# taz.de -- Kriegsende vor 75 Jahren: Wo die Nazis kapitulierten | |
> Was mit der Machtübernahme der Nazis 1933 begann, fand hier vor 75 Jahren | |
> sein Ende. Zu Besuch in der Pionierschule in Berlin-Karlshorst. | |
Bild: Soldaten der Roten Armee besteigen im Mai 1945 am Brandenburger Tor einen… | |
BERLIN taz | Durch diese Tür traten die Befehlshaber von Heer, Marine und | |
Luftwaffe, nahmen kurz Platz, mussten vorn die bedingungslose Kapitulation | |
unterschreiben und abtreten. Da konnte Wilhelm Keitel, einer von Hitlers | |
treuesten Gefolgsleuten und Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, noch so | |
mit dem Marschallstab grüßen, zu befehlen hatte er nur noch, dass [1][die | |
Truppen die Kämpfe einzustellen haben]. | |
Was mit der Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 begann, fand hier | |
im Offizierscasino der Pionierschule Karlshorst sein Ende – zwei A4-Seiten, | |
sechs Punkte, sieben Unterschriften. Weltgeschichte in lapidarer Form. Ein | |
Faksimile liegt unter Glas. | |
Jörg Morré schiebt zwei Hocker übers Parkett. Neben den edlen | |
Polsterstühlen wirken sie wie deplatziert, aber sie veranschaulichen die | |
Kluft von einem Dreivierteljahrhundert zu jenem Tag im Mai 1945. Überhaupt | |
scheint dieses Haus im Südosten Berlins ein wenig im Nebel zu liegen. | |
Doch in diesem Jahr hatte sich der Bundespräsident angemeldet. Der Besuch | |
ist coronabedingt verschoben worden. Michael Müller, der Regierende | |
Bürgermeister von Berlin, hält aber an seinem Kommen am 8. Mai fest. Die | |
Genugtuung ist Jörg Morré anzumerken. Leicht war es nicht. „Da sind | |
Strippen gezogen worden“, sagt er knapp. | |
Das Deutsch-Russische Museum führt eine Randexistenz. Mit der Lage will das | |
Morré gar nicht erst erklären. Die Stasigedenkstätte in Hohenschönhausen | |
sei vom Zentrum ähnlich weit entfernt und habe die zehnfache Zahl an | |
Besuchern. Nach Karlshorst kommen 50.000 im Jahr. Zwar steuern viele | |
russische Touristen vor allem den Reichstag an und legen im Treptower Park | |
am Fuße des gewaltigen Sowjetsoldaten Blumen nieder. Nach Karlshorst finden | |
dann aber auch noch einige Tausend, unter ihnen viele Nachkommen von | |
Rotarmisten. Der Ort ist in Russland bekannter als hierzulande. | |
Zwar kommen auch Berlinerinnen und Berliner, Schulklassen, doch für viele | |
aus dem Westteil der Stadt sei Karlshorst ein weißer Fleck, sagt Morré. Und | |
für viele im Ostteil verbinde sich mit dem Viertel vor allem Besatzung. | |
Nach der Kapitulation war hier das Hauptquartier der Sowjetischen | |
Militäradministration, aus der 1949 die Sowjetische Kontrollkommission | |
hervorging. | |
Beim [2][Volksaufstand am 17. Juni 1953] fand hier die DDR-Regierung | |
Zuflucht und Generäle schickten Panzer retour. Es ist zwiespältig, dass | |
neben dem Museum ein T-34 thront. Später residierte in Sichtweite die | |
weltgrößte KGB-Auslandsvertretung. 1967 wurde das Historische Museum der | |
Sowjetarmee mit der Ehrentafel für gefallene Sowjetsoldaten, dem Diorama | |
„Sturm auf den Reichstag“ und dem Kabinett von Georgi Schukow, dem Befreier | |
von Berlin, eröffnet. Zum 30. „Jahrestag des Sieges“ verlebte 1975 Erich | |
Honecker und das SED-Politbüro hier „bewegende Stunden“, berichtete das | |
Neue Deutschland. | |
Auch deswegen fremdelt mancher. Aber die Geschichte geht weiter. Einmalig | |
in der deutschen Erinnerungslandschaft ist das Museum seit 1994 in | |
deutsch-russischer Trägerschaft. Als institutionelle Mitglieder im | |
Trägerverein kamen später die Weltkriegsmuseen in Minsk und Kiew hinzu. Der | |
Großteil der Exponate sind russische Leihgaben. | |
## Kein Geld aus Moskau | |
Die Dauerausstellung erzählt vom Überfall auf die Sowjetunion, von | |
Besatzung und Widerstand. Ausführlich werden die amerikanischen Hilfen an | |
