| # taz.de -- Expertin über NS-Zwangsarbeit: „Lange überhaupt kein Thema“ | |
| > Das Bundesoszialgericht hat Entschädigungen für ehemalige | |
| > NS-Zwangsarbeiter ausgeweitet. Christine Glauning über ein fast | |
| > vergessenes Verbrechen. | |
| Bild: Klinkerwerk im ehemaligen KZ Neuengamme: 50.000 Menschen starben hier | |
| Als Entschädigung für ehemalige NS-Zwangsarbeiter wurde einst die | |
| sogenannte Ghettorente eingeführt. Am Mittwoch entschied das | |
| Bundessozialgericht in einem Grundsatzurteil, dass neben Tätigkeiten in | |
| einem Ghetto auch Tätigkeiten in einer „vergleichbaren Zwangslage“ zu | |
| Rentenansprüchen führen können. Der heute 91-jährige Kläger hat danach | |
| Anspruch auf eine sogenannten Ghettorente von monatlich rund 200 Euro sowie | |
| eine Nachzahlung von rund 50.000 Euro. | |
| Aus diesem Anlass hat die taz mit Christine Glauning gesprochen, der | |
| Leiterin des Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide. | |
| taz: Frau Glauning, w ie viele Menschen mussten in den sechs Jahren des | |
| Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeit für das NS-Regime leisten? | |
| Christine Glauning: Man kann relativ genau schätzen, dass rund 13 Millionen | |
| Menschen zum Teil auch schon vor 1939 im Deutschen Reich Zwangsarbeit | |
| leisten mussten. Wenn man auch die besetzen Gebiete betrachtet, lässt sich | |
| die Zahl wesentlich schwerer benennen. | |
| Hier wurde ebenfalls eine sehr große Zahl von Menschen zur Arbeit | |
| gezwungen, sei es für die Arbeitsverwaltung, die Wehrmacht, oder auch für | |
| deutsche Firmen. Ich gehe davon aus, dass in den besetzten Gebieten | |
| mindestens nochmal genauso viele Menschen zur Arbeit gezwungen wurden, wie | |
| im Deutschen Reich. Insgesamt kann man sagen, dass die Zahl der | |
| Zwangsarbeiter für das NS-Regime mindestens 26 Millionen Menschen betrug. | |
| Und wen umfasste die Gruppe? | |
| ZwangsarbeiterInnen waren keine homogene Gruppe. Vielmehr waren es sehr | |
| unterschiedliche Personengruppen, die für das Deutsche Reich arbeiten | |
| mussten. | |
| Inwiefern? | |
| Sie mussten unter ganz unterschiedlichen Bedingungen leben und arbeiten. | |
| Die Bedingungen hingen von Kategorie und Herkunft ab. Bei der Gruppe der | |
| zivilen Zwangsarbeiter machte es einen erheblichen Unterschied, ob jemand | |
| aus den Niederlanden oder der Sowjetunion kam. Die rassistische Hierarchie | |
| des NS-Regimes zeigt sich bei jeder Gruppe in ganz unterschiedlichem Maße. | |
| Osteuropäer wurden anders als Westeuropäer behandelt und am unteren Ende | |
| der Skala standen jüdische ZwangsarbeiterInnen sowie Sinti und Roma. | |
| Wie ist die Verbindung zwischen Zwangsarbeit und dem Massenmord wärend des | |
| Holocaust? | |
| Die deutschen Besatzer haben nach dem Überfall auf die jeweiligen Länder | |
| von Anfang an eine rigide Verfolgungs- und Vernichtungspraxis ausgeübt. Die | |
| jüdische Bevölkerung wurde zunächst in Gehttos erfasst, kaserniert und zur | |
| Zwangsarbeit eingesetzt. Endziel dieses brutalen Besatzungsregimes war aber | |
| die Vernichtung aller Juden. Zwangsarbeit fand innerhalb und außerhalb der | |
| Ghettos statt. | |
| Wie wurde nach dem Krieg mit dem Thema Zwangsarbeit umgegangen? | |
| Das war lange überhaupt kein Thema. Obwohl einzelne Überlebende schon Ende | |
| der 40er Jahre begonnen haben, individuelle Entschädigungsansprüche zu | |
| stellen, wurden diese bis zum Jahr 2000 grundsätzlich abgelehnt. | |
| Wieso? | |
| In der Regel lautete die Begründung der deutschen Behörden: Zwangsarbeit | |
| war eine Maßnahme zur Beseitigung des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels. | |
| Das heißt, dass Zwangsarbeit überhaupt nicht als NS-Unrecht bewertet wurde, | |
| obwohl im Nürnberger Prozess Fritz Sauckel („Generalbevollmächtigter für | |
| den Arbeitseinsatz“) deswegen zum Tode verurteilt wurde. Aber da es bis | |
| 2000 überhaupt keine Anerkennung von Zwangsarbeit als NS-Verbrechen gab, | |
