# taz.de -- Volksaufstand vom 17. Juni 1953: „Der Stalin-Kopf fiel aus dem Fe… | |
> Akademiepräsident Klaus Staeck erlebte als Schüler den 17. Juni 1953 in | |
> der Industriestadt Bitterfeld. Ein Besuch in seiner alten Heimat. | |
Bild: Akademiepräsident Klaus Staeck vor dem Bitterfelder Rathaus, vor sechzig… | |
Als der ICE aus dem Bahnhof hinausrollt, schaut Klaus Staeck verwundert dem | |
Zug hinterher. „Sind wir wirklich die Einzigen, die ausgestiegen sind?“ | |
Einer der Imbissautomaten ist zerschlagen, auf Abstellgleisen parken | |
Kesselwagen. „Bitterfeld“ zeigt das Schild, die Wolken versprechen Regen, | |
Wind zaust an den Haaren. Heimelig ist die Begrüßung nicht. Wie auch? Der | |
17. Juni 1953 hat Klaus Staeck aus Bitterfeld fortgetrieben. Der 17. Juni | |
führt ihn wieder zurück. | |
Klaus Staeck, Grafiker, Jurist, Sozialdemokrat, für Konservative ein | |
„Hetzplakate-Grafiker“, bis 1989 eine westdeutsche Instanz, heute Präsident | |
der Berliner Akademie der Künste – Klaus Staeck, 75 Jahre alt, beginnt den | |
Rundgang durch sein früheres Leben. Kollegmappe in der Hand, Lederjacke, | |
roter Schal, sein Gang wirkt zielstrebig. Staeck ist kein Zauderer. Oder | |
zögert er? | |
Dieser Ausflug habe ihn schon Tage beschäftigt, gibt er zu. Staeck hat | |
schon im Zug viel geredet, Familiengeschichte, die Schlote, drinnen die | |
weißen Tischtücher, draußen die Aschehäuflein. Die Großmutter prophezeit, | |
aus dem Klaus wird mal was Besonderes. – Was Besonderes? Was ist das?, | |
fragt Klaus. Ein Verbrecher ist doch auch was Besonderes? Nein, das nicht. | |
Staeck läuft, redet, erzählt, als wollte er die fehlenden Menschen hier | |
ersetzen. | |
Staeck geht über die Lindenstraße, bleibt vor einem grauen, | |
zweigeschossigen Bau stehen. In der Nummer 32 hatte die Stasi ihre | |
Kreisdienststelle. Staeck ist ein Oberschüler, als die DDR, der „erste | |
Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden“, im Juni 1953 zu wanken | |
beginnt. Die Mutter betreibt einen Kunstgewerbeladen, ist nach | |
SED-Ideologie Angehörige einer aussterbenden Klasse; zwei Brüder, der Vater | |
ist im Westen. Die Staecks sind eine zerrissene Familie. | |
## Gerüchte vom Folterkeller | |
Am Nachmittag des 17. Juni 1953 steht der 15-jährige Klaus, ein | |
schmächtiger Typ, vor der demolierten Stasizentrale. Gerüchte von einem | |
Folterkeller machen die Runde, von Gefangenen, die im Wasser stehen müssen. | |
Als Staeck ankommt, ist das Haus schon wieder verschlossen, der Aufstand | |
weitgehend zusammengebrochen. | |
Der Morgen begann hoffnungsvoll. Da waren die streikenden Arbeiter aus den | |
Chemiebetrieben jenseits der Gleise in die Stadt geströmt. Vorbei an der | |
Comenius-Schule, einem gelben Klinkerbau, eingeseift vom Ruß, den keiner | |
mehr braucht. Seit 2010 steht er leer. | |
„Hier bin ich in die Grundschule gegangen.“ Staeck lugt über das Tor. | |
Hinter dem Schulhof erhebt sich eine weit gespannte Straßenbrücke. „Das ist | |
der Überbau“, sagt Staeck. Eine Eisenbahnüberführung, wie über eine Schan… | |
marschieren hier am 17. Juni 1953 Abertausende Arbeiter vorbei. Lehrer | |
Wilhelm Fiebelkorn steht auf dem Schulhof. | |
„Die Leute kamen in ihren Kluften, untergehakt, aus dem Grafitwerk“ erzählt | |
Staeck. Der 36-jährige Fiebelkorn ringt kurz mit sich. „Machen wir mit?“, | |
fragt er seine umstehenden Kollegen. Die zögern. Lehrer Fiebelkorn läuft | |