die Sowjetunion thematisiert, weniger prominent, aber deutlich sichtbar, | |
der Hitler-Stalin-Pakt samt geheimem Zusatzprotokoll über die Aufteilung | |
Ostmitteleuropas. | |
Geld gibt es aus Moskau keins. Die Finanzierung läuft über den Etat von | |
Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Einmal hat Grütters bisher das | |
Museum besucht – als Einzige aus der Bundesregierung. Das Haus hat in | |
Russland einen höheren Stellenwert, es ist Teil russischer | |
Geschichtspolitik, die Wladimir Putin aktiv betreibt. Gelegentlich führt | |
das zur Schräglage. Als im Jahr 2013 der Vorsitzende der russischen | |
Staatsduma, vergleichbar mit dem Bundestagspräsidenten, Karlshorst | |
besuchte, war der ranghöchste Deutsche Jörg Morré. | |
Warum Deutschland die Chance nicht nutzt, die der Ort bietet? Morré habe | |
nach Ansprechpartnern gesucht, unter anderem im Auswärtigen Amt. Allerdings | |
ohne Reaktion. Dass es anders geht, haben Putin und Donald Trump gerade | |
bewiesen. In einer Erklärung vom 25. April erinnern beide an das Treffen | |
sowjetischer und amerikanischer Soldaten bei Torgau und beschwören den | |
„Geist der Elbe“, der weiterhin für Vertrauen und Zusammenarbeit stehe. Die | |
Initiative hätte auch von Deutschland ausgehen können. | |
Seit der [3][Annexion der Krim] wird Morrés diplomatisches Geschick noch | |
stärker getestet. Der „Toast auf den Frieden“, alljährlich Höhepunkt des | |
Museumsfestes am 8. Mai, bei dem Vertreter der Westalliierten und die | |
Botschafter Russlands, der Ukraine und Weißrusslands anstoßen, sei ihm 2014 | |
entglitten, räumt er ein. | |
## Geschichte und aktuelle Politik | |
Der ukrainische Botschafter blieb fern und Moskaus Vertreter nutzte die | |
Gelegenheit, die russische Politik zu erklären. Die Verstimmung hielt an, | |
auch weil der ukrainische Botschafter 2015 erneut absagte. Im Jahr darauf | |
war dann der russische Vertreter so über ein Grußwort aus Kiew erbost, dass | |
er den Saal verließ. Morré begrub das Format, den Toast sprechen seitdem | |
Vertreter der Zivilgesellschaft aus Russland, der Ukraine, Weißrussland und | |
Deutschland, die mit Familiengeschichten und eigenen Erlebnissen dem Abend | |
einen entspannteren Rahmen geben. | |
In diesem Jahr hat Morré das Fest schweren Herzens abgesagt. Die | |
Sonderausstellung [4][„Von Casablanca nach Karlshorst“] ist zumindest | |
virtuell begehbar. Sie beschreibt den Weg der Alliierten von Casablanca, wo | |
sie im Januar 1943 erstmals die bedingungslose Kapitulation als Ziel | |
festlegten, nach Karlshorst, wo es am 8. Mai 1945 für Europa Wirklichkeit | |
wurde. Schwerpunkte sind „Endphasenverbrechen“, ein Begriff, der relativ | |
neu sei, sagt Kuratorin Julia Franke. Er umfasse NS-Verbrechen, die beim | |
Rückzug, bei der Räumung von KZs und an der eigenen Bevölkerung verübt | |
wurden. | |
Ende 2018 habe sie mit der Planung begonnen, erzählt Franke, dem Jahr, als | |
[5][Alexander Gauland die Nazizeit als „Vogelschiss“ bagatellisierte]. Umso | |
wichtiger sei es, daran zu erinnern, dass Deutschland einen Krieg begann, | |
der die Welt erfasste. Und noch etwas ist ihr wichtig: In einer Zeit, in | |
der Multilateralismus auf dem Rückzug ist, lässt sich an der | |
Anti-Hitler-Koalition zeigen, dass Zusammenarbeit auch über Systemgrenzen | |
hinweg möglich ist, um eine gemeinsame Bedrohung zu bekämpfen. In Zeiten | |
von Corona und Klimawandel ein Wink, dass man in allem Vergangenen auch | |
Gegenwärtiges finden kann. | |
6 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Ende-des-Zweiten-Weltkriegs-am-2-Mai/!5679474 | |
[2] /Volksaufstand-vom-17-Juni-1953/!5065169 | |
[3] /Russland-Sanktionen/!5673479 | |
[4] https://www.museum-karlshorst.de/index.php?id=7 | |
[5] /Gaulands-Relativierung-der-NS-Zeit/!5510144 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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