| standen Überlebenden auch keine Entschädigungszahlungen zu. | |
| Wann hat sich das verändert? | |
| Erst im Zuge der Wiedervereinigung 1989 wurden Anerkennung und | |
| Entschädigung wieder diskutiert. Die Debatte war kein Selbstläufer. Die | |
| Übernahme von Verantwortung durch den deutschen Staat, aber auch der | |
| deutschen Wirtschaft, und die Gründung des Entschädigungsfonds war Folge | |
| von großem äußeren Druck. Sammelklagen und Kampagnen in den USA haben | |
| darauf aufmerksam gemacht, dass deutsche Unternehmen in großem Maße von | |
| Zwangsarbeit profitiert haben. | |
| Mit der Gründung der „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ im | |
| Jahr 2000 wurden Entschädigungen dann geregelt. Bestimmte Gruppen konnten | |
| eine Einmalzahlung verlangen. Sie mussten aber nachweisen können, dass sie | |
| Zwangsarbeit leisten mussten. | |
| Und das war für viele schwierig? | |
| Ja, die Nachweise über Ort, Zeit und Firma zu erbringen fiel gerade | |
| osteuropäischen ZwangsarbeiterInnen schwer. Insbesondere in der Sowjetunion | |
| standen viele unter dem Verdacht der Kollaboration. Viele hatten die | |
| relevanten Dokumente vernichtet. Nicht nur das Erbringen der Nachweise war | |
| schwierig, die sogenannte Entschädigung ist auch sehr spät erfolgt. Ein | |
| Großteil der Betroffenen lebten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. | |
| Zum Beispiel? | |
| Zum Beispiel die Kriegsgefangenen, vor allem die aus der Sovietunion. Sie | |
| sind durch die „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ von der | |
| Entschädigung ausgeschlossen worden, sofern sie nicht in einem KZ oder | |
| einer ähnlichen Haftstätte leben und arbeiten mussten. Erst 2015 ist vom | |
| Bundestag für die wenigen damals noch Lebenden eine sogenannte | |
| Anerkennungsleistung bewilligt worden. Späte Prozesse und Diskussionen | |
| zeigen, es hat sehr lange gedauert, bis Deutschland die ZwangsarbeiterInnen | |
| als NS-Opfer anerkannt hat. | |
| Welche materielle und emotionale Bedeutung haben die | |
| Entschädigungszahlungen für die Überlebenden? | |
| Die Anerkennung des Unrechts ist jenseits des Geldes wichtig. Für | |
| Überlebende in Armut, insbesondere in Osteuropa, die die einmalige | |
| Höchstsumme von 7.670 Euro bekommen haben, war das auch materiell eine | |
| wichtige Geste. Aber genauso wichtig ist die symbolische Geste und die | |
| Anerkennung als NS-Opfer. | |
| Wird genug an die NS-Zwangsarbeiter*innen erinnert? | |
| Blickt man über Entschädigungsleistungen hinaus, sieht man, dass es im | |
| Bereich der Erinnerungskultur viele Orte gibt, an denen an unterschiedliche | |
| Opfergruppen erinnert wird. Es gibt große, von der Bundesregierung | |
| geförderte KZ-Gedenkstätten, aber auch sehr viele dezentrale kleine | |
| Einrichtungen und Initiativen. Sie leisten vor Ort wichtige | |
| Erinnerungsarbeit, sind lokal verankert. Viele arbeiten jedoch unter | |
| prekären Bedingungen. Hier könnte man nachbessern und die oft | |
| ehrenamtlichen Aktivitäten auf stabile und dauerhafte Füße stellen. | |
| Was sollte der Deutsche Staat für die ehemaligen Zwangsarbeiter*innen tun? | |
| Mit einer Ausweitung der Entschädigungszahlungen würde der deutsche Staat | |
| anerkennen, dass es immer noch NS-Opfer gibt, die bisher unberücksichtigt | |
| geblieben sind. Gerichtsprozesse zeigen immer wieder, dass noch | |
| nachgesteuert werden muss und es immer noch Menschen gibt, die großes | |
| Unrecht erlebt haben und nie vom deutschen Staat entschädigt worden sind. | |
| Und ich finde, dass es eine Verpflichtung gibt nachzubessern, wo diese | |
| Lücken zutage treten. Andererseits – und das ist ein bitteres Fazit – ist | |
| das Kapitel der „Entschädigung“ viel zu spät in Angriff genommen worden u… | |
| nur bei einem Bruchteil der Überlebenden angekommen. | |
| 21 May 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Bennet Groen | |
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