# taz.de -- Der „Spiegel“ verklärt eigene Geschichte: Nicht sagen, was war | |
> Zum 75. Jubiläum stellt sich der „Spiegel“ als Hort des hehren | |
> Journalismus dar, der Nazis enttarnte und Antisemiten bekämpfte. War das | |
> so? | |
Bild: „Sturmgeschütz der Demokratie“: 1962 durchsuchte die Polizei die Rä… | |
Die erste Ausgabe des Spiegel erschien am 4. Januar 1947. In der aktuellen | |
Ausgabe feiert das Magazin das 75. Jubiläum seiner Gründung, die drei | |
britischen Presseoffizieren zu verdanken ist. Major John Chaloner hatte das | |
Konzept entwickelt, ein deutsches „news magazine“ analog zum amerikanischen | |
Time zu schaffen. Seine beiden jüdischen Kollegen, die Seargants Harry | |
Bohrer und Henry Ormond, waren einst aus Deutschland geflohen und in die | |
britische Armee eingetreten, um Deutschland von den Nazis zu befreien. | |
18 Seiten umfasst das Jubiläums-Spezial des Spiegel, der „bis heute“ für | |
„unabhängigen, unerschrockenen und unbeugsamen Journalismus, für das | |
Aufdecken von Affären, das kritische Hinterfragen wohlfeiler Floskeln“ | |
stehe, wie Chefredakteur Steffen Klusmann im Editorial schreibt. Das lasse | |
sich immer noch auf Rudolf Augsteins „kurzen, großen“ Satz bringen: „Sag… | |
was ist.“ | |
Sagen, was war, tut auf den folgenden Seiten Augsteins Schwester Ingeborg | |
Villwock, die über ihren im Jahr 2002 verstorbenen Bruder sinniert: „Hatte | |
Rudolf wirklich schon in jungen Jahren hehre Ziele? Hat er gehandelt aus | |
Sorge, die Deutschen könnten von der Verkommenheit der Nazis noch so | |
beeinflusst sein, dass sie nicht zu einer aufrechten Demokratie fähig sind? | |
Oder ließ er sich einfach treiben? Ich hielt ihn damals nicht für einen | |
Idealisten.“ | |
Die folgende Doppelseite bietet einen Rückblick, in dem unter anderem zu | |
erfahren ist, dass 1948 zum ersten Mal eine Politikerin, die Berliner | |
Oberbürgermeisterin Louise Schroeder, auf dem Cover abgebildet wurde, | |
Helmut Kohl aber 80-mal auf dem Titel zu sehen war. Auf einer weiteren | |
Doppelseite zu den „größten Enthüllungen und Skandalen“ erfahren wir üb… | |
die frühen Jahre: Das Magazin schrieb 1948, dass Prinz Bernhard der | |
Niederlande SS-Sturmführer war, und enthüllte 1953 die NS-Vergangenheit des | |
Politikers Rudolf Vogel. 1957 machte der Spiegel antisemitische | |
Beschimpfungen eines Studienrats publik. | |
Der Spiegel präsentiert sich also so, wie er sich sehen möchte und auch | |
weithin gesehen wird: als antifaschistisches Bollwerk, von Anbeginn der | |
Mission verpflichtet, die Bundesrepublik zu liberalisieren und zu | |
demokratisieren. War das so? | |
## Rehabilitierung der Täter | |
Wer sich für deutsche Nachkriegsgeschichte und das Nachleben des | |
Nationalsozialismus in der Bundesrepublik interessiert, weiß, dass dem | |
nicht so ist. Allgemeinwissen ist es nicht. Wenn man sich die | |
Spiegel-Ausgaben der frühen Jahre ansah, wie Otto Köhler, der als junger | |
Journalist Medienkritiker des Spiegel gewesen war, dies Anfang der 1990er | |
Jahre tat, konnte man zum Schluss kommen, dass bereits im Mai 1949 eine | |
Spiegel-Kampagne zur „Rehabilitierung der Täter des alten Staates“ begonnen | |
hatte, wie Köhler schrieb. | |
Rudolf Augstein hatte den ehemaligen Chef der Gestapo, Rudolf Diels, als | |
Autor für eine achtteilige Serie gewonnen – über die Gestapo. Die Serie, | |
befand Köhler, „bedeutete eine Ehrenrettung der Gestapo. Verbrechen, Mord, | |
sadistische Quälereien gab es nur in den Konzentrationslagern von SA und | |
SS“. | |
Auch die deutsche Kriminalpolizei war vom Geist des Nationalsozialismus, | |