los. „Ich bin auch einer von euch!“, ruft er. | |
## "Bitterfeld ist meine Heimat" | |
Heute kommen über die Brücke Autos wie Geschosse, kein Fußgänger weit und | |
breit. Staeck will noch nicht weiter, steht an einer Litfasssäule, auf der | |
eine Erotikmesse um Besucher wirbt. Staeck ordnet die Erinnerungen. „Da | |
hinten war die Brauerei.“ Es gibt schönere Ecken, selbst in Bitterfeld. Da | |
sagt Staeck: „Bitterfeld ist meine Heimat“, überlegt kurz und ergänzt: | |
„Heidelberg ist meine zweite Heimat.“ Eigentlich ist es noch zu früh für | |
solch ein Bekenntnis, so kurz nach der Ankunft, doch bei Klaus Staeck, in | |
der Kollegmappe eine Rolle Kekse, die Mitteldeutsche Zeitung und eine | |
Flasche Apfelschorle, haben Herz und Kopf schon zusammengefunden. | |
Staeck erzählt vom Rossschlächter, vom Zierfischhandel, der ersten Liebe. | |
Die Oberschule kommt in Sicht. Schön war das nicht, sagt Staeck. Der Junge | |
hatte ein Stigma, er war kein Arbeiterkind, falsche Klassenzugehörigkeit, | |
die Therapie: Staeck muss die doppelte Leistung erbringen. | |
Ein gelber Klinkerbau, ein Zwilling der Comenius-Schule, aber lebendig, | |
leuchtend gelb und geleckt. Klaus Staeck blickt über den Zaun. „Da, wo das | |
schöne Hochbeet ist, da waren früher die Fahnenappelle.“ Doch was machen | |
die Sonnenschirme hier? „Hallo, wissen Sie, was hier drin ist?“ Staeck geht | |
auf ein Rentnerpaar zu. Er, mit elegantem Filzhut, hält ihre Hand, sie | |
trägt ein Lächeln im Gesicht. | |
„Das war die Diesterwegschule“, sagt der Mann. „Jetzt ist da eine | |
Pflegeheim drin.“ – „Ein Pflegeheim? Ich bin hier früher in die Schule | |
gegangen.“ Kopfnicken. „Und, sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben?“, fragt | |
der Herr vorsichtig. „Ja, aus mir ist was Besonderes geworden“, antwortet | |
Staeck. Der Alte mustert den Besucher von unten bis oben. „Ja, Sie sind was | |
geworden“, bestätigt er und weiß doch nicht, wen er vor sich hat. „So, | |
einen schönen Tag noch!“ Sie ziehen weiter, einander die Hände haltend. | |
Am 17. Juni ist Staeck im Unterricht, als sich hundert, zweihundert Meter | |
von hier die Arbeiter versammeln. Es sind 30.000, vielleicht 50.000 | |
Menschen. Lautsprecherlärm, Wortfetzen dringen herüber. „Irgendjemand sagte | |
plötzlich: ’Draußen wird gestreikt!‘ “ Der Lehrer springt zu Tür und d… | |
die Klinke fest nach oben. Aus Angst? Überzeugung? „Ach, das weiß man in | |
solchen Momenten nicht“, sagt Staeck. Die Schüler reißen die Fenster auf | |
und springen aus dem Hochparterre hinaus, Staeck mittendrin. Es geht über | |
eine Mauer zur Binnengärtenwiese nebenan. | |
## Ein Telegramm nach Ostberlin | |
Ein Traktoranhänger ist die Bühne. Oben steht der Lehrer Wilhelm Fiebelkorn | |
und verliest ein Telegramm an die DDR-Regierung: „Die Werktätigen des | |
Kreises Bitterfeld fordern“, dann folgen zehn Punkte, darunter der | |
sofortige Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, Zulassung von Parteien und | |
die Freilassung aller politischen Gefangenen. Die Forderungen werden per | |
Akklamation angenommen. | |
„Hier war das ein richtiger Arbeiteraufstand“, bekräftigt Staeck. Zwei | |
Männer fallen auf. Wilhelm Fiebelkorn und der 47-jährige Elektriker Paul | |
Othma, keine Propagandisten, keine Einpeitscher, einfache Leute, wie alle | |
auf dem Platz. „Wenn die das machen, kann das doch nichts Falsches sein?“, | |
beschreibt Staeck die Atmosphäre. | |
