# taz.de -- Russland und der Ukrainekrieg: Vier Stunden bis zur Hölle | |
> Mit dem Schnellzug braucht man von Moskau nach Charkiw genauso lange wie | |
> nach St. Petersburg. Doch die Menschen in Russland verdrängen den Krieg. | |
Bild: Blutige Spuren in Charkiw nach einem russischen Angriff, 25. April 2022 | |
Wenn Sie mal eine Pause brauchen vom geschäftigen Leben in der | |
frühlingshaften Hauptstadt, dem vor Leben sprudelnden Viertel rund um die | |
Patriarchenteiche, von den Moskauer Theatern – überall ist es rappelvoll | |
und die Preise! Exorbitant –, von den überfüllten Einkaufszentren und den | |
ewigen Staus – dann nehmen Sie den Schnellzug „Sapsan“ und kommen ins | |
kühle, sonnige St. Petersburg. | |
Sie können hier die Uferstraßen entlangschlendern, die Nase in die kühle | |
Meeresbrise halten, eine kleine Tour durch die – so scheint es – | |
weltberühmte Petersburger Gastroszene oder die fröhlichen lokalen Kneipen | |
unternehmen. | |
Man könnte denken, dass St. Petersburg weit weg sei, dabei ist die Stadt | |
ganz nah, wenig mehr als 700 Kilometer von Moskau entfernt. Nur vier | |
Stunden mit dem Schnellzug – schon spürt man ganz andere Vibes. | |
Und wenn die „Sapsan-Züge“ nicht vom Leningrader Bahnhof nach Norden | |
abführen, sondern nach Süden, vom Kiewer Bahnhof, dann wären Moskauer in | |
vier Stunden in Charkiw. Ich erinnere mich, dass ich als kleiner Junge | |
einmal durch Charkiw weiter in den Süden gefahren bin, damals mit einem | |
ganz gewöhnlichen Zug. In Charkiw hatten wir eine Stunde Aufenthalt. Alle | |
auf dem Bahnsteig sprachen Russisch, wir kauften Kartoffelpiroggen, | |
Sonnenblumenkerne und Salzgurken. Daran erinnere ich mich aus irgendeinem | |
Grund bis heute. | |
Jetzt würde der Zug Moskau–Charkiw direkt in die Unterwelt fahren. [1][In | |
eine Stadt, in der russische Bombardements und Beschuss zweitausend Häuser | |
zerstört haben]. Wohnblöcke, Schulen, Krankenhäuser. In eine Stadt, aus der | |
bislang ein Drittel der Einwohner geflohen ist, während sich die übrigen | |
stur an die Trümmer ihres alten Lebens klammern und jeden Tag Gefahr | |
laufen, von Splittern russischer Raketen und Granaten getötet zu werden. In | |
eine Stadt, die von einem erbarmungslosen Feind belagert wird, der schon in | |
[2][Butscha und Irpin gezeigt hat], wozu er in der Lage ist. | |
## Ja, wer ist denn dieser Feind? | |
Ein erbarmungsloser Feind? Ja, wer ist denn dieser Feind? Sind das nicht | |
genau die Leute, die an den Patriarchenteichen entlangbummeln, die in | |
Moskauer Einkaufszentren shoppen und im hauptstädtischen Stau feststecken, | |
während sie davon träumen, schnell wieder nach Hause zu ihrer Familie zu | |
kommen? | |
Diese Menschen sind doch ganz normale Leute, sie können doch anderen, die | |
genau so sind wie sie, in den gleichen Plattenbauten leben, die die gleiche | |
Sprache sprechen, nicht den Tod wünschen? Wie ist das möglich? Das können | |
sie einfach nicht. Diese Menschen haben nichts verbrochen, und sie schießen | |
auf niemanden. Was also tun sie? | |
Sie tun so, also ob gar nichts passiert. [3][Sie versuchen, nicht über das | |
zu sprechen], was sich dort – nur vier Stunden Fahrt mit dem | |
Höllen-Schnellzug entfernt – ereignet. | |
Glücklicherweise ist die Kanonade aus Charkiw in Moskau nicht zu hören, und | |
wie lange man aus der russischen Hauptstadt nach Mariupol braucht, weiß der | |
Teufel. Das interessiert doch auch keinen, wo liegt das überhaupt? Wenn man | |
im Internet „Entfernung von Moskau nach Ma…“ eingibt, kommt als erstes | |
Ergebnis die Malediven. | |
Also verrate ich es Ihnen: mit dem Auto braucht man von Moskau nach | |
