# taz.de -- Ende des Zweiten Weltkriegs am 2. Mai: Sieg über Fanatismus und F… | |
> An den Wänden stehen Durchhalteparolen. Die Berliner suchen Schutz in | |
> U-Bahnhöfen. Am 2. Mai 1945 erobert die Rote Armee die Hauptstadt | |
> Nazideutschlands. | |
Bild: Sowjetsoldaten ziehen am 1. Mai 1945 durch Berlin. Aus den Fenstern hä… | |
In den frühen Morgenstunden des 2. Mai 1945 hängt eine dichte Staubwolke | |
tief über der Stadt. Sie schimmert bald orangefarben, bald zitronengelb. | |
„Wie eine Staubwolke in der Sahara, wenn der Schirokko weht“, erinnert sich | |
Johannes Hentschel. Seine Augen beginnen zu tränen, der Sand knirscht | |
zwischen den Zähnen. Seit Tagen haben sich Qualm und Staub über dem | |
Stadtinnern ausgebreitet, aus den Trümmerlandschaften Berlins in die Luft | |
gewirbelt. So dicht, dass selbst mittags das Sonnenlicht kaum mehr | |
durchdringt. | |
Um die Reichskanzlei herum ist es ruhig an diesem Morgen. Hentschel hört | |
Gefechtslärm nur aus der Ferne. Noch ist die „Zitadelle“, wie der innerste | |
Verteidigungsbereich rund um die Reichskanzlei im Regierungsviertel genannt | |
wird, nicht von der Roten Armee erobert. „Es krachte von Zeit zu Zeit. | |
Gewehrfeuer, gelegentlich Granatwerfer, ab und zu eine Leuchtrakete oder | |
der Schein einer Leuchtpistole. Aber keine schweren Geschütze. Keine | |
Stalinorgeln, keine rumpelnden Panzer. Keine Flugzeuge. Dauernd flogen | |
Stockenten in geschlossener Formation vorüber, wie Messerschmitts.“ | |
In der Nacht hatte eine große Gruppe von Leuten aus dem inneren Zirkel der | |
Naziführung unter Leitung von SS-Brigadeführer Wilhelm Mohnke den | |
Führerbunker verlassen und den Ausbruch gewagt. Es sind zwanzig Männer und | |
vier Frauen. Mohnke führte unter anderem die Sekretärinnen und die | |
Diatköchin Hitlers durch U-Bahnschächte Richtung Norden. Doch dann werden | |
sie gestoppt. „Auf die Russen waren wir gefasst; auf die BVG allerdings | |
nicht“, erzählt Mohnke im Sommer 1974 den Journalisten Uwe Bahnsen und | |
James P. O’Donnell. Hundert Meter vom Bahnsteigende des U-Bahnhofs | |
Friedrichstraße entfernt, stößt die Gruppe auf ein eisernes Schott, das von | |
zwei Männern der Berliner Verkehrsbetriebe bewacht wird. Die Forderung | |
Mohnkes, das Schott zu öffnen, lehnen sie ab. | |
„Mit großem Pflichteifer erklärten sie uns, das Schott werde jeden Abend, | |
nachdem der letzte Zug durchgefahren sei, geschlossen, um den Tunnel vor | |
Wassereinbrüchen aus Bomben- und Granatenlöchern in der Decke zu sichern – | |
wir befanden uns direkt unter der Spree. Zwar sei der Zugbetrieb | |
eingestellt, aber sie hätten eben ihre Anweisungen, denen sie folgen | |
müssten.“ Mohnke dreht um. | |
Cheftechniker Hentschel ist der letzte Mensch, der den Führerbunker an | |
diesem Morgen verlässt. Auch er hat seine Erinnerungen den beiden | |
Journalisten aufs Band gesprochen. Man kann darüber rätseln, was Hentschel | |
dazu gebracht hat, den Flug von Enten mit dem von deutschen Jägern zu | |
vergleichen, als er sich knapp dreißig Jahre später an diesen Morgen | |
erinnerte. Auf einem vor dem Krieg gedruckten Werbeplakat hatte es | |
geheißen, die Messerschmitt-Jäger und -Zerstörer der Bayerischen | |
Flugzeugwerke „siegen und schützen Deutschland“. Die in großer Zahl | |
produzierten Messerschmitts waren eine von den alliierten Piloten | |
gefürchtete Waffe. Eine Zeit lang sah es so aus, als würden die | |
Messerschmitts den Kampf um England für sich entscheiden. | |
