatlichen Fernsehsender weideten sich an den | |
Bildern der Verwundeten. Journalisten hinter den Kulissen und | |
Sicherheitskräfte vor der Kamera erklärten eifrig: „Das sind Einwohner von | |
Bobruisk – ebendie, die am 28. März zwei Relaisschränke bei Osipowitschi in | |
Brand gesetzt haben. Einige Tage später konnten wir sie festnehmen, als sie | |
einen weiteren Terrorakt vorbereiteten, und Sondereinsatzkräfte haben ihnen | |
diese Schussverletzungen zugefügt.“ | |
Nach den Worten des Vize-Innenministers Gennadi Kasakewitsch seien | |
belarussische Sondereinsatzkräfte dermaßen professionell, dass sie sogar, | |
wenn sie den Befehl erhielten, scharf zu schießen, filigran arbeiten | |
könnten: zwei von drei der Festgenommen seien zwar noch auf der | |
Intensivstation, würden aber wohl überleben. Man habe ihnen nur in die Knie | |
geschossen, aber dank der Professionalität der Schützen seien die | |
Schienenpartisanen auch nicht an Blutverlust gestorben. | |
## Triggerwarnung auf YouTube | |
Übrigens wird YouTube, wo die staatlichen TV-Sender ihre Filme über die | |
Festgenommenen und die Schießereien auch zeigen, gewarnt, dass „der Content | |
der Filme einige Zuschauer verstören oder schockieren könnte“. Und in | |
Belarus zeigte man solchen Content im Fernsehen, morgens, abends und | |
zwischendurch – mit Kommentaren verschiedener Sicherheitskräfte und | |
Propagandisten | |
Die drei aus Bobruisk sind der Rettungswagenfahrer Ewgeni Minkewitsch, der | |
Sportler Wladimir Abramzew und der Taxifahrer Dmitri Klimow. Der Fall wird | |
mit dem Straftatbestand „Terrorismus“ gelabelt. Einige Tage später kam zu | |
den „Terroristen“ aus Bobruisk noch einer aus Witebsk dazu – Sergei | |
Konowalow, ein Mitarbeiter der Witebsker Signal- und | |
Kommunikationsabteilung der Belarussischen Eisenbahn. | |
Nun hat zwar der Telegram-Kanal der Gesellschaft der Belarussischen | |
Eisenbahner bekannt gegeben, dass Konowalow verhaftet worden sei, nachdem | |
ein örtlicher Ideologe, mit dem er in Streit geraten war, ihn denunziert | |
hätte. Aber der Ideologe (ja, in Belarus gibt es tatsächlich den Posten des | |
Ideologen) hatte dem KGB mitgeteilt, dass Konowalow angeblich einen | |
Terrorakt vorbereite. Das hatte für eine Festnahme ausgereicht. | |
Die Sabotageakte bei der Eisenbahn dauern an, sogar auch noch nach den | |
blutigen Videos im Fernsehen. Mitte März wurden Relaisschränke auf den | |
Bahnstrecken zwischen Domanowa-Lesnaya im Gebiet Brest und Fironowo-Sagate | |
im Witebsker Gebiet gemeldet. Und am Bahnhof Orscha-Zentralna wurden sechs | |
Signaltransformatoren zerstört. | |
Ab dem 19. März patrouillierten an den Bahnstrecken in den Gebieten Gomel | |
und Brest zum Schutz Streitkräfte des Innenministerium – mit Zelten, | |
GPS-Trackern und mit Waffen. Am 23. März wurde der offizielle Telegram-Chat | |
„Gesellschaft der Belarussischen Eisenbahner“ als extremistische Gruppe | |
eingestuft. | |
## 38 reumütige Videos | |
Am letzte Märztag wurden dutzende Menschen im Zusammenhang mit dem | |
Schienenkrieg festgenommen. An diesem Tag „schleuderten“ staatliche | |
Telegram-Kanäle gleich 38 reumütige Videos auf einmal ins Internet. Alle | |
wirkten sie, als sei dabei ein Teleprompter zum Einsatz gekommen, nur die | |
Settingdaten waren unterschiedliche. | |
Jeder der Protagonisten dieser Videos sagte exakt ein und dasselbe: Er habe | |
den Telegram-Kanal der Eisenbahner abonniert, aber nicht gewusst, dass | |
dieser als extremistisch eingestuft worden sei: Der KGB habe ihm alles | |
erklärt, jetzt bereue er das alles zutiefst und appelliere an die Bürger | |
von Belarus auf, keine extremistischen Telegram-Kanäle zu abonnieren. | |
Über die genaue Zahl der festgenommenen Schienenpartisanen ist bis heute | |
wenig bekannt. Auch wie viele Sabotageakte sie begangen haben, weiß | |
niemand. Die belarussischen Sicherheitskräfte kommen selbst mit den Zahlen | |
durcheinander. Für sie ist etwas anderes die Hauptsache. Mit aller Kraft | |
versuchen sie den neuen Schienenkrieg als eine Operation westlicher | |
Geheimdienste darzustellen. Über jeden der Festgenommenen sagen sie, wobei | |
sie immer den Ausdruck „westlicher Kurator“ verwenden, er habe „Aufgaben | |
bekommen“ und aus „finanziellen Interessen gehandelt“. | |
Mit dem westlichen Kurator erschreckt das Fernsehen Kinder mehr als eine | |
alte Großmutter. | |
Ihnen damit aber wirklich Angst einzujagen, ist jedoch eher | |
unwahrscheinlich: Steht doch in den Geschichtslehrbüchern geschrieben, dass | |
der Schienenkrieg ein heroischer Teil des Widerstandskampfes der Partisanen | |
war. | |
Aus dem Russischen Gaby Coldewey | |
9 May 2022 | |
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Irina Chalip | |
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