| # taz.de -- Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai: Der Führer war’s | |
| > Bundespräsident Richard von Weizsäcker wurde gefeiert, als er 1985 über | |
| > den 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ sprach. Aber wer hat genau | |
| > hingehört? | |
| Bild: Bundespräsident Richard von Weizsäcker hält seine Rede im Bundestag, 8… | |
| Als Richard von Weizsäcker im Januar 2015 starb und die Nachrufe | |
| erschienen, stand die Rede im Mittelpunkt, die er 30 Jahre zuvor zum 40. | |
| Jahrestag des Kriegsendes in Europa gehalten hatte. | |
| Weizsäckers Rede versetzte damals vor allem das amerikanische und | |
| europäische Ausland in freudige Erregung, weil der Bundespräsident als | |
| höchster Repräsentant des westdeutschen Staates den 8. Mai 1945 als „Tag | |
| der Befreiung“ bezeichnete. Das war er zwar für die Alliierten und für eine | |
| Minderheit der Bundesbürger schon lange, aber die offiziellen deutschen | |
| Weihen hatte diese Bezeichnung bisher nicht erhalten. | |
| Mit Ausnahme von Franz Josef Strauß und seiner bayerischen Partei sowie der | |
| sogenannten Stahlhelm-Fraktion um Alfred Dregger waren die Menschen im | |
| Inland ebenso freudig erregt. Die Rede gilt bis heute als eine der | |
| Sternstunden der westdeutschen Bundesrepublik. Warum? | |
| Eine Obduktion der Rede stößt nach der einleitenden Präambel („Wir Deutsche | |
| begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig“) zunächst auf ein fast | |
| gemütlich zu nennendes Genrebild, das in der Tat darauf angelegt ist, die | |
| unterschiedlichsten Gemüter anzusprechen: „Der eine kehrte heim, der andere | |
| wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. | |
| Viele waren einfach nur dankbar, dass [1][Bombennächte und Angst] vorüber | |
| und sie mit dem Leben davongekommen waren.“ | |
| Die einen hatten Glück, die anderen Pech, könnte man sagen. Dazu kam aber | |
| der „Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes … D… | |
| meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu | |
| kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war | |
| nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen | |
| Zielen einer verbrecherischen Führung gedient.“ | |
| ## Spricht nicht für moralische Integrität | |
| Und nun? Am 8. Mai 1945 hatten „die meisten Deutschen“ es endlich kapiert | |
| (ausgenommen vielleicht einige unverbesserliche Marinerichter)? Keinen Tag | |
| eher? Es spricht zudem natürlich weder für moralische Integrität noch für | |
| herausragende Intelligenz, wenn „die meisten Deutschen“ glaubten, für die | |
| „gute Sache“ des eigenen Landes zu leiden und zu kämpfen, die darin | |
| bestand, fast ganz Europa militärisch zu unterwerfen und zu | |
| kolonialisieren. | |
| Das im Genrebild reichlich versprühte Mitleid mit den von Verbrechern | |
| Betrogenen erlaubt es, jetzt endlich den Satz auszusprechen, der so viel | |
| Entzücken hervorrief: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ Ein Satz, der | |
| in der Erinnerung an die Rede meist isoliert zitiert wird. Ihm folgt aber | |
| als Erläuterung: „Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden | |
| System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ | |
| Es stellt sich nun die Frage, warum „wir alle“ es nicht geschafft haben, | |
| uns selbst zu befreien, sondern warum amerikanische und britische Soldaten | |
| unter Einsatz ihres Lebens den weiten Weg in ein unbekanntes Land machen | |