Die deutsche Luftwaffe hat aber inzwischen längst die Lufthoheit auch über | |
Berlin verloren. Es fliegen keine Messerschmitts mehr oben im Himmel, nur | |
noch Enten. Cheftechniker Hentschel hat entweder aus alter Gewohnheit in | |
der cool-militaristischen Diktion der Nazijahre diesen Vergleich gewählt – | |
oder er war sich der Ironie seiner Metapher bewusst. Zum ersten Mal hatten | |
die Sirenen die Berliner am 1. September 1939 vor Luftangriffen gewarnt. | |
Seit 1943 griffen die Bomber regelmäßig an. Tagsüber waren es die Flugzeuge | |
der United States Army Air Force, nachts die Maschinen des Bomber Command | |
der Royal Air Force. Viele Nächte verbrachten die Berliner seitdem in | |
Luftschutzkellern. | |
Seit dem 20. April, als Hitler im Führerbunker zum letzten Mal Geburtstag | |
feiert, wird die Berliner Innenstadt von sowjetischer Artillerie | |
beschossen. Gegen 12 Uhr mittags heulen die Sirenen Panzeralarm. Am | |
nächsten Morgen fliegen amerikanische Luftwaffenverbände den letzten | |
strategischen Bombenangriff auf Berlin. Zwei Tage später fährt auch die | |
letzte U-Bahn-Linie nicht mehr. | |
Am Vormittag des 2. Mai 1945, einige Stunden nach dem Flug der | |
Entenformationen über die verlassene Reichskanzlei, ordnet General Helmuth | |
Weidling die sofortige Einstellung jeglichen Widerstands an. Weidling hat | |
den Tod des „Führers“ abgewartet, der ihn vor wenigen Wochen aufgrund eines | |
Missverständnisses erst zum Tod verurteilt, dann zum Befehlshaber des | |
Verteidigungsbereichs von Berlin ernannt hat. Seinen Kapitulationsbefehl | |
leitet Weidling mit der Nachricht vom Verrat Hitlers ein: „Am 30. April hat | |
sich der Führer selbst entleibt und damit uns, die wir ihm die Treue | |
geschworen hatten, im Stich gelassen. Jede Stunde, die ihr weiterkämpft, | |
verlängert die entsetzlichen Leiden der Zivilbevölkerung Berlins und | |
unserer Verwundeten. Im Einvernehmen mit dem Oberkommando der sowjetischen | |
Truppen fordere ich euch auf, sofort den Kampf einzustellen.“ | |
## 800 Sowjetpanzer zerstört | |
Für viele zeitgenössische Beobachter ist an diesem Tag der Zweite Weltkrieg | |
in Europa vorbei, auch wenn vereinzelt in Berlin noch bis zum 4. Mai | |
gekämpft wird und das Deutsche Reich erst am 8. Mai kapituliert. Die Rote | |
Armee hatte die Reichshauptstadt in relativ kurzer Zeit eingenommen. Die | |
Führungsriege des nationalsozialistischen Deutschland war tot oder aus der | |
Stadt geflohen. | |
Stefan Doernberg zweifelt nicht daran, dass der Krieg in diesen Stunden zu | |
Ende geht. 21 Jahre alt ist der Leutnant der Roten Armee am 2. Mai 1945. | |
Zehn Jahre zuvor hat er Berlin verlassen, weil sein Vater Jude und | |
Kommunist war. Jetzt fährt Doernberg zusammen mit dem Adjutanten von | |
General Weidling im Lautsprecherwagen durch die Straßen Berlins und liest | |
dessen Befehl vor. Kurz zuvor hat Stefan Doernberg diesen selbst mit einer | |
Schreibmaschine abgetippt und sich über die merkwürdige Ausdrucksweise des | |
Generals gewundert. Als Doernberg durch die Straßen der durch die | |
Häuserkämpfe noch stärker als zuvor zerstörten Stadt fährt, beginnt die | |
Nachkriegszeit. | |
Die von der NS-Propaganda bis zuletzt proklamierte große „Schlacht um | |
Berlin“ hat nicht stattgefunden, meinten Bahnsen und O’Donnell dreißig | |
Jahre später. „Die ausgebluteten deutschen Kampftruppen, die unerfahrenen | |
Volkssturm- und Alarmeinheiten, schlecht bewaffnet und munitioniert, waren | |
