# taz.de -- Zum Tag der Befreiung: Das Klammern an den Sieg | |
> Mit dem Gedenken an den Tag der Befreiung 1945 kapert der Kreml die | |
> Erinnerung und instrumentalisiert sie 77 Jahre nach Kriegsende. | |
Bild: Keine Luftnummer: Der Kreml hat die diesjährige Feier zum Tag der Befrei… | |
MOSKAU taz | Moskau ist dieser Tage in ein tiefes Rot getaucht. Riesige | |
Flaggen, die über zwei Etagen reichen, hängen an den Hochhäusern zentraler | |
Straßen. An den Brücken flattern Banner im Wind, „Pobeda“ ist in Weiß auf | |
Rot darauf gedruckt. Sieg. Es ist ein Wort und ein Wert, woran sich das | |
Land, die Führung wie das Volk, klammern. Russland sei eine Siegesnation, | |
brüllen die Propagandist*innen. Der Sieg sei heilig, sagt der Präsident | |
Wladimir Putin seit Jahren. Sein Land werde immer nur Siege einfahren. So | |
manche Kritiker*innen im Land wünschen sich in der Ukraine derweil eine | |
russische Niederlage, um Russlands Kult des Sieges durch den Kult der | |
Gewalt zu durchbrechen. | |
In der Stadt Moskau herrscht Nervosität. Gerüchte von einer | |
Generalmobilmachung machen sich breit, auch Gerüchte, dass der Kreml | |
womöglich ukrainische Kriegsgefangene über den Roten Platz werde treiben | |
lassen. Das verstieße zwar gegen die Genfer Konventionen, präzedenzlos wäre | |
allerdings auch dieser Gräuel nicht. Bereits 2014 hatten die von Moskau | |
unterstützten „Separatistenführer“ im besetzten Donezk 50 ukrainische | |
Kriegsgefangene vorgeführt. Kommentator*innen, kremlloyale wie | |
kremlkritische, fragen sich derweil, was ihr Präsident am kommenden Montag | |
verkünden wird. Den Sieg? Doch welchen? Die Einnahme der durch die | |
russische Armee völlig zerstörten Stadt Mariupol? Eine neue staatliche | |
Ordnung im Donbass und in der Südukraine? Ultimaten an den Westen? Den | |
Einsatz atomarer Waffen gar? | |
Längst geht es am 9. Mai nicht mehr um die Trauer um die 27 Millionen | |
sowjetischen Gefallenen im „Großen Vaterländischen Krieg“, wie die | |
Russ*innen den Zweiten Weltkrieg bezeichnen. Es geht um Pomp und Triumph. | |
Es geht um „Wir können es wiederholen“, die Losung, die Rotarmisten einst | |
an die Säulen des Reichstags in Berlin geschrieben hatten und die durch den | |
Krieg in der Ukraine, den Russland euphemistisch „militärische | |
Spezialoperation“ nennt, keine leere Drohung mehr ist. | |
Der Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland, den das Land nicht am 8. | |
Mai 1945 feiert, weil die bedingungslose Kapitulation in Berlin in der | |
Nacht unterzeichnet wurde und in Moskau da bereits der 9. Mai angefangen | |
hatte, er eint die Menschen in Russland – und darüber hinaus – auf eine | |
besondere, ja eine schmerzhafte Weise. Jede Familie im Land hat ihre | |
Vorfahren zu betrauern, als Gefallene, Kriegsversehrte, als angebliche | |
Verräter*innen in den Gulag Gekommene. Dieser Sieg ist ein | |
identitätsstiftendes Moment, in dem sich jeder findet, egal, welcher | |
politischer Überzeugung er ist. Bis in die späte Sowjetzeit hinein war der | |
9. Mai ein trauriger Tag. „Nie wieder“, sagten die Überlebenden zu ihren | |
Nachfahren mit Tränen in den Augen. „Frieden“ war die Botschaft, von | |
Kindesbeinen an. Nun singen die Kleinen in den Kindergärten quer durchs | |
Land Kriegslieder und lassen sich in Z-Formationen aufstellen, um der | |
Kriegslüsternheit des Staates in entwürdigender Weise zu huldigen. In | |
diesem Jahr zelebriert Russland keinen Frieden, es zelebriert den Krieg, | |
verkauft ihn allerdings prächtig leugnend als Frieden. | |
## Es zählt die Inszenierung | |
[1][Moskau hat die diesjährige Feier noch pompöser angelegt], auch wenn | |
kein einziger ausländischer Staatsgast eingeladen wurde, weniger Menschen | |
über den Roten Platz marschieren werden, weniger Militärtechnik über das | |
Kopfsteinpflaster rollen wird und auch die regionalen Paraden bescheidener | |
ausfallen. Es zählt die Inszenierung, es zählt das offizielle Narrativ vom | |
stetigen Kampf der Russ*innen gegen fremde Mächte von außen, die ihr Land | |
über Jahrhunderte hinweg zu knechten versucht hätten. | |
Der Kreml kapert und kontrolliert die Erinnerung, er macht mit dem | |
vereinfachten, plakativen Wissen über den Zweiten Weltkrieg Politik. Putin | |
hat Geschichte zur treibenden Kraft seines Handelns gemacht und legitimiert | |
dieses damit. „1941–2022“ steht derzeit auf manchen Plakaten, so als | |
befände sich Russland immer noch im Krieg, als hätte der Kampf gegen das | |
absolute Böse, den Faschismus, nie aufgehört. Indem Moskau alle | |
Ukrainer*innen, die die offizielle russische Politik in Frage stellen, zu | |
„Nazis“ erklärt, missbraucht es das Gedenken an den Sieg 1945 als | |
Rechtfertigung seines Krieges in der Ukraine und pflegt mit seiner neuen | |
Swastika, dem Z, eine Ideologie der Zerstörung. | |
8 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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