Die Binnengärtenwiese, heute halb Park, halb Wiese, ist wie leer gefegt. | |
Ein Findling steht am Rand, auf Kies gebettet, Bronzeplatte obenauf. „Den | |
Teilnehmern, Verfolgten und Opfern des Aufstandes vom 17. Juni 1953“. Fast | |
wie ein Grabstein. Oder wie ein Pult. Klaus Staeck ist hinter den Stein | |
getreten und stützt die Hände ab. „Der 17. Juni!“ Er blickt über den Pla… | |
„Der Tag hat mein Leben bestimmt.“ | |
Es könnte das schöne Ende einer Reise sein, da kommt ein Mann gelaufen, als | |
suchte er Streit. Kurz vor Staeck bleibt er stehen und bellt los: „Das | |
waren Feichlinge, die haben randaliert und sind dann in den Westen | |
abjehauen!“ Ihn selbst haben diese Verrückten am Pionierhalstuch gezerrt, | |
dass er fast erstickt wäre. | |
Der Mund bebt, die Lippen sind bläulich, der Stoffbeutel pendelt. | |
„Feichlinge waren das!“, beharrt er. Er scheint lange auf so einen wie | |
Staeck gewartet zu haben. „Das waren keine Helden!“ 33 Jahre habe er in der | |
Ferrohütte gearbeitet, wo kein anderer hinwollte. Zum Schluss waren | |
Strafgefangene seine Kollegen. Staeck greift das Thema auf, versucht zu | |
beruhigen. Da bellt der Mann aufs Neue: „Feichlinge waren das! Die | |
hiergeblieben sind, die haben Mut bewiesen!“ | |
## Die Russen riefen: Faschist! Faschist! | |
Als am 17. Juni die Kundgebung zu Ende ist, beobachtet Staeck vom Balkon | |
eines Freundes, was sich vor dem Gefängnis abspielt. „Ich werde nie | |
vergessen, dass man einen Lkw so schaukeln kann, dass er umfällt, mitsamt | |
Besatzung.“ Die politischen Gefangenen kommen frei. | |
Das Streikkomitee hat unterdessen den Bürgermeister davongejagt und das | |
Rathaus besetzt. Fiebelkorn ist Sprecher, Othma Erster Vorsitzende des | |
Komitees. Doch in Berlin ist bereits der Ausnahmezustand ausgerufen, | |
sowjetische Truppen rücken aus. Klaus Staeck läuft mit Freunden durch die | |
Stadt, vorbei am Laden seiner Mutter. Heute ist dort eine Baulücke. „Hier | |
an der Ecke haben wir die ersten Russen gesehen.“ Gepanzerte Fahrzeuge | |
biegen in Richtung Rathaus ab, der Oberschüler Staeck kramt sein Russisch | |
zusammen. „Wir versuchten, denen zu sagen, dass das einfache Arbeiter sind. | |
Die riefen aber immer nur: Faschist! Faschist!“ | |
Klaus Staeck will nach Hause, vorbei an der SED-Kreisleitung, die gerade | |
demoliert wird. „Da fiel der Stalinkopf aus dem Fenster.“ Dann wurde | |
geschossen. „Keine Ahnung, ob scharf oder nicht. Ich bin das erste Mal in | |
meinem Leben um mein Leben gerannt.“ Es klingt wie Krieg. | |
Unweit der Stasizentrale liegt heute das Restaurant Mykonos. Staeck geht | |
hinein, der Kellner bringt Ouzo. Zwei Karteikarten liegen auf dem Tisch, | |
Notizen für den Tag. Er prüft, ob er nichts vergessen hat, liest laut den | |
letzten Eintrag: „17 Uhr, alles vorbei.“ | |
Staecks Klasse versammelt sich am nächsten Morgen auf dem Schulhof. „Was | |
macht ihr da?“, fragen Frauen im Vorbeigehen. „Wir streiken!“ – „Ihr … | |
doch gar nicht streiken“, kommt als Antwort, „wir Hausfrauen können doch | |
auch nicht streiken.“ 36 Jahre später beginnt der nächste Aufstand. | |
Bitterfeld und seine Arbeiter werden kein Brennpunkt mehr sein. | |
Wilhelm Fiebelkorn kann sich nach Westberlin flüchten, Paul Othma wird zu | |
zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. 1956 verlässt Klaus Staeck die DDR. | |
17 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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