überhaupt nicht in der Lage, den Eliteverbänden Marschall Schukows eine | |
Schlacht zu liefern.“ Trotzdem starben schätzungsweise Hunderttausend auf | |
beiden Seiten im Häuserkampf; 800 Panzer soll die Rote Armee bei der | |
Eroberung Berlins eingebüßt haben. Stalin trieb seine Generäle an. Er | |
wollte den schnellen Erfolg, um den 1. Mai auch als Sieg über | |
Nazideutschland feiern zu können. | |
Der Befehl zu Verteidigung Berlins hatte diese Schlacht vorab als ein | |
Heldenstück beschrieben, in dem eine spezifisch deutsche Mischung aus | |
„Fanatismus und Fantasie“ am Ende siegen würde. Der „Kampf um Berlin“ … | |
nicht in offener Feldschlacht ausgetragen, sondern ein Straßen- und | |
Häuserkampf werden, kündigte der „Grundsätzliche Befehl für die | |
Vorbereitung zur Verteidigung der Reichshauptstadt“ vom 9. März an. | |
Der Kampf müsse „mit Fanatismus, Fantasie, mit allen Mitteln der Täuschung, | |
der List und Hinterlist, mit vorbereiteten und aus der Not des Augenblicks | |
geborenen Aushilfen aller Art auf, über und unter der Erde geführt werden.“ | |
Dem Feind dürfe keine Minute Ruhe gegönnt werden, „er muss sich in dem | |
engmaschigen Netz der Widerstandsnester, Stützpunkte und | |
Verteidigungsblocks verzehren und verbluten“. Verlorenes Terrain müsse | |
sofort wieder erobert werden. „Voraussetzung für eine erfolgreiche | |
Verteidigung Berlins ist jedoch, dass jeder Häuserblock, jedes Haus, jedes | |
Stockwerk, jede Hecke, jeder Granattrichter bis zum Äußersten verteidigt | |
wird!“ Dieser Befehl bleibt bis zu Weidlings Kapitulation in Kraft. Die | |
Klügeren unter den Verteidigern Berlins, unter denen sich einige Tausend | |
Mann des „Volkssturms“, Kinder, Jugendliche, ältere Männer befinden, halt… | |
sich nicht daran. | |
Am 22. April erscheint die erste von acht Ausgaben der Zeitung Der | |
Panzerbär. So heißt das jeweils vier Seiten starke „Kampfblatt für die | |
Verteidiger Groß-Berlins“. Die Titelzeile an diesem Tag lautet: „Adolf | |
Hitler: Berlin bleibt deutsch!“ Sieben Tage später, in der letzten Ausgabe, | |
heißt es unter der Überschrift „Heroisches Ringen“, „bei Tag und Nacht�… | |
würden „neue Eingreifkräfte herangeführt“. | |
Aus dem Führerhauptquartier gibt das Oberkommando der Wehrmacht bekannt: | |
„In dem heroischen Kampf der Stadt Berlin kommt noch einmal vor aller Welt | |
der Schicksalskampf des deutschen Volkes gegen den Bolschewismus zum | |
Ausdruck.“ Es wird aber auch gemeldet, dass im inneren Verteidigungsring | |
der Feind vom Norden her in Charlottenburg und von Süden her über das | |
Tempelhofer Feld eingedrungen sei. „Am Halleschen Tor und am Alexanderplatz | |
hat der Kampf um den Stadtkern begonnen.“ Die Berliner werden außerdem | |
darüber informiert, dass die Alliierten die Donau überquert haben: „An der | |
Donau brach der Feind in Regensburg und Ingolstadt ein. Zwischen Dillingen | |
und Ulm setzten die Amerikaner ihren Vorstoß nach Süden fort.“ | |
## Ein fernes, aber ein reales Ziel | |
Ein Kommentar erklärt den Panzerbär-Lesern unter der Überschrift „Der | |
längere Atem“, dass man zwar den Krieg verloren habe, aber trotzdem nicht | |
aufgeben solle: „Zu verlieren haben wir nichts mehr. Wir haben alles | |
verloren und würden durch Kapitulation uns selbst, unsere Zukunft, Frau und | |
Kind preisgeben. Wohl aber haben wir die Chance, uns zu behaupten und einst | |
dann Existenz, Familienleben und unseren sozialen Staat wieder aufzubauen, | |
