| # taz.de -- Vereinnahmung des „Tages des Sieges“: Der Tag, den Putin erober… | |
| > Am 9. Mai wird in Moskau der „Tag des Sieges“ über die Nazis gefeiert. | |
| > Demokratisch gesinnte Menschen werden nicht mehr mitfeiern können. | |
| Bild: Helm auf zur Siegesparade: russische Soldaten bei Vorbereitungen zum 9. M… | |
| Es soll eine besondere und wohl die wichtigste Militärparade in der | |
| russischen Geschichte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sein. 11.000 | |
| Soldaten werden daran teilnehmen; Panzer werden rollen, Raketen und weitere | |
| moderne Technik werden gezeigt. Der Kreml will seine militärische | |
| Überlegenheit bestätigen und nicht zuletzt „unfreundliche Staaten“ im | |
| Westen abschrecken. | |
| Als Höhepunkt der Militärparade ist der spektakuläre Auftritt von acht | |
| Kampfflugzeugen MiG-29SMT angedacht, die im Himmel über dem Moskauer Roten | |
| Platz eine Formation in Form [1][des Buchstabens „Z“ – des Symbols] des in | |
| Russland als „Spezialoperation“ titulierten Angriffskrieges gegen die | |
| Ukraine – bilden und dadurch die in der Ukraine eingesetzten Soldaten | |
| unterstützen sollen. | |
| Offiziell wird am 9. Mai der 77. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland | |
| im Zweiten Weltkrieg gefeiert. Wladimir Putin wollte an diesem Tag aber | |
| einen anderen Sieg feiern: seinen persönlichen Sieg über die „ukrainischen | |
| Neonazis“, die Zerschlagung der prowestlichen demokratischen Ukraine, deren | |
| Rückkehr in die russische Einflusszone und somit den Beginn der neuen | |
| Epoche. Ein Sieg, der aber aufgrund des mutigen ukrainischen Widerstandes | |
| nicht in Sicht ist. | |
| Und gerade angesichts der erschreckenden Ereignisse in der Ukraine wird der | |
| russische Feiertag am 9. Mai in der ganzen Welt diesmal mit großer Spannung | |
| erwartet. Eine Radikalisierung und Ausbreitung des Krieges wird befürchtet, | |
| sogar eine Kriegserklärung an die Nato scheint möglich zu sein. | |
| Die politische und propagandistische Instrumentalisierung des „Tages des | |
| Sieges“ ist nicht überraschend. Sie zieht sich vielmehr wie ein roter Faden | |
| durch die Geschichte dieses Feiertages in der Sowjetunion und in der | |
| Russischen Föderation. | |
| ## Großer Vaterländischer Krieg | |
| Als das „Dritte Reich“ am späten Abend des 8. Mai 1945 [2][in Berlin | |
| kapitulierte,] hatte in Moskau schon der nächste Tag begonnen. So hat der | |
| Kreml kurzerhand beschlossen, den 9. Mai zum „Tag des Sieges über die | |
| nationalsozialistischen Besatzer im Großen Vaterländischen Krieg“ zu | |
| erklären. Da aber Stalin und sein Nachfolger Chruschtschow vor allem am | |
| Aufbau des zerstörten Landes interessiert waren und Kriegshelden aus der | |
| Kriegsführung als potenzielle politische Konkurrenten betrachteten, wurde | |
| dem Krieg und dem „Tag des Sieges“ zunächst verhältnismäßig wenig | |
| Aufmerksamkeit beigemessen. Zwischen 1947 und 1965 war er nicht einmal ein | |
| arbeitsfreier Feiertag. | |
| Als aber der Kriegsveteran [3][Leonid Breschnew] die Parteiführung 1964 | |
| übernommen hatte, wurde der „Tag des Sieges“ massiv aufgewertet und stieg | |
| in den nächsten Jahren zum mit Abstand wichtigsten sowjetischen Feiertag | |
| auf, der pompös – mit großen Militärparaden und weiteren | |
| Propagandaveranstaltungen – begangen wurde und den Tag der | |
| Oktoberrevolution am 7. November in den Schatten stellte. | |
| Obschon sowjetische Kriegsveteranen am „Tag des Sieges“ gefeiert wurden, | |
| stand die propagandistische und politische Dimension stets im Vordergrund. | |
| Der Sieg über Nazideutschland und die Rettung der ganzen Welt vor der | |
| „braunen Pest“ galten fortan als die wichtigsten Errungenschaften der | |
| kommunistischen Sowjetunion, als Zeichen ihrer politischen und moralischen | |
| Überlegenheit. | |
| ## Auseinandersetzung unerwünscht | |
| Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus verlor der „Tag des Sieges“ im Zuge | |
| der Transformation und der Annäherung zwischen Russland und dem Westen in | |
| der ersten Hälfte der 1990er Jahre etwas an Bedeutung, wobei der damalige | |
| russische Präsident Boris Jelzin bis 1995 sogar auf die sowjetisch | |
| anmutende Tradition der überzogenen Militärparaden auf dem Roten Platz | |
| verzichtete. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts kam es allerdings erneut | |
| zur Aufwertung des „Tages des Sieges“. | |
| Unter Wladimir Putin setzte sich diese Tradition fort und nahm eine neue | |
| Dimension an. Während eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Krieg | |
| und seinen Schrecken grundsätzlich unerwünscht war, galt das offizielle | |
| russische, im Grunde genommen den politischen Bedürfnissen der russischen | |
| Führung angepasste sowjetische Narrativ des „Großen Vaterländischen | |
| Krieges“ als die einzig richtige, ja einzig mögliche Darstellung der | |
| Kriegsgeschichte, die den postsowjetischen Staaten aufgebürdet werden und | |
| deren Anbindung an Russland stärken sollte. | |
| Putin nutzte den Zweiten Weltkrieg und vor allem den „Tag des Sieges“, um | |
| seine neoimperialistischen Großmachtvorstellungen zu verbreiten und die | |
| russische Gesellschaft auf Basis von Militarismus, Chauvinismus, | |
| Revanchismus und Hass gegen das Fremde – vor allem gegen den Westen – zu | |
| konsolidieren. Russland wurde dabei zum Nachfolgestaat der Sowjetunion | |
| stilisiert, der die Idee des Sieges über den Nationalsozialismus | |
| verinnerlicht habe und weitertrage; die Ukraine nach der Maidan-Revolution | |
| galt als der vom Westen unterstützte „faschistische Staat“, in dem Neonazis | |
| ungehindert schalten und walten würden. | |
| ## Propagandistisch ausgeschlachtet | |
| So wurde der „Tag des Sieges“ nicht zum Tag der Versöhnung und der | |
| Rückbesinnung auf die Kriegskatastrophe, sondern zum propagandistisch | |
| ausgeschlachteten Tag der Kriegshysterie, die sich in Russland ausbreitete; | |
| zum Tag, an dem manche „patriotischen Hitzköpfe“ von einem neuen „Sieges… | |
| nach Berlin“ träumten und die vermeintlich ausgebliebene vollständige | |
| „Denazifizierung“ Deutschlands und Europas forderten. Das aus dem Zweiten | |
| Weltkrieg bekannte, inzwischen in etlichen europäischen Staaten verbotene | |
| sowjetische militärische Abzeichen Sankt-Georgs-Band wurde zu einem der | |
| Symbole der russischen Krim-Annexion und des Krieges im Donbass 2014. | |
| Acht Jahre später wähnt sich Russland in einem Schicksalskampf gegen die | |
| Neonazis, der durch die „Spezialoperation“ am 24. Februar begonnen wurde | |
| und – so wie von Putin und weiteren russischen Spitzenfunktionären | |
| beharrlich betont – bis zum endgültigen Sieg geführt wird. Und der „Tag d… | |
| Sieges“, der längst ein Teil der russischen aggressiven Politik ist, wird | |
| als wesentliches Element dieses neuen verheerenden Krieges in Erinnerung | |
| bleiben. Das Schicksal des Feiertages scheint somit besiegelt: Von Putin | |
| vereinnahmt, wird der „Tag des Sieges“ endgültig zu einem „Tag des Krieg… | |
| mutieren, der von demokratisch gesinnten Menschen kaum mehr gefeiert werden | |
| kann. | |
| Als Russland mit der prunkvollen Feier des 60. Jahrestag des Sieges 2005 | |
| die Weichen für die spätere propagandistische Ausschlachtung dieses | |
| Feiertages stellte, sprach der russische Kirchenhistoriker Georgij | |
| Mitrofanow pointiert von einem „Siegeswahn“ (Pobedobesie), der die | |
| Russische Föderation erfasst habe. Spätestens 17 Jahre später wurde aus | |
| diesem Siegeswahn ein Kriegswahn, welcher die Ukraine zerstört und die Welt | |
| in den Dritten Weltkrieg zu ziehen droht. | |
| 8 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alexander Friedman | |
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