Mariupol 15 Stunden. 15 Stunden am Steuer, um von den ausverkauften | |
Moskauer Theatern zu dem Theater mit der Aufschrift „Kinder“ zu kommen, das | |
von russischen Kampfflugzeugen kaputtgebombt wurde. Bis zu der zerstörten | |
Geburtsklinik. Bis „Asowstal“, das standhält wie die Festung Brest. | |
Kann man sich dem entziehen? Ach komm, lass uns einfach nicht darüber | |
sprechen, nicht über den Krieg, lass uns das Wort „Krieg“ einfach nicht | |
aussprechen, weil: das ist doch alles gar nicht so eindeutig. Lass uns | |
lieber tanzen gehen, ins Restaurant, ins Theater oder einfach in irgendein | |
kleines Kino im Einkaufszentrum. Lass uns so tun, als ginge das Leben | |
seinen gewohnten Gang, als sei alles wie immer. | |
Ja, okay, es gibt da diese „Spezialoperation“, das sind irgendwelche | |
Asow-Nazis, hol sie der Teufel, das ist irgendwo anders, auf jeden Fall | |
nicht bei uns. Und hier ist übrigens auch nicht alles so toll: Apple Pay | |
wurde abgeschaltet, McDonald’s haben sie zugemacht, sie denken, dass sie | |
uns so aushungern. Aber wir gehen trotzdem aus und haben Spaß! In Moskau | |
und Petersburg sieht es ganz normal aus, dort gibt es ganz normales Leben, | |
fast so ein Leben wie früher. | |
Eine Blase. In der Blase: ein Teller mit Salat oder Kohlsuppe, eine | |
Theaterbühne, eine Kinoleinwand, der Weg zur Arbeit, der Weg nach Hause. | |
Und das, was außerhalb dieser Blase ist, also das, woraus der Rest der Welt | |
besteht, die vor Blut und Eiter brodelt, das ignorieren wir einfach. Nur | |
leider existiert es trotzdem. Ja, es hat die Plazenta noch nicht | |
durchbrochen, hat noch kein Blut und keinen Eiter in das Leben eines jeden | |
Einzelnen unserer Leute fließen lassen, aber der Druck von außen wird | |
stärker und er steigt auch innerhalb der Blase. | |
## Nicht einen Zentimeter | |
Russische Züge fahren nicht nach Charkiw. Sie fahren auch nicht nach | |
Mykolajiw, nach Odessa oder nach Kramatorsk. Nicht nach Butscha oder | |
Donezk. Die Ukraine ist von echten, lebenden Menschen bevölkert, die die | |
russische Armee jeden Tag grundlos tötet, einfach so, ohne Anlass, sicher | |
abgeschnitten von der Kommunikation mit Russland. Wir schauen auf den | |
Teller, wir heben bitte auf keinen Fall den Blick. Nicht einen Zentimeter. | |
Und dennoch finden im Namen Russlands jeden Tag unter falschen, täglich | |
wechselnden Vorwänden, Morde und Zerstörungen statt. | |
Und trotz allem erfahren auch die Menschen innerhalb der Blase von all dem. | |
Leichengeruch dringt hindurch, die Plazenta kann nicht alles filtern. Und | |
noch schrecklicher: Dieser Geruch wird Teil der Normalität, die Tötungen | |
friedlicher Menschen, die die gleichen Vornamen und Familiennamen wie sie | |
haben, wird Teil der Norm. Es wird zur Norm, dies zwar zu bemerken, aber | |
nicht darüber zu sprechen. Und wenn man doch darüber spricht, dann mit der | |
vom Staat bereitgestellten Blaupause und vorsätzlichen Lügen. Die | |
biblischen Verbote werden aufgehoben, prähistorische Tabus werden geändert, | |
bei Kannibalismus wird nach Rechtfertigungen gesucht. | |
Man darf nicht glauben, dass die neue Normalität der alten ähnelt. Das Gift | |
ist bereits in Körper und Seele eingedrungen, es wirkt nur noch nicht. | |
Wir weigern uns daran zu denken, dass der Zug aus Moskau nur vier Stunden | |
in die Hölle braucht, und wir wollen ja auch gar nicht das frühlingshafte | |
Moskau Richtung Hölle verlassen. Aber die Schnellstraße dorthin ist schon | |
gebaut. Und die Hölle rauscht uns jetzt darauf entgegen. | |
Aus dem Russischen Gaby Coldewey | |
8 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Dmitry Glukhovsky | |
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