| mussten, während sie viel lieber in ihrem Diner auf der Main Street von | |
| Anarene, Texas [2][oder an der Fish-’n’-Chips-Bude von Preston, Lancashire | |
| geblieben wären]? | |
| Und wenn „uns allen“ erst am 8. Mai 1945 die Augen aufgegangen sind, wie | |
| konnten wir vorher überhaupt den Wunsch haben, von dem | |
| „menschenverachtenden System befreit“ zu werden? | |
| Egal, Tag der Befreiung, es ist nun raus. Es folgt in der Rede eine Litanei | |
| des Gedenkens an die Opfer des Krieges. Von allen denen, die Weizsäcker | |
| erwähnt, seien hier nur zwei genannt: „Wir gedenken aller Völker, die im | |
| Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion | |
| und der Polen, die ihr Leben verloren haben.“ Hier ist der semantische | |
| Fehlgriff interessant, weil es natürlich „unsagbar“ viele hätte heißen | |
| müssen. Oder wäre es weniger schlimm gewesen, wenn es nicht so unsäglich | |
| (so albern, so lächerlich) viele gewesen wären? | |
| Später im Gedenken sind es „die Frauen der Völker“, die getragen haben, | |
| „was den Menschen aufgeladen war“. Wer hat denn da wem was aufgeladen, | |
| fragt man sich, und durfte der das? Aber die Frauen haben nach dem Krieg | |
| als erste Hand angelegt, „um wieder einen Stein auf den anderen zu setzen, | |
| die Trümmerfrauen in Berlin und überall“. Dass dieselben Trümmerfrauen | |
| einige Jahre zuvor dem Führer noch verliebt zugejubelt hatten, bereit, vor | |
| ihm hinzusinken, wäre vielleicht der Erwähnung wert gewesen. | |
| Auf die Gedenklitanei folgt der Versuch der historischen Analyse. Man kann | |
| von dem Präsidenten anlässlich einer solchen Rede nicht verlangen, dass er | |
| dabei etwa bis ins Jahr 1871 oder wenigstens 1914 zurückgeht. Dennoch sind | |
| die beiden einleitenden Sätze seiner analytischen Bemühungen geradezu | |
| grotesk: „Am Anfang der Gewaltherrschaft hatte der abgrundtiefe Hass | |
| Hitlers gegen unsere jüdischen Mitmenschen gestanden. Hitler hatte ihn nie | |
| vor der Öffentlichkeit verschwiegen, sondern das ganze Volk zum Werkzeug | |
| seines Hasses gemacht.“ | |
| Ja, leck mich, habe ich gedacht, als ich diese Sätze jetzt noch einmal las, | |
| der Führer war’s, ganz klar, das Volk war nur sein Werkzeug. | |
| ## Das helle Bewusstsein meiden | |
| Der Führer hat den Judenhass überhaupt erst erfunden, während alle anderen | |
| wussten, dass die Juden zwar Juden, aber trotz allem doch irgendwie | |
| Mitmenschen waren! Aber was sollte man tun? „Die Ausführung des Verbrechens | |
| lag in der Hand weniger. Vor den Augen der Öffentlichkeit wurde es | |
| abgeschirmt.“ Natürlich, sagte der Präsident in den folgenden Passagen, | |
| hätte man etwas sehen können, wenn man nicht weggeschaut hätte. Aber so ist | |
| es nun einmal nicht gewesen, und deshalb: „Es geht nicht darum, | |
| Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht.“ | |
| Man kann jedoch versuchen, sie aufzuarbeiten, auch wenn Adorno diesen | |
| Begriff schon 1959 als Schlagwort unter Verdacht stellte: „Mit Aufarbeitung | |
| der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, dass man das | |
| Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles | |
| Bewusstsein. Sondern man will einen Schlussstrich darunter ziehen und | |
| womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen.“ | |
| Das mag man dem Präsidenten persönlich gar nicht unterstellen, aber seine | |
| Rede hat wesentlich dazu gedient, dass ihre inländischen Adressaten, also | |