den sie erdulden musste wie alle anderen Deutschen auch, anscheinend kaum | |
angekränkelt. Der in Reinhard Heydrichs Reichssicherheitshauptamt | |
eingegliederten Reichskriminalpolizei und ihrem Chef Arthur Nebe war die | |
nächste große Serie des Spiegel gewidmet, die längste, die das Magazin je | |
veröffentlichte. Sie umfasste 30 Fortsetzungen. Ihr Ziel war es, wie | |
Augstein in einer Kolumne schrieb, „den heutigen Polizei-Verantwortlichen | |
vor Augen“ zu führen, dass die Kriminalpolizei „auf ihre alten Fachleute | |
zurückgreifen muss, auch wenn diese mit einem SS-Dienstrang ‚angeglichen‘ | |
worden waren“. | |
## Vor Exekution bewahrt | |
Dabei hatte die Serie selbst offenbart, wie der oberste | |
Reichskriminalpolizist Nebe, der von Juni bis November 1941 auch Chef der | |
Einsatzgruppe B war, die während des Überfalls auf die Sowjetunion laut | |
eigener Meldungen 45.467 Personen ermordete, eine saubere Lösung für das | |
Problem fand, die Insassen der Irrenhäuser von Minsk und Smolensk | |
befehlsgemäß zu „liquidieren“. | |
Dieses Problem bestand darin, dass es nicht leicht ist, sehr viele | |
Menschen, die man als überflüssig betrachtet, schnell und ohne viel | |
Aufhebens zu töten: „Die Exekution würde Tage dauern. Wer sollte das | |
aushalten?“ Mit dieser Frage versetzte sich der ungenannte Autor der Serie, | |
ein Spiegel-Kriminalreporter namens Dr. Bernhard Wehner, vor dem Krieg als | |
SS-Hauptsturmführer und Kriminalrat Leiter einer Dienststelle im | |
Reichssicherheitshauptamt, in den Kopf seines Chefs Arthur Nebe (Ab 1954 | |
leitete Wehner dann die Düsseldorfer Kriminalpolizei.). | |
Laut Spiegel entwickelte Nebe daher den Plan, die Menschen in einer Garage | |
mit Auspuffgasen zu töten. Der Kriminalist litt unter seinem Auftrag, aber, | |
so stand es [1][in der 18. Fortsetzung der Serie], „tröstete sich mit dem | |
Gedanken, ordentliche Männer seiner Einsatzgruppe vor der Durchführung der | |
grauenvollen Exekution bewahrt zu haben“. Nebe habe zwar die „Probe“ nicht | |
bestanden, „der alle Deutschen ausgeliefert waren“, aber auch seine | |
Organisation „gerettet“, kommentierte Augstein dies. | |
Ironischerweise, hielt Köhler später fest, war Augsteins Kampagne für die | |
Wiedereinstellung kriminalistischer Fachleute mit SS-Dienstrang so | |
erfolgreich gewesen, dass es Hauptsturmführer Theo Saevecke war, der im | |
Verlauf der [2][Spiegel-Affäre von 1962], die dem Magazin das Image des | |
„Sturmgeschützes der Demokratie“ verschaffte, an der Spitze der | |
Sicherungsgruppe Bonn in dessen Büros eindrang. | |
## Nachsichtig mit Nazis | |
Zum einen also klärte der Spiegel seine Leserinnen und Leser in der Tat von | |
Anfang an darüber auf, welche schwer fassbaren Verbrechen in ihrem Namen | |
begangen worden waren, auch wenn er dies zuweilen im schnoddrig-ironischen | |
Casino-Ton alter Nazis tat. Zum anderen aber strickte er an der Legende | |
mit, welche die Deutschen über sich selbst erzählen wollten: Letztendlich | |
waren ein paar hochrangige Nazis für die Verbrechen verantwortlich – wenn | |
nicht gar Hitler allein. Die von den Alliierten in Nürnberg verurteilten | |
und in Landsberg einsitzenden NS-Kriegsverbrecher durften jedenfalls darauf | |
zählen, dass sich der frühe Spiegel für sie, die er als „Kriegsverurteilte… | |
bezeichnete, einsetzte. | |
„Das deutsche Nachrichtenmagazin“, wie es sich seither und noch lange | |
nannte, war auch recht nachsichtig mit jenen Alt-Nazis, die gute | |
Beziehungen zur Ruhr-Industrie pflegten und planmäßig die NRW-FDP | |
unterwandert hatten: Eine „NS-FDP“ zu etablieren sei ihnen ja nicht | |