in dem wir einen noch größeren Wohlstand erreichen werden, als wir ihn vor | |
diesem Krieg bereits genießen konnten. Das ist ein fernes, aber ein reales | |
Ziel.“ | |
Das kann man als Programm für die Nachkriegszeit lesen, an dem [1][sich | |
viele Nationalsozialisten erfolgreich orientierten]. Das sogenannte | |
Wirtschaftswunder, unter anderem durch die Arbeit von Millionen von | |
Zwangsarbeitern vorbereitet, gibt ihnen recht. Ein halbe Million Menschen | |
musste während des Kriegs Zwangsarbeit in Berlin leisten. Am Ende des | |
Kriegs befinden sich immer noch viele in der Stadt. | |
Warum wird überhaupt in der Stadt gekämpft? Weil sich die Befehlshaber der | |
Wehrmacht nicht gegen ihren Oberbefehlshaber Hitler durchsetzen können. | |
Generaloberst Heinrici von der Heeresgruppe Weichsel, die eine Front 70 | |
Kilometer östlich von Berlin halten soll, wird am 19. April die Stadt | |
unterstellt. „Heinrici, der eine Schlacht in Berlin unter allen Umständen | |
vermeiden wollte, versuchte nun, die in der Stadt noch verfügbaren, | |
kampfkräftigen Truppen aus dem Verteidigungsbereich herauszubringen und in | |
die östlichen Schutzstellungen zu verlegen. Das gelang ihm aber nur zu | |
einem Teil“, schreiben Bahnsen und O’Donnell. Am 22. April, dem Tag, als | |
die erste Panzerbär-Ausgabe erscheint, wird die Verteidigung Berlins dem | |
Befehl Hitlers unterstellt. | |
Im Tagebuch des Ordonnanzoffiziers Walter Kroemer von der Panzerdivision | |
Müncheberg heißt es am 25. April: „Die Division baut am Alex wieder ab. | |
Rückmarsch unter Fliegerangriffen zum Halleschen Tor. Schwere Verluste. An | |
den Häuserwänden Aufschriften: ‚Die Stunde vor Sonnenaufgang ist die | |
dunkelste Stunde‘ und ‚Wir gehen zurück, aber wir siegen‘.“ | |
Einen Tag später haben sowjetische Truppen der 1. Belorussischen Front | |
unter Marschall Schukow und der 1. Ukrainischen Front unter Marschall | |
Konjew die Stadt vollständig eingeschlossen. Der Bericht des Oberkommandos | |
der Wehrmacht meldet: „Im Südteil der Reichshauptstadt toben schwere | |
Straßenkämpfe in Zehlendorf, Steglitz und am Südrand des Tempelhofer | |
Feldes. Im Osten und Norden leisten unsere Truppen, tapfer unterstützt von | |
Einheiten der Hitlerjugend, der Partei und des Volkssturms, am Schlesischen | |
und Görlitzer Bahnhof sowie zwischen Tegel und Siemensstadt erbitterten | |
Widerstand. Auch in Charlottenburg ist der Kampf entbrannt.“ | |
## Nein, der war es nicht | |
In Zehlendorf wird Diplomlandwirt Georg Schulze am selben Tag von den | |
Sowjets zum Bezirksbürgermeister ernannt und mit der Wiedererrichtung der | |
Verwaltung beauftragt. Da die Soldaten der Roten Armee viele Uhren rauben, | |
wird im Bezirk Zehlendorf nun täglich morgens um 8 Uhr die Kirchenglocke | |
geläutet. Sie gibt auch das Ende der anfangs auf die Zeit von 18 bis 8 Uhr | |
festgesetzten nächtlichen Ausgangssperre an. Während in der Stadtmitte noch | |
gekämpft wird und Zehntausende von Berlinern in Kellern, Bunkern und unter | |
anderem in den beiden unterirdischen Bahnhöfen am Potsdamer Platz Schutz | |
gesucht haben, verteilen anderswo bereits Sowjetsoldaten Brot an die | |
Bevölkerung. | |
Soldaten der Roten Armee vergewaltigen vor und nach dem 2. Mai viele | |
Berlinerinnen. Leonard Buchow, 1925 geboren, damals Panzersoldat der Roten | |
Armee, erinnerte sich später: „Es war sicher so, dass es zu | |
Vergewaltigungen kam. Noch vor dem Überqueren der Oder wurde uns ein Befehl | |
Schukows vorgelesen, in dem es hieß, mit Zivilisten muss man human umgehen. | |
Auf Vergewaltigungen und Plünderungen stand die Erschießung. Ich hatte | |
immer Mitleid mit Frauen, die geschändet wurden: mit Russinnen, Polinnen, | |
Jüdinnen und anderen. Diese unglücklichen Frauen hatten die Misshandlungen | |
der Besatzer zu ertragen. Ihr Schmerz und ihre Scham machen es notwendig, | |
dass man das nicht vergisst.“ | |
Hertha von Gebhardt berichtet in ihrem Tagebuch, das sich im Landesarchiv | |
Berlin befindet, von einer Vergewaltigung. Ein sowjetischer Soldat hat Frau | |
K. mitgenommen. „Jemand ist zur nahen Kommandatur gelaufen und hat | |
Beschwerde geführt. Ein Offizier kommt, erwischt den Mann, der eben Frau K. | |
zurückgebracht hat, fragt sie: War es der? Der Mann ist zu Tode | |
erschrocken, er weiß, es kann nunmehr ihn das Leben kosten. Frau K., ohne | |
mit der Wimper zu zucken, sagt: Nein, der war es nicht. – Er hat vielleicht | |
auch Frau und Kind zu Hause, meint sie nachher, soll ich ihn da ums Leben | |
bringen?“ | |
## Anna hisst die Rote Fahne | |
Am 30. April werden auf dem Reichstag Rote Fahnen gehisst, eine davon von | |
Anna Wladimirowa Nikulina. Die Majorin hat gehört, dass die Deutschen die | |
Federn für ihre Betten in rote Bezüge füllen. Auf ihre Weisung wird roter | |
Stoff requiriert, die Federn sind den Eigentümern zurückzugeben. Sie hisst | |
ihre rote Fahne auf dem Dach des Reichstags, während im Keller noch | |
gekämpft wird. Den internationalen Kampftag der Arbeiterklasse und den Sieg | |
gegen den Nationalsozialismus feiern Soldaten der Roten Armee tags darauf | |
auf dem Wörther Platz, der ab 1947 Kollwitzplatz heißt. | |
Aber nicht nur dort und nicht nur an diesem Tag wird der Sieg gefeiert: „Im | |
Park wurden Tische aufgestellt, mit einem Eimer wurde Wein aus der Kellerei | |
einer Weinfabrik geholt, die in der Brunnenstraße lag“, erinnerte sich | |
Leonard Buchow. „Diese Kellerei hatten wir schon drei Tage zuvor entdeckt, | |
als wir eine Schlange Berliner mit Eimern sahen. In dem dunklen Keller | |
begegneten sich russische Soldaten und Deutsche. Aus den Riesenfässern | |
floss der Wein, die Menschen liefen knöchelhoch im Wein. Solche Beispiele | |
der ‚friedlichen Zusammenarbeit‘ gab es öfter.“ Hertha von Gebhardt schr… | |
dazu in ihr Tagebuch: „Die Plünderung der Geschäfte hat eingesetzt. Es | |
plündern keineswegs die Russen – vielleicht diese da und dort auch –, | |
sondern im wesentlichen die Volksgenossen.“ | |
Am 8. Mai wird im Standesamt von Charlottenburg die erste Ehe nach | |
Kriegsende geschlossen. Das Brautpaar hat wegen der rassistischen | |
Nürnberger Gesetze vorher nicht heiraten können. | |
## Verkehrsregeln beachten! | |
Am 4. Juli 1945 rücken die westlichen Alliierten als Besatzungsmächte in | |
Berlin ein, James O’Donnell ist als Journalist dabei. Zwei Wochen zuvor hat | |
die Polizei bei einer ihrer ersten großen Razzien gegen den schwarzen Markt | |
429 Personen verhaftet. Der Schlag trifft die Schwarzhändler in der Mulack- | |
und der Gormannstraße in Mitte. Ebenfalls im Juli dringt der | |
Polizeipräsident von Berlin in einer Bekanntmachung darauf, die | |
Verkehrsregeln zu beachten. Damit sind insbesondere Fußgänger und | |
Fahrradfahrer angesprochen, die mehrheitlich regellos die Fahrbahn | |
benutzen, wie es in der Chronik der Stadt heißt. | |
James Preston O’Donnell wurde am 30. Juli 1917 in Baltimore, Maryland | |
geboren. Er studierte in Harvard und begann als Journalist zu arbeiten. Als | |
die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, diente er im U.S. Army | |
Signal Corps, also bei den Fernmeldern. Wenige Wochen nach Kriegsende wurde | |
er aus dem Militärdienst entlassen und zum Chef des Deutschlandbüros von | |
Newsweek ernannt. | |
Der 4. Juli 1945 ist ein heißer, schwüler Tag. O’Donnell soll die Umstände | |
von Hitlers Tod erforschen und über das Schicksal von Eva Braun | |
recherchieren. Noch am Tag seiner Ankunft verschafft er sich Zugang zum | |
Führerbunker, indem er den beiden wachhabenden Sowjetsoldaten zwei | |
Schachteln Zigaretten zusteckt. „Mit Taschenlampen suchten wir den Weg | |
hinunter in den Führerbunker. Unten stand der Fußboden zum Teil unter | |
Wasser; Ratten huschten umher. An den Wänden und Decken sah man | |
Brandspuren. In den engen Zimmern und Gängen lagen überall noch Akten, | |
Dokumente, Formulare und andere Schriftstücke herum; dazwischen rostige | |
Pistolen, Bücher, Schallplatten, Flaschen, Gläser.“ | |
Als er aus dem Bunker wieder ans Tageslicht steigt, hat O’Donnell einen | |
Stapel Papiere unter dem Arm und ein Thema gefunden, das ihn bis ins Alter | |
nicht loslässt. Zusammen mit dem deutschen Journalisten Uwe Bahnsen, der | |
1934 in Hamburg geboren wurde, interviewt er viele der Überlebenden aus dem | |
Bunker in der Wilhelmstraße. Die beiden Journalisten fügen die Gespräche | |
mit der Entourage des Führers zu einem detaillierten Bild zusammen. Ihr | |
Buch „Die Katakombe. Das Ende in der Reichskanzlei“ erscheint 1975. | |
## Stadtbahn und Mauerfall | |
Vier Jahre später, im Januar 1979, veröffentlicht James O’Donnell in | |
Reader’s Digest einen Artikel über „Die Geisterzüge von Berlin“. Er wid… | |
sich darin der Geschichte der Berliner S-Bahn. 1870 begann der Bau, nur | |
zwölf Kilometer Strecke sollten anfangs entstehen. In den 1920ern sind auf | |
dem Schienennetz der Stadtbahn 700 elektrische Züge unterwegs, die an jedem | |
Werktag 1,7 Millionen Fahrgäste befördern. | |
Während des Zweiten Weltkriegs fährt die Stadtbahn scheinbar unaufhaltsam | |
weiter, bis die Rote Armee am 21. April 1945 das letzte intakte Kraftwerk | |
der Stadt besetzt. Jetzt werden die Tunnels von Stadt- und U-Bahn zu den | |
letzten Zufluchtsorten vieler Innenstadtbewohner, von denen manche über | |
Tage hinweg, in der Dunkelheit der Bahnhöfe auf Gleisen sitzend, ausharren. | |
Die „Gruppe Ulbricht“ ist im Windschatten der Roten Armee in Berlin | |
eingetroffen und nimmt bereits am 2. Mai 1945 ihre Tätigkeit auf. | |
Vier Jahre später hat im Osten Deutschlands die Sozialistische | |
Einheitspartei Deutschlands unter Walter Ulbricht das Sagen. Bald aber | |
wollen die Sowjets ihn wegen seiner nicht nur ideologisch, sondern objektiv | |
falschen Politik stürzen. Ulbricht, meint das Moskauer Politbüro, versteht | |
die Unterschiede zwischen Russland und dem ökonomisch weiterentwickelten | |
Deutschland nicht. Statt die vorhandenen gesellschaftliche Produktivkräfte | |
sich entfalten zu lassen, lässt Ulbricht kollektivieren und dekretieren. | |
Man hat schon beschlossen, dass Ulbricht abgesetzt werden soll, als ihm die | |
aufständischen Arbeiter von der Stalinallee ironischerweise zu Hilfe | |
kommen. Bis Ulbricht die Mauer bauen lässt, haben 2,6 Millionen Menschen | |
den antifaschistischen Staat der Arbeiter und Bauern verlassen. Mindestens | |
eine Million von ihnen sind mit der S-Bahn nach Westberlin geflohen, | |
schreibt James O’Donnell. | |
Seine Hommage an die Berliner Stadtbahn aus dem Jahr 1979 schließt der | |
Historiker und Journalist mit einer Vision: „Neulich träumte ich vom Ende | |
der Berliner Mauer. Es war im Jahr 1989. Überall erschienen Ost- und | |
Westberliner in hellen Scharen und rissen sie nieder. Schüler bepflanzten | |
die ganzen 165 Kilometer mit Linden und Eichen. Pfiffige Händler | |
schlängelten sich durch die fröhliche Menge und verkauften Steine zum | |
Andenken. Wie gelangten so viele Menschen so schnell an die Mauer? Mit der | |
S-Bahn, versteht sich.“ | |
2 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Aufarbeitung-Nachkriegszeit/!5296803 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
8. Mai 1945 | |
Groß-Berlin | |
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
Medien | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
8. Mai 1945 | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
Schwerpunkt Tag der Befreiung | |
Kriegsende | |
Historikerstreit | |
Schwerpunkt Flucht | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Der „Spiegel“ verklärt eigene Geschichte: Nicht sagen, was war | |
Zum 75. Jubiläum stellt sich der „Spiegel“ als Hort des hehren Journalismus | |
dar, der Nazis enttarnte und Antisemiten bekämpfte. War das so? | |
Mein Kriegsende 1945: „Ich wurde sehr schnell erwachsen“ | |
Zeitzeugen erinnern sich (Teil 15): Edith Kiesewetter sah auf den Straßen | |
überall Leichen. Sie erlebte, dass Unrecht mit Unrecht vergolten wurde. | |
Mein Kriegsende 1945: „Er wollte bloß Wasser“ | |
Zeitzeugen erinnern sich (Teil 13): Helga Thieme hatte die Bombenangriffe | |
auf Dresden überlebt. Dann kam die Rote Armee ins Dorf Grünberg. | |
Ende des Dritten Reichs vor 75 Jahren: Jeder bestiehlt jeden | |
Von Hitlers Tod bis zur Kapitulation: Der Historiker Volker Ullrich | |
schildert in seinem Buch „Acht Tage im Mai“ die letzte Woche der | |
NS-Diktatur. | |
Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai: Der Führer war’s | |
Bundespräsident Richard von Weizsäcker wurde gefeiert, als er 1985 über den | |
8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ sprach. Aber wer hat genau hingehört? | |
Kriegsende vor 75 Jahren: Hurra, wir haben gewonnen! | |
In Deutschland gilt der 8. Mai heute als „Tag der Befreiung“. Doch der | |
Begriff birgt Tücken. Dabei geht es um mehr als nur um Wortklauberei. | |
Mein Kriegsende 1945: „Wir tanzten in Prag“ | |
Zeitzeugen erinnern sich (Teil 6): Nikolaj Kurilenko, Rotarmist, hatte | |
gehofft seinen Bruder in Auschwitz zu finden. | |
Mein Kriegsende 1945: „Endlich die Deutschen bekämpfen!“ | |
Zeitzeugen erinnern sich (Teil 2): Herbert Haberberg marschierte als | |
jüdischer Brigadist mit der britischen Armee in Deutschland ein. | |
Gespräch über Kriegsende vor 75 Jahren: „Die erste Teilung passierte 1945“ | |
Der 8. Mai 1945 und das Erinnern: Ein Gespräch mit der ostdeutschen | |
Historikerin Silke Satjukow und dem westdeutschen Historiker Ulrich | |
Herbert. | |
Saul Friedländer über Erinnerungskultur: „Ich war ein Luftmensch“ | |
Der Historiker und Shoah-Überlebende Saul Friedländer hatte lange panische | |
Angst vor Bindungen und Gefühlen. Ein Gespräch über Kitsch und Sprache. | |
Sammelband von Eike Geisel: Der Fremde ist eine Provokation | |
Erinnern sei in Deutschland die höchste Form des Vergessens, schrieb Eike | |
Geisel. Der Zusammenhang mit Fremdenhass lag für ihn auf der Hand. |