| die Bevölkerung oder „das deutsche Volk“, dazu übergehen konnten, das hel… | |
| Bewusstsein zu meiden und den Schlussstrich zu ziehen. | |
| Es ist müßig, darüber zu streiten, ob diese Rede für „das deutsche Volk“ | |
| ein Freispruch erster oder nur zweiter Klasse war. Eigentlich erster, wenn | |
| man sich einen solchen Satz ansieht: „Während dieses Krieges hat das | |
| nationalsozialistische Regime viele Völker gequält und geschändet.“ Das | |
| Regime war’s, nicht das Volk, nicht „wir Deutsche“. Das Regime muss | |
| allerdings angesichts der Fülle seiner Untaten recht personalstark gewesen | |
| sein. | |
| Kleiner Einschub: In Weizsäckers Rede bleiben die Frankfurter | |
| Auschwitz-Prozesse unerwähnt, auch der Name Auschwitz fällt nicht. Dann | |
| hätte auch erwähnt werden müssen, dass ohne die Hartnäckigkeit des | |
| hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer (einer unserer „jüdischen | |
| Mitmenschen“ und Sozialdemokrat dazu!) nicht ein einziger dieser Prozesse | |
| stattgefunden hätte. Und dass sie mit dessen Tod beendet waren. | |
| Nun hat die Rede außer dem deutschen Volk noch einen zweiten Adressaten, | |
| nämlich die „freien Völker“. Denen erläutert der Präsident zunächst, d… | |
| mit dem Ende des Krieges auch der „europäische Bürgerkrieg“ zu Ende | |
| gegangen sei. Der Begriff ist wesentlich älter als seine Verwendung durch | |
| Ernst Nolte, die ein Jahr später den so genannten Historikerstreit | |
| auslöste. | |
| Weizsäcker nimmt ihn zum Anlass (unter Zitierung von Michael Stürmer: | |
| „Europa hat sich ausgekämpft“), dem Ausland erstens die Teilung Europas | |
| (und bedauerlicherweise auch des eigenen Landes) zu erklären, worüber das | |
| Ausland natürlich schon lange bestens informiert ist, und zweitens den | |
| Anspruch des eigenen Landes deutlich zu machen, wieder zu den Guten zu | |
| gehören. | |
| ## Wir sind wieder da | |
| Das liest sich so: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein weltweit | |
| geachteter Staat geworden. Sie gehört zu den hochentwickelten | |
| Industrieländern der Welt. (…) Wir leben seit vierzig Jahren in Frieden und | |
| Freiheit, und wir haben durch unsere Politik unter den freien Völkern des | |
| Atlantischen Bündnisses und der Europäischen Gemeinschaft dazu selbst einen | |
| großen Beitrag geleistet.“ Wir sind wieder da, heißt das im Klartext, nehmt | |
| das bitte zur Kenntnis. | |
| Und in einer ganz besonders raffinierten Volte schließt der Präsident sogar | |
| an die Friedensbewegung an, die sich einige Jahre zuvor darüber beklagt | |
| hatte, dass Deutschland immer noch ein besetztes Land sei. Bei Weizsäcker | |
| liest es sich so: „Von deutschem Boden in beiden Staaten sollen Frieden und | |
| gute Nachbarschaft mit allen Ländern ausgehen. Auch andere sollen ihn nicht | |
| zur Gefahr für den Frieden werden lassen.“ | |
| Die internationale Wirkung der Rede erwies sich einige Jahre später, als | |
| die Wiedervereinigung über das Land hereinbrach. Die Widerstände der | |
| ehemaligen Vier Mächte dagegen waren erstaunlich gering. Allein Maggie | |
| Thatcher konnte sich mit britischem Instinkt damit auch dann nicht | |
| anfreunden, als sie notgedrungen zugestimmt hatte. Es war Richard von | |
| Weizsäcker, dem sie anvertraute, ihr Deutschlandbild habe sich im | |
| Wesentlichen bis 1942 gebildet und seitdem wenig geändert. | |
| 8 May 2020 | |
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| Jochen Schimmang | |
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