gelungen. | |
Opfer des NS-Regimes dagegen, die Konzentrationslager oder Zwangsarbeit | |
überlebt hatten, sich als Displaced Persons in der Bundesrepublik befanden | |
und sich als Schmuggler betätigten, wurden in einem Artikel Georg Wolffs | |
über den Kaffeeschmuggel als Juden gekennzeichnet und als „DP-Terroristen“ | |
bezeichnet. | |
## Was kaum jemand wissen wollte | |
Noch etwas fand Köhler heraus: Augstein hatte zwei hochrangige Mitarbeiter | |
des Sicherheitsdiensts der SS, dieser „Mischung aus Secret Service, | |
Meinungs-Observatorium, Ideologiefabrik und Mordbüro“ (wie Lutz Hachmeister | |
später in der taz schrieb) zu Ressortleitern für Ausland und | |
Internationales bestellt: Horst Mahnke, der auch für den BND arbeitete, | |
bald bei Axel Springer Karriere machte und Hauptgeschäftsführer des Bundes | |
Deutscher Zeitungsverleger wurde, und jener Georg Wolff, der später im | |
Spiegel Sartre und Heidegger interviewte und bis zu seiner Pensionierung | |
beim Spiegel blieb. | |
Im Spiegel spiegelte sich vielleicht nur etwas deutlicher als in anderen | |
Medien die Nachkriegsmentalität. Nur wollte im wiedervereinigten | |
Deutschland kaum jemand was davon wissen. | |
Köhlers Artikel erschien 1992 in der linken Konkret, das Echo war gering. | |
Die einzige westdeutsche Zeitung, die die Geschichte aufnahm, war die taz. | |
Lutz Hachmeister nahm sich wenige Jahre später erneut des Themas an. | |
Hachmeisters Recherchen erschienen kurz vor dem 50. Jubiläum des Spiegel | |
Ende 1996 unter dem Titel [3][„Mein Führer, es ist ein Wunder!“] in der | |
taz. Er konstatierte: „Beim frühen Spiegel existierte keine Direktive, die | |
auf eine Entschuldung der NS-Täter zielte; ein solches | |
Interpretationsmuster wäre allzu simpel. Es gab keine politische Strategie, | |
wohl aber eine Strategie der Politisierung des Magazins.“ | |
## Im Amnesieclub | |
Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser zurückhaltenden Einschätzung sah | |
der Spiegel keinen Grund, sich zum Jubiläum mit seiner eigenen Geschichte | |
auseinanderzusetzen, gut vierzig Zeilen widmete das Magazin diesem Teil | |
seiner Geschichte. Das wiederum irritierte Hachmeister, der doch sine ira | |
et studio nur gesagt hatte, was ist. | |
In einem weiteren taz-Text mit dem Titel [4][„Der Amnesieclub“] erklärte | |
Hachmeister dem Spiegel-Chef: „Chefredakteur Aust hat nicht begriffen, | |
worum es bei der taz-Veröffentlichung zur Frühgeschichte seines Blattes | |
eigentlich ging. Es sollte nichts à la Spiegel ‚enthüllt‘ werden, auch war | |
keine verspätete Anklage gegen ehemalige Mitarbeiter zu erheben – nur dass | |
der Spiegel bei anderen Vergangenheitspolitik betrieb, während er selbst | |
unreflektiert die eigene Legende vom ‚linksliberalen‘ Blatt tradierte, | |
verlangte nach einer nüchternen Darstellung.“ | |
Seit dem 50. Spiegel-Jubiläum haben Institutionen wie das BKA, das | |
Justizministerium, das Auswärtige Amt oder der BND Historiker damit | |
beauftragt, aufzuarbeiten, wie [5][Angehörige der ehemaligen | |
NS-Funktionseliten in ihnen über viele Jahrzehnte wirkten], sie teils sogar | |
prägten. Der Spiegel widmete sich im Jahr 2012 immerhin auf einer Konferenz | |
seiner Vergangenheit. | |
9 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.spiegel.de/politik/das-spiel-ist-aus-arthur-nebe-a-559e0e45-000… | |
[2] /Arte-Film-ueber-den-Spiegel/!5043228 | |
[3] /Archiv-Suche/!1421895 | |
[4] /Archiv-Suche/!1418664 | |
[5] /Aufarbeitung-Nachkriegszeit/